Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 02.03.2015, Az.: 1 LA 151/14

aliud; Bestandsgebäude; Erweiterung; Nachtragsbaugenehmigung; Neubau; Sanierung; Tekturgenehmigung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
02.03.2015
Aktenzeichen
1 LA 151/14
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2015, 44961
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 21.05.2014 - AZ: 2 A 1376/12

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Eine Nachtragsbaugenehmigung kann nur dann erteilt werden, wenn das errichtete bzw. zu errichtende Gebäude von der Legalisierungswirkung einer wirksamen Baugenehmigung erfasst wird und nicht als "aliud" einem gänzlich neuen Baugenehmigungsverfahren zu unterziehen ist. Ob eine Baugenehmigung ein bestimmtes Vorhaben legalisiert, richtet sich danach, ob sich das Vorhaben in Bezug auf baurechtlich relevante Kriterien von dem ursprünglichen Vorhaben unterscheidet (im Anschluss an Senat, Beschl. v. 16.6.2014 - 1 ME 70/14 -, juris Rn. 11 = NVwZ-RR 2014, 802).

2. Genehmigt die Bauaufsichtsbehörde eine sehr weitgehende Sanierung und Erweiterung eines Bestandsgebäudes, können schon - für sich betrachtet - geringe über die Genehmigung hinausgehende Eingriffe in den Bestand den Qualitätssprung bewirken, der eine erneute rechtliche Überprüfung des Bauvorhabens in einem selbstständigen Baugenehmigungsverfahren nach den für einen Neubau geltenden Maßstäben erfordert.

Tenor:

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stade - 2. Kammer - vom 21. Mai 2014 wird abgelehnt.

Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind erstattungsfähig.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Zulassungsverfahren auf 15.000,- EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Der Kläger begehrt die Erteilung einer Nachtragsbaugenehmigung für ein Wohnhaus im Außenbereich; die Beteiligten streiten darüber, ob das in Teilen bereits errichtete Gebäude trotz der Abweichungen noch von der Ursprungsbaugenehmigung gedeckt wird.

Der Kläger ist Eigentümer des Grundstücks D. Straße 78 im Gemeindegebiet der Beigeladenen. Das Grundstück liegt am Ufer des Flusses E. südlich der Deichlinie; es war ursprünglich mit einer Altländer Kate - einem historischen Fachwerkbau mit Reetdach - sowie einem Nebengebäude bebaut. Unter dem 23. März 2010 erteilte der Beklagte - gestützt auf § 35 Abs. 2 und Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 BauGB - dem Kläger eine Baugenehmigung zur „Sanierung und Erweiterung eines Wohnhauses“. Die genehmigten Bauvorlagen sahen erhebliche bauliche Veränderungen des Haupthauses vor, unter anderem die Errichtung einer neuen Stahlbetonsohle sowie einer wärmedämmenden Innenschale, die Erweiterung um zwei Anbauten im Westen und Süden, die vollständige Neuaufteilung des Innenraums, die Errichtung von zwei neuen Dachgauben sowie - größtenteils infolge der Erweiterungen - eine vollständige bzw. weitestgehende Neuerrichtung der West- bzw. Südwand. Im Bestand erhalten bleiben sollten bis auf einzelne Ausfachungen die östliche und die nördliche Wand, die Innendecke sowie das Sparrendach mit der vorhandenen Reetbedachung.

Nach seinen Angaben aufgrund der erst während der Bauarbeiten als mangelhaft erkannten Bausubstanz riss der Kläger das Bestandgebäude abweichend davon nahezu vollständig ab. Erhalten blieben lediglich die Nordwand sowie ein Teil des Ständerwerks der Ostwand im Erdgeschoss. Der Beklagte verfügte daraufhin unter dem 5. Juli 2010 die Stilllegung der weiteren Bauarbeiten an dem Vorhaben, das sich seitdem im Rohbaustadium befindet.

Mit Schreiben vom 21. März 2011, dem Bauvorlagen zu dem abweichend errichteten bzw. noch zu errichtenden Bauvorhaben nicht beigefügt waren, beantragte der Kläger die Erteilung einer Nachtragsbaugenehmigung „für die bei der Bauausführung erfolgten Abweichungen von der Baugenehmigung“. Diesen Antrag lehnte der Beklagte nach Sachprüfung mit Bescheid vom 1. November 2011 und Widerspruchsbescheid vom 6. Januar 2012 ab; zur Begründung verwies er darauf, dass die für eine Sanierung und Erweiterung des Altbestandes erteilte Baugenehmigung vom 22. März 2010 aufgrund des Abrisses erloschen sei. Bei dem Bauvorhaben des Klägers handele es sich der Sache nach um einen Neubau.

Die im Hauptantrag auf Erteilung der begehrten Nachtragsbaugenehmigung und im ersten Hilfsantrag auf die Feststellung der Wirksamkeit der Baugenehmigung vom 22. März 2010 gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht Stade mit Urteil vom 14. Mai 2014 abgewiesen. Der Hauptantrag sei unzulässig, weil dem Kläger die Klagebefugnis fehle. Da es an hinreichend bestimmten Bauvorlagen fehle, sei der Anspruch der Sache nach auf die Erteilung einer „Blankogenehmigung“ gerichtet; ein solcher Anspruch könne dem Kläger unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zustehen. Der erste Hilfsantrag sei unbegründet; die Baugenehmigung sei erloschen, weil infolge des Abrisses eine Sanierung des alten Gebäudes nicht mehr möglich sei.

Hiergegen wendet sich der Kläger mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung; der Beklagte verteidigt demgegenüber die materiell-rechtlichen Ausführungen des Verwaltungsgerichts.

II.

Der Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg.

Gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO ist die Berufung zuzulassen, wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann. Diese Voraussetzungen liegen in Bezug auf die Abweisung des Hauptantrags nicht vor.

Allerdings dürfte der von dem Kläger gerügte Verfahrensfehler - hier in Gestalt eines Verstoßes gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) - vorliegen. Das Verwaltungsgericht hätte den Hauptantrag nicht ohne vorherigen Hinweis unter Hinweis auf unzureichende Bauvorlagen - und erst recht nicht als unzulässig - abweisen dürfen. Dass eine so begründete Abweisung in Betracht kommen könnte, hatte im gesamten vorbereitenden Verfahren nach Aktenlage keine Seite geäußert; auch in der mündlichen Verhandlung wurde darüber ausweislich des Sitzungsprotokolls nicht gesprochen. Der Kläger musste mit einer solchen Abweisung angesichts dieses Prozessverlaufs auch nicht rechnen, zumal der Beklagte seinen Genehmigungsantrag in der Sache beschieden hatte.

Auf dem vorstehenden Gehörsverstoß kann die Entscheidung des Verwaltungsgerichts jedoch nicht beruhen. Die Abweisung des Hauptantrags erweist sich aus den vom Verwaltungsgericht im Rahmen der Behandlung des ersten Hilfsantrags selbst bezeichneten Gründen als offenkundig richtig. Eine nach niedersächsischem Landesrecht nicht ausdrücklich geregelte, aber in der Rechtsprechung seit jeher anerkannte Nachtragsbaugenehmigung kann nur dann erteilt werden, wenn das errichtete bzw. zu errichtende Gebäude von der Legalisierungswirkung einer wirksamen Baugenehmigung erfasst wird und nicht als „aliud“ einem gänzlich neuen Baugenehmigungsverfahren zu unterziehen ist (vgl. Senat, Beschl. v. 16.6.2014 - 1 ME 70/14 -, juris Rn. 11 = NVwZ-RR 2014, 802). Eine solche Baugenehmigung liegt - wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat - nicht vor; die Baugenehmigung vom 22. März 2010 erfasst das Bauvorhaben des Klägers nicht. Die Genehmigung hat sich vielmehr gemäß § 1 Abs. 1 Nds. VwVfG i. V. mit § 43 Abs. 2 VwVfG auf andere Weise erledigt, weil ihr Regelungsgegenstand mit dem Abbruch der Bestandsgebäude auf dem Baugrundstück entfallen ist.

Ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) begegnet die Entscheidung des Verwaltungsgerichts insofern nicht. Ob eine Baugenehmigung ein bestimmtes Vorhaben legalisiert, richtet sich danach, ob sich das Vorhaben in Bezug auf baurechtlich relevante Kriterien von dem ursprünglichen Vorhaben unterscheidet. Dies gilt unabhängig davon, ob die baurechtliche Zulässigkeit des abgewandelten Vorhabens als solche im Ergebnis anders zu beurteilen ist. Ein baurechtlich relevanter Unterschied zwischen dem ursprünglichen und dem abgewandelten Bauvorhaben ist immer dann anzunehmen, wenn sich für das abgewandelte Bauvorhaben die Frage der Genehmigungsfähigkeit wegen geänderter tatsächlicher oder rechtlicher Voraussetzungen neu stellt, d. h. diese geänderten Voraussetzungen eine erneute Überprüfung der materiellen Zulässigkeitskriterien erfordern. Ist dies der Fall, ist für das errichtete Gebäude ein selbstständiges (neues) Genehmigungsverfahren durchzuführen. Die Erteilung einer bloßen Nachtragsbaugenehmigung zu der für das ursprüngliche Vorhaben erteilten Baugenehmigung scheidet aus (vgl. Senat, Beschl. v. 16.6.2014, a. a. O., m. w. N.).

Das zugrunde gelegt bezieht sich die Baugenehmigung vom 22. März 2010 auf die Sanierung und Erweiterung eines Wohnhauses. Genehmigt wird mithin eine Baumaßnahme, die - wie der Beklagte zu Recht ausgeführt hat - das Bestandsgebäude trotz der Umbauten in seiner Identität unberührt lässt. Welchen Umfang die Umbauten ausmachen dürfen, ohne die Identität zu gefährden, regelt die Baugenehmigung im Detail; die Ost- und die Nordwand sowie das Dach sollten im Wesentlichen erhalten werden.

Demgegenüber hat der Kläger das Bestandsgebäude bis auf die Nordwand sowie einen Teil des Ständerwerks der Ostwand vollständig abgerissen. Von einem Bestandsgebäude kann bei lediglich zwei teilweise erhaltenen Außenwänden keine Rede mehr sein. Bei dem Vorhaben des Klägers handelt es sich deshalb um einen Neubau unter Verwendung einzelner alter Bauteile, die - das Verwaltungsgericht hat das zutreffend ausgeführt - als Elemente des alten Gebäudes allenfalls eine Erinnerung an den Vorgängerbau begründen können. Dass an einen Neubau andere Genehmigungsanforderungen zu stellen sind als an die Sanierung eines Bestandsgebäudes, liegt auf der Hand; planungsrechtlich zeigt § 35 Abs. 4 BauGB, dass an die Neuerrichtung eines Vorhabens im Außenbereich grundsätzlich andere - hier nicht vorliegende - Voraussetzungen zu stellen sind. Da zudem nach dem Abriss des Bestandsgebäudes allein ein Neubau noch möglich ist, kommt der auf die Sanierung der Bestandsgebäude bezogenen Baugenehmigung vom 22. März 2010 keine Regelungswirkung mehr zu; sie hat sich gemäß § 43 Abs. 2 VwVfG auf andere Weise erledigt.

Soweit der Kläger demgegenüber meint, die Wesentlichkeit der Abweichung von einer erteilten Baugenehmigung beurteile sich ausgehend von der Baugenehmigung und nicht ausgehend von dem früheren Bestand, trifft das zu. Seine Schlussfolgerung, die Abweichung des nunmehr zu errichtenden Bauvorhabens von der unter dem 22. März 2010 genehmigten Bauausführung sei angesichts des großen Umfangs der genehmigten Arbeiten geringfügig, geht jedoch fehl. Was als geringfügige, ein erneutes selbstständiges Genehmigungsverfahren nicht erfordernde Abweichung zu bezeichnen ist, hängt insbesondere von den rechtlichen Rahmenbedingungen des Bauvorhabens ab (vgl. Senat, Beschl. v. 16.6.2014, a. a. O., m. w. N.). Diese sind hier denkbar eng. Schon die Baugenehmigung vom 22. März 2010 dehnt den Anwendungsbereich einer - gemäß § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 BauGB unter erleichterten Voraussetzungen möglichen - Sanierungs- und Erweiterungsgenehmigung für ein Vorhaben im Außenbereich zugunsten des Klägers bis an die äußerste Grenze des Vertretbaren aus. In einem solchen Fall können schon - für sich betrachtet - kleine Abweichungen den Qualitätssprung bewirken, der eine erneute rechtliche Überprüfung in einem selbstständigen Baugenehmigungsverfahren erfordert. Je umfangreicher mit anderen Worten eine Sanierung ausfällt und je stärker der Eingriff in den Bestand ausfällt, umso geringer sind im Hinblick auf § 35 Abs. 2 und Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 BauGB die Spielräume für eine im Wege des Nachtrags erfolgende Genehmigung einer den Bestand noch weitgehender antastenden Bauausführung.

Hat der Beklagte mithin lediglich eine Sanierung, nicht aber einen Neubau genehmigt, kommt es auf die Frage, ob die einzelnen Baumaßnahmen für sich betrachtet genehmigungspflichtig oder genehmigungsfrei sind, nicht an. Ebenso unerheblich ist es, ob der Neubau nach seiner Fertigstellung dem Vorgängerbau ähneln oder ihm sogar gleichen wird.

Die Rechtssache weist keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten i. S. von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO auf, die zu einer Zulassung der Berufung führen können. Der Fall liegt im Gegenteil tatsächlich und rechtlich eindeutig; zur näheren Begründung wird auf die obigen Ausführungen Bezug genommen. Die von dem Kläger erwogene „Heilung“ durch eine nunmehr erneut zu verändernde Bauausführung kommt angesichts des Verlusts des Bestandsgebäudes und damit des Regelungsobjekts der Baugenehmigung vom 22. März 2010 offensichtlich nicht in Betracht.

Gegen die Abweisung des mit der Klage verfolgten dritten und vierten Hilfsantrags bringt der Kläger mit seinem Zulassungsantrag keine Gründe vor; insoweit kommt die Zulassung der Berufung schon gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO nicht in Betracht.

Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 i. V. mit § 162 Abs. 3 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.