Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 18.03.2010, Az.: 11 ME 30/10

Behandelbarkeit einer HIV-Erkrankung in der Türkei und Übernahme von Kosten für die Behandlung und Medikamente über die Yesil Kart ("Grüne Karte") bzw. ab 1.10.2010 durch die gesetzliche Krankenversicherung in der Türkei

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
18.03.2010
Aktenzeichen
11 ME 30/10
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2010, 12927
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2010:0318.11ME30.10.0A

Fundstellen

  • AUAS 2010, 116-118
  • DVBl 2010, 600
  • ZAR 2010, 290

Amtlicher Leitsatz

Zur Behandelbarkeit einer HIV-Erkrankung in der Türkei und zur Übernahme von Kosten für die Behandlung und Medikamente über die Yesil Kart ("Grüne Karte") bzw. ab 1.10.2010 durch die gesetzliche Krankenversicherung in der Türkei.

Gründe

1

Die Beschwerde ist unbegründet.

2

Die Antragsteller reisten 1985 mit neun minderjährigen Kindern in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragten - der Antragsteller zu 1) und die Kinder unter anderem Namen - ihre Anerkennung als Asylberechtigte. Sie gaben an, als kurdische Volkszugehörige ungeklärter oder libanesischer Staatsangehörigkeit im Libanon geboren zu sein und dort gelebt zu haben. Nach negativem Abschluss der Asylverfahren nahmen die Antragsteller und ihre Familie die niedersächsische Bleiberechtsregelung vom 18. Oktober 1990 in Anspruch. Nach der Erteilung befristeter Aufenthaltstitel wurde dem Antragsteller zu 1) am 14. Juni 2000 eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung erteilt, die als Niederlassungserlaubnis weiter galt. Die der Antragstellerin zu 2) erteilte Aufenthaltserlaubnis wurde zuletzt bis zum 16. Juli 2009 verlängert. Nachdem Ermittlungen des Antragsgegners ergeben hatten, dass der Antragsteller zu 1) die türkische Staatsangehörigkeit besitzt und auch die Antragstellerin zu 2) im türkischen Familienregister erfasst ist, nahm der Antragsgegner mit Bescheid vom 18. November 2009 die den Antragstellern erteilten Aufenthaltserlaubnisse zurück, lehnte den Antrag der Antragstellerin zu 2) auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ab und forderte die Antragsteller unter Fristsetzung und Abschiebungsandrohung zur Ausreise auf.

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Dagegen haben die Antragsteller Klage vor dem Verwaltungsgericht erhoben und um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat das Verwaltungsgericht mit dem angefochtenen Beschluss abgelehnt.

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Die gegen den vorläufigen Rechtsschutz versagenden Beschluss vorgetragenen Beschwerdegründe, auf deren Überprüfung sich der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt, rechtfertigen keine Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung.

5

Soweit die Antragsteller geltend gemacht haben, bei dem Antragsteller zu 1) liege aufgrund seiner HIV-Erkrankung ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor, weil er in der Türkei nicht hinreichend behandelt werden könne, kann dem nicht gefolgt werden. Das Verwaltungsgericht hat vielmehr zutreffend dargelegt, dass hinsichtlich der gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Antragstellers zu 1) eine erhebliche konkrete Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG nicht gegeben sei und daher kein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach§ 25 Abs. 3 und Abs. 5 AufenthG bestehe.

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Dies entspricht der aktuellen Erkenntnislage. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29. Juni 2009 kann eine AIDS-Behandlung in allen Provinzen, in denen sich Universitätskrankenhäuser befinden, durchgeführt werden. In Istanbul stehen zudem drei, in Ankara und Izmir jeweils zwei private Krankenhäuser für eine AIDS-Behandlung zur Verfügung. Nach dem Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe zur medizinischen Versorgungslage in der Türkei vom 13. August 2003 können sämtliche für eine antiretrovirale Therapie erforderlichen Medikamente in der Türkei besorgt werden. Insofern ist die weitere Behandlung der Erkrankung des Antragstellers zu 1) in der Türkei gewährleistet. Diesem ist es auch zuzumuten, sich dort in der Türkei niederzulassen, wo seine gesundheitliche Versorgung am ehesten sichergestellt werden kann.

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Auch der Hinweis auf die Mittellosigkeit des Antragstellers zu 1) führt zu keiner anderen Beurteilung. Nach dem am 1. Oktober 2008 in Kraft getretenen zweiten Gesetz zur Sozialversicherungsreform wird die gesetzliche Krankenversicherung in der Türkei auf alle Personengruppen ausgedehnt. Ziel ist die Sicherstellung einer einheitlichen gesundheitlichen Versorgung aller Bürgerinnen und Bürger, indem die gleichen Voraussetzungen und Leistungsansprüche für Angestellte, Rentner und Selbständige hergestellt und auch bislang unversicherte Mittellose einbezogen werden. Während einer Übergangszeit von zwei Jahren seit Inkrafttreten des Reformgesetzes erhalten Mittellose die Leistungen noch über die Yesil Kart, die sog. "Grüne Karte". Die Yesil Kart berechtigt zu kostenloser medizinischer Versorgung im staatlichen Gesundheitssystem. Die Voraussetzungen, unter denen mittellose Personen in der Türkei die Yesil Kart erhalten, ergeben sich aus dem Gesetz Nr. 3816 vom 18. Juni 1992 und aus dem Änderungsgesetz Nr. 5222 vom 14. Juli 2004. Nach Angaben der zuständigen staatlichen Stellen gibt es in der Türkei etwa zwölf Millionen Inhaber einer Yesil Kart. Die Mittellosigkeit eines Antragstellers wird unter Beteiligung verschiedener Behörden von Amts wegen festgestellt. Die zuständige Kommission des Landratsamtes entscheidet über die Anträge, wobei sich die Bearbeitungszeiten erheblich verkürzt haben. Inhaber der Yesil Kart haben grundsätzlich Zugang zu allen Formen der medizinischen Versorgung und können inzwischen auch Medikamente in allen Apotheken beziehen. In der Übergangszeit zwischen Beantragung und Ausstellung der Yesil Kart werden bei einer Notfallerkrankung sämtliche stationären Behandlungskosten und alle weiteren damit zusammenhängenden Ausgaben übernommen. Stationäre Behandlung von Inhabern der Yesil Kart umfasst die Behandlungskosten sowie Medikamentenkosten in Höhe von 100%. Für Leistungen, die nicht über die Yesil Kart abgedeckt sind, oder wenn ein Mittelloser kein Anrecht auf die Yesil Kart hat, stehen ergänzend Mittel aus dem jeweiligen örtlichen Solidaritätsfonds zur Verfügung (siehe im Einzelnen Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29. Juni 2009). Somit ist davon auszugehen, dass eine Weiterbehandlung des Antragstellers zu 1) auch nicht aus finanziellen Gründen scheitert, da im Falle der Mittellosigkeit Kosten für die Behandlung und Medikamente bis zum 1. Oktober 2010 entweder über die Yesil Kart oder den Solidaritätsfonds und danach von der gesetzliche Krankenversicherung übernommen werden. Soweit der Antragsteller zu 1) geltend gemacht hat, nicht einmal für eine Übergangszeit dazu in der Lage zu sein, die Kosten für die von ihm benötigten Medikamente selbst zu tragen, ist er darauf zu verweisen, sich vor einer Rückkehr in die Türkei ausreichend mit Medikamenten versorgen zu lassen und ggf. ergänzend die Unterstützung der in Deutschland lebenden volljährigen Kinder in Anspruch zu nehmen.

8

Das Verwaltungsgericht hat weiter zu Recht einen Anspruch der Antragstellerin zu 2) auf Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis verneint.

9

Entgegen der Auffassung der Antragsteller ist es nicht zu beanstanden, dass das Verwaltungsgericht davon ausgegangen ist, die Antragstellerin zu 2) besitze neben einer möglicherweise bestehenden libanesischen Staatsangehörigkeit jedenfalls auch die türkische Staatsangehörigkeit. Die Antragstellerin zu 2) ist ebenso wie der Antragsteller zu 1) und die gemeinsamen Kinder im türkischen Personenstandsregister eingetragen. Die Eintragungen in das türkische Personenstandsregister haben den Charakter einer öffentlichen Urkunde. Sie und ihre Auszüge gehören nach türkischem Rechtsverständnis zu den Strengbeweismitteln in Bezug auf den dokumentierten Sachverhalt (Bergmann/Ferid/ Henrich, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Stand: Februar 2010, Stichwort Türkei, S. 47). Dies ergibt sich auch aus Art. 36 des am 12. Juni 2009 in Kraft getretenen neuen türkischen Staatsangehörigkeitsgesetzes (tStAG), wonach die Eintragung in das Personenstandsregister der Türkischen Republik bis zum Beweis des Gegenteils die Vermutung begründet, der Betreffende sei türkischer Staatsangehöriger. Wäre die Auffassung der Antragsteller zutreffend, das Personenstandsregister enthalte hinsichtlich der Eintragung der Antragstellerin zu 2) unrichtige Angaben, hätte im Übrigen die Stellung eines Antrags auf Berichtigung des Registers nahe gelegen. Eine Änderung des Registers kann mit Hilfe eines Beschlusses der Zivilkammer am Wohnsitz bzw. Registerort des Betroffenen erlangt werden (Bergmann/Ferid/Henrich, a.a.O., S. 48). Davon ist bisher offenkundig kein Gebrauch gemacht worden.