Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 25.08.2014, Az.: 8 LA 60/14

Abgrenzung eines Verfahrensmangels i.R.e. Abschiebungsverbots nach Montenegro wegen Verschlechterung der Gesundheit (hier: Epilepsie)

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
25.08.2014
Aktenzeichen
8 LA 60/14
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2014, 24057
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2014:0825.8LA60.14.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Oldenburg - 21.03.2014 - AZ: 5 A 3376/12

Amtlicher Leitsatz

Zur Abgrenzung eines Verfahrensmangels nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG in Verbindung mit § 138 Nr. 3 VwGO von einem Verfahrensmangel nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO

Tenor:

Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg - 5. Kammer (Einzelrichter) - vom 21. März 2014 wird abgelehnt.

Die Klägerin trägt die außergerichtlichen Kosten des Berufungszulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts, soweit mit diesem ihre Klage, die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Montenegro vorliegt, abgewiesen worden ist, bleibt ohne Erfolg.

Der von der Klägerin allein geltend gemachte Zulassungsgrund des Verfahrensmangels nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG in Form der Verletzung rechtlichen Gehörs gemäß § 138 Nr. 3 VwGO liegt nicht vor.

Der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG gebietet, dass ein Urteil nur auf solche Tatsachen und Beweismittel gestützt werden darf, die von den Verfahrensbeteiligten oder vom Gericht im Einzelnen bezeichnet zum Gegenstand des Verfahrens gemacht worden sind und zu denen sich die Beteiligten äußern konnten (vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.7.2001 - 2 BvR 982/00 -, AuAS 2001, 201 f.; Senatsbeschl. v. 26.10.2004 - 8 LA 146/04 -, NVwZ 2005, 605). Darüber hinaus verpflichtet der Anspruch auf rechtliches Gehör die Gerichte, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Dies soll sicherstellen, dass die gerichtliche Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und mangelnder Berücksichtigung des Sachvortrags eines Beteiligten haben (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.6.1985 - 1 BvR 933/84 -, BVerfGE 70, 215, 218; BVerwG, Beschl. v. 20.10.2009 - BVerwG 9 B 41/09 -, [...] Rn. 6; Beschl. v. 16.6.2009 - BVerwG 3 B 3.09 -, [...] Rn. 2; Beschl. v. 27.10.1998 - BVerwG 8 B 132.98 -, [...] Rn. 6). Da grundsätzlich davon auszugehen ist, dass das Gericht seiner diesbezüglichen Verpflichtung nachkommt, ist eine Versagung rechtlichen Gehörs nur dann anzunehmen, wenn besondere Umstände des Einzelfalls deutlich machen, dass dies wider Erwarten nicht geschehen ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 1.2.1978

- 1 BvR 426/77 -, BVerfGE 47, 182, 187; BVerwG, Beschl. v. 16.6.2009, a.a.O.; Beschl. v. 27.10.1998 - BVerwG 8 B 132.98 -, Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 162 = [...] Rn. 6). Solche besonderen Umstände liegen hier nicht vor.

Die Klägerin hat geltend gemacht: Ihr sei rechtliches Gehör versagt worden. Es liege ein Verfahrensfehler vor, weil das Verwaltungsgericht von einem unrichtigen bzw. unvollständigen Sachverhalt ausgegangen sei, und es insbesondere Umstände übergangen habe, deren Entscheidungserheblichkeit sich ihm hätte aufdrängen müssen. Das Verwaltungsgericht habe wesentliche Aussagen des in der mündlichen Verhandlung gehörten sachverständigen Zeugen und somit wesentlichen Prozessstoff nicht zur Kenntnis genommen und nicht gewürdigt. Der sachverständige Zeuge habe zu der Frage, welche Folgen die Nichteinnahme des Medikaments Ospolot habe, Folgendes ausgeführt: Die Nichteinnahme des Medikaments sei potenziell lebensbedrohlich. Patienten mit einer schlecht eingestellten Epilepsie hätten eine höhere Wahrscheinlichkeit von Todesfällen. Außerdem führe eine erhöhte Anzahl von Anfällen zu einer Entwicklungsstörung. Eine Alternative zu dem Medikament Ospolot gebe es aufgrund des besonderen Wirkstoffmechanismus nicht. Ohne die Gabe eines der Medikamente Ospolot und Ergenyl Crono träten gehäuft Anfälle bei ihr - der Klägerin - auf. Die Gabe beider Medikamente habe bisher zur "besten Wirkung gegen die Erkrankung geführt". Die zusätzliche Behandlung mit Ospolot habe zu einer deutlichen Verbesserung der Anfallsbereitschaft geführt. Ohne die Gabe von Ospolot wäre mit einer Verschlechterung zu rechnen. Das erkennende Gericht habe sich lediglich mit der Frage auseinandergesetzt, ob die Nichtgabe des Medikaments Ospolot zu ihrem - der Klägerin - Tod führen würde. Es habe lediglich die Aussagen des sachverständigen Zeugen hinsichtlich des Risikos, ggf. zu sterben, zitiert und die anderen, zuvor angeführten Aussagen des sachverständigen Zeugen hinsichtlich einer deutlichen Verschlechterung des Gesundheitszustands außer Acht gelassen. Es habe sich in seinen Urteilsgründen darauf konzentriert, ob die Nichtgabe des in Montenegro nicht erhältlichen Medikaments zum Tode führen werde. Es habe somit den Maßstab des nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG verkannt. Es müsse zu einer erheblichen Verschlechterung des Gesundheitszustands kommen. Dies habe der sachverständige Zeuge in seiner angeführten Aussage bejaht. Somit sei das Verwaltungsgericht von einem unvollständigen Sachverhalt ausgegangen. Hätte es die Aussagen des sachverständigen Zeugen, dass sich ihr - der Klägerin - Gesundheitszustand bei Nichteinnahme des Medikaments Ospolot deutlich verschlechtern würde, zur Kenntnis genommen, hätte das Verwaltungsgericht ein Abschiebungsverbot bejahen müssen. Somit beruhe das Urteil auf dem Verfahrensfehler. Abschließend habe der sachverständige Zeuge betont, dass aus seiner Sicht mit einer erheblichen Verschlechterung des Gesundheitszustands gerechnet werden müsse.

Aus diesem Vorbringen ergibt sich nach dem dargestellten Maßstab eine Verletzung des rechtlichen Gehörs der Klägerin nicht.

Das Verwaltungsgericht hat den Vortrag zur Behandlungsbedürftigkeit der Klägerin aufgrund der bei ihr diagnostizierten Epilepsie, insbesondere die Ausführungen des sachständigen Zeugen Prof. D., offensichtlich zur Kenntnis genommen und in die zur Begründung seiner Entscheidung angestellten Erwägungen einbezogen. Der sachverständige Zeuge ist in der mündlichen Verhandlung des Verwaltungsgerichts eingehend befragt worden. Dieses Vorbringen ist im Tatbestand des angefochtenen Urteils durch die ausdrückliche Bezugnahme auf das umfangreiche Protokoll der mündlichen Verhandlung wiedergegeben. Ferner hat sich das Verwaltungsgericht unter Berücksichtigung der fachärztlichen Bescheinigungen und Stellungnahmen der Ärztin Grüneberg vom 17. Dezember 2010 (Bl. 31 der Beiakte A), des Arztes E. vom 29. August 2011 (Bl. 60 der Beiakte A), des Arztes F. vom 8. Juli 2012 (Bl. 61 der Gerichtsakte) sowie des Prof. D. vom 15. November 2011 (Bl. 66 der Beiakte A), vom 9. Januar 2012 (Bl. 69 und 70 der Beiakte A), vom 5. Juli 2012 (Bl. 63 der Gerichtsakte) und vom 10. Januar 2014 (Bl. 119 der Gerichtsakte) mit den durch die Vernehmung des sachverständigen Zeugen gewonnenen Erkenntnissen in den Gründen seiner Entscheidung eingehend auseinandergesetzt. So hat das Verwaltungsgericht ausdrücklich Ausführungen des sachverständigen Zeugen in Teilen wiedergegeben und auf diese verwiesen (vgl. Urteil S. 7, dritter Absatz; S. 7, letzter Absatz; S. 8, letzter Absatz; S. 9, zweiter Absatz; S. 10, erster Absatz). Insbesondere hat das Verwaltungsgericht in seine Erwägungen mit eingestellt, dass nach Aussage des sachverständigen Zeugen die Kombination der Medikamente Ospolot und Valporat zu der bisher besten Wirkung gegen die Erkrankung geführt habe (vgl. Urteil S. 7, letzter Absatz) und das die Behandlung mit Ospolot zu einer deutlichen Verbesserung der Anfallsbereitschaft geführt habe (Urteil S. 9, am Ende).

Durch ihren Einwand, das Verwaltungsgericht habe sich in seinen Urteilsgründen darauf konzentriert, ob die Nichtgabe des in Montenegro nicht erhältlichen Medikaments Ospolot zum Tode führen werde, und somit den (rechtlichen) Maßstab des § 60 Abs. 7 AufenthG verkannt, macht die Klägerin vielmehr deutlich, dass sie im Gewande der Verfahrensrüge nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG letztlich nur die inhaltliche Würdigung des Verwaltungsgerichts rügt; damit vermag sie die Zulassung der Berufung aber nicht zu erreichen. Denn mit Angriffen gegen die Sachverhalts- und Beweiswürdigung kann ein Verfahrensmangel im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG grundsätzlich nicht begründet werden. Mängel der Beweis- und Sachverhaltswürdigung durch das Verwaltungsgericht sind nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem materiellen Recht zuzurechnen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 20.10.2004 - BVerwG 5 B 17.04 -, [...] Rn. 8). Denn ein Verfahrensfehler ist ein Verstoß gegen eine Vorschrift, die den Verfahrensablauf regelt, oder mithin einen Verstoß gegen Verfahrensnormen darstellt, der den Weg zum Urteil und die Art und Weise des Urteilserlasses, nicht aber dessen Inhalt betrifft. Nicht zum Verfahrensrecht in diesem Sinne gehören demnach die Regeln und Grundsätze, die nicht den äußeren Verfahrensablauf, sondern den inneren Vorgang der richterlichen Rechtsfindung bestimmen. Sinn der Zulassung der Berufung wegen eines Verfahrensmangels nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG in Verbindung mit § 138 VwGO ist deshalb die Kontrolle des Verfahrensganges, nicht der Rechtsfindung. Verfehlt wäre es, den Bereich der Tatsachenfeststellung dem der Rechtsanwendung gegenüberzustellen und ersteren dem Verfahrensrecht, letzteren dem sachlichen Recht zuzuordnen. Denn die Rechtsfindung beschränkt sich nicht auf das Auffinden und Auslegen der Rechtsnormen. Vielmehr gehört zu ihr auch die Würdigung des dem Gericht vorliegenden Tatsachenmaterials (vgl. BVerwG, Beschl. v. 2.11.1995 - BVerwG 9 B 710.94 -, Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 266 = [...] Rn. 5; Marx, AsylVfG, 7. Aufl. 2013, § 78 Rn. 360). Daher könnte eine unrichtige Beurteilung des dem Urteil zugrunde liegenden Sachverhalts zwar das Urteil inhaltlich unrichtig machen; ein Verfahrensfehler im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wäre dies jedoch nicht (BVerwG, Beschl. v. 2.11.1995, a.a.O., Rn. 6; Marx, a.a.O., Rn. 360). Dementsprechend vermag der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) keinen Schutz gegen Entscheidungen zu begründen, die den Sachvortrag eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts teilweise oder ganz unberücksichtigt lassen, etwa wenn er nach der materiell-rechtlichen Auffassung des Gerichts nicht entscheidungserheblich ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 29.10.2009, a.a.O., Rn. 16).

Entgegen dem Vorbringen der Klägerin kann nicht angenommen werden, dass abweichend hierzu in der Rechtsprechung anerkannt sei, dass Fehler in der Beweiswürdigung auch mit der Gehörsrüge erfolgreich angegriffen werden können. Auch das Bundesverfassungsgericht hat nicht festgestellt, dass eine Versagung rechtlichen Gehörs stets auch dann vorliegt, wenn der gerügte Fehler bei der Beweiswürdigung seinen Schwerpunkt im Bereich der Tatsachenfeststellung hat, etwa weil wesentlicher Prozessstoff in tatsächlicher Hinsicht ungewürdigt geblieben ist. Es hat lediglich - die Entscheidung nicht tragend - ausgeführt, dass es jedenfalls im Asylrecht nahe liege, in einem solchen Fall einen Verfahrensmangel - im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO - anzunehmen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23.01.1991 - 2 BvR 902/85 u.a. -, BVerfGE 83, 216, 229 = [...] Rn. 31; s. auch BVerwG, Beschl. v. 2.11.1995, a.a.O., Rn. 6). In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist anerkannt, dass ein Verstoß gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO ausnahmsweise dann einen Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zu begründen vermag, wenn die die angegriffene Entscheidung tragende Sachverhalts- und Beweiswürdigung aktenwidrig ist, gegen Natur- und Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstößt oder sonst von objektiver Willkür geprägt ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 29.10.2009, a.a.O., Rn. 24; Beschl. v. 5.2.2007 - BVerwG 4 BN 4.07 -, [...] Rn. 4; Beschl. v. 12.05.2000 - BVerwG 7 B 22.00 -, [...] Rn. 2 f.). Unabhängig davon, dass die Klägerin mit ihrem Zulassungsvorbringen solche Mängel nicht dargelegt hat, folgte aus einem solchen Verfahrensmangel - ein solcher unterstellt - nicht zugleich, dass das Verwaltungsgericht der Klägerin rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) versagt hat, und damit ein die Zulassung der Berufung nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG rechtfertigender (qualifizierter) Verfahrensmangel gemäß § 138 VwGO vorliegt.

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylVfG.