Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 14.04.2021, Az.: 1 ME 140/20

Abbrucharbeiten; Abwägung, nachvollziehende; Baugenehmigung; Bauvorbescheid; Faktoren, störfallspezifische; Nachbarwiderspruch; Verfristung; Seveso-III-Richtlinie; Seveso-Richtlinie; Sicherheitsabstand; Störfall; störfallspezifisch; Widerspruchsfrist

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
14.04.2021
Aktenzeichen
1 ME 140/20
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2021, 70849
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 23.09.2020 - AZ: 12 B 2730/20

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Die Verfristung des Widerspruchsrechts des Nachbarn, dem die Baugenehmigung nicht amtlich bekanntgegeben wurde, knüpft an den Zeitpunkt an, zu dem sich ihm das Vorliegen der Baugenehmigung aufdrängen musste (Anschluss an BVerwG, Beschl. v. 11.9.2018 - 4 B 34.18 -, BRS 86 Nr. 184 = juris Rn. 9, 11). Dabei kann im Einzelfall auch die Kenntnis von verfahrensfreien Abbrucharbeiten von Bedeutung sein.

2. Ein Bauvorbescheid stellt nicht in jeder Hinsicht ein Minus gegenüber einer Baugenehmigung dar.

3. Verbrauchermärkte sind regelmäßig „öffentlich genutzte Gebäude“ i.S. von Art. 13 Abs. 2 Buchst. a) Seveso-III-Richtlinie, § 3 Abs. 5d BImSchG.

4. Bei der Ermittlung des angemessenen Sicherheitsabstands i.S. von Art. 13 Abs. 2 Buchst. a) Seveso-III-Richtlinie und § 3 Abs. 5c BImSchG sind neben anlagenseitigen auch vorhabenseitige störfallspezifische Faktoren zu berücksichtigen (Anschluss an BVerwG, Urt. v. 20.12.2012 - 4 C 11.11 -, BVerwGE 145, 290 = juris Rn. 18).

5. Die einzelnen für die Ermittlung des angemessenen Sicherheitsabstands heranzuziehenden störfallspezifischen Faktoren dürfen in die nachvollziehende Abwägung nicht gleichsam ein zweites Mal eingestellt werden.

6. Entscheidende Aspekte für die Gewichtung der widerstreitenden Interessen im Rahmen der Vorhabenzulassung - Einhaltung des Abstandsgebots einerseits, wirtschaftliche Interessen des Vorhabenträgers andererseits - sind insbesondere das Ausmaß der Unterschreitung des angemessenen Sicherheitsabstands und die durch das Vorhaben eintretende Risikoveränderung gegenüber der bisherigen Situation.

Tenor:

Die Beschwerden aller Beteiligten gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - 12. Kammer - vom 23. September 2020 werden zurückgewiesen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens, mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Antragsgegnerin und der Beigeladenen, tragen die Antragstellerin zur Hälfte, die Antragsgegnerin und die Beigeladene zu je einem Viertel. Die außergerichtlichen Kosten der Antragsgegnerin und der Beigeladenen trägt die Antragstellerin zur Hälfte. Im Übrigen tragen die Antragsgegnerin und die Beigeladene ihre außergerichtlichen Kosten selbst.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für beide Rechtszüge auf 40.000,- EUR festgesetzt; insoweit wird der Streitwertbeschluss des Verwaltungsgerichts geändert.

Gründe

I.

Die Antragstellerin wendet sich gegen mehrere Baugenehmigungen, die die Antragsgegnerin der Beigeladenen für das sog. „F. -Grundstück“ in ihrer Innenstadt erteilt hat.

Die Antragstellerin erzeugt in ihrem Betrieb Spezialpapiere und Verpackungen. Ihr Betriebsbereich unter der im Aktivrubrum genannten Adresse unterfällt der 12. Verordnung zur Durchführung des Bundesimmissionsschutzgesetzes - Störfall-Verordnung. Das 384.000 qm große Betriebsgelände liegt nordwestlich der Innenstadt der Antragsgegnerin im rechtsseitigen Flusstal der Leine; auf dem Gelände wird seit mehr als 200 Jahren Papier hergestellt. Im März 2018 erstellte der TÜV Nord im Auftrag der Antragstellerin ein Gutachten zur Verträglichkeit des Betriebsbereichs in Bezug auf die angrenzende Bebauung. Nach dem Gutachten ist Schwefeldioxid der das Gefahrenpotential bestimmende Stoff. Dieser wird einmal wöchentlich mit einem Eisenbahnkesselwagen angeliefert, in einer Abfüllhalle entladen und von dort durch eine im Freien verlaufende Rohrleitung zum Tanklager geleitet. Der gesamte Vorgang dauert etwa vier Stunden. Nach den Feststellungen des TÜV Nord beträgt der Sicherheitsabstand um die Rohrleitung 800 m. In diesem Abstand liegen östlich des Betriebsgeländes Wohngebiete und die Altstadt mit kommunalen Einrichtungen sowie die Fußgängerzone.

Die Beigeladene ist Eigentümerin des sogenannten „F. -Grundstücks“,
G. straße 5/6 in A-Stadt. Das 6.332 qm große Grundstück liegt im unbeplanten Innenbereich und grenzt im Nordwesten an die G. straße, im Südwesten an die Straße H. und im Südosten an den I. weg. Es ist mindestens seit 1997 ein Einzelhandelsstandort, nachdem ein abgesacktes Altgebäude abgerissen worden war und die Antragsgegnerin am 16. Juli 1996 den Neubau eines Geschäfts- und Bürohauses genehmigt hatte. Entsprechend dieser Genehmigung befanden sich auf dem Grundstück zuletzt an die Straße H. grenzend ein mindestens seit Mitte des Jahres 2012 leerstehender Lebensmittelmarkt mit darüber liegendem zweigeschossigem Parkdeck mit über 100 Einstellplätzen sowie - in einem Gebäude an der G. straße - weitere Einzelhandels- bzw. Dienstleistungsbetriebe. Der gesamte Gebäudekomplex sollte ab 2015 zunächst grundlegend saniert werden, da sich durch Hohlräume im Untergrund Setzrisse gebildet hatten. Die dafür einer früheren Voreigentümerin des Vorhabengrundstücks erteilte Baugenehmigung vom 23. Februar 2016 zur „Herstellung einer Ein- und Ausfahrt zur G. straße sowie Umbau des Erdgeschosses mit Nutzung als Lebensmittelmarkt, Sanitätshaus, Büro- und Einzelhandelsflächen“ (Bauschein-Nr. (63) 104/2015) wurde nicht ausgenutzt.

Mit Bescheid vom 14. Dezember 2016 erteilte die Antragsgegnerin der letzten Voreigentümerin des Grundstücks eine Baugenehmigung für den „Neubau/Umbau eines Lebensmittelmarktes mit Getränkemarkt, Fleischereiabteilung und Backshop sowie Umbau eines Teilbereiches in ein Sanitätshaus und Herstellung von 84 Einstellplätzen“ (Bauschein-Nr. (63) 140/2016). Ausweislich des grüngestempelten Lageplans sollten das durch ein Steuerberatungsbüro genutzte Gebäude an der G. straße sowie ein Teil des Gebäudes an der Einmündung H. /G. straße zur Umgestaltung in ein Sanitätshaus erhalten bleiben. Das neue Gebäude des Lebensmittelmarktes mit Backshop sollte wieder an die Straße H. grenzen; dort war auch die LKW-Anlieferung vorgesehen. Die Stellplätze lagen im nördlichen, östlichen und südlichen Teil des Grundstücks.

Unter dem 8. Februar 2017, dem 10. August 2017 und dem 3. Dezember 2018 erteilte die Antragsgegnerin der Voreigentümerin bzw. der Beigeladenen drei Nachtragsgenehmigungen, die sich auf die Innengestaltung bzw. statische Unterlagen bezogen.

Spätestens am 12. Juli 2017 war der Lebensmittelmarkt nebst Parkdeck abgerissen, während das Gebäude an der G. straße zunächst weiter genutzt wurde.

Nachdem sich herausgestellt hatte, dass der zuletzt genehmigte Baukörper über einer Erdfallstelle liegen würde, nahm die Beigeladene eine Umplanung vor und beantragte unter dem 26. Juni 2019 mit umfangreichen Bauvorlagen die Erteilung einer Baugenehmigung „Sanierung/Ersatzbau SB-Verbrauchermarkt mit Backshop“. Ausweislich der Bauzeichnungen ist der Baukörper auf dem Grundstück nach Osten verschoben und gedreht worden. Er grenzt nunmehr an die Straße H. und den I. weg, wobei sich am I. weg die LKW-Anlieferung befindet. Die Stellplätze liegen im westlichen Teil des Grundstücks. Der Verkaufsraum des SB-Verbrauchermarktes soll 1.595,00 qm und der Backshop 85,98 qm groß sein.

Am 13. August 2019 zeigte die Beigeladene den Abbruch des an der G. straße liegenden Gebäudes bei der Antragsgegnerin an.

Unter dem 6. Dezember 2019 erteilte die Antragsgegnerin der Beigeladenen die beantragte Baugenehmigung (Bauschein-Nr. (63) 88/2019) mit dem Betreff: „Sanierung/Ersatzbau SB-Verbrauchermarkt mit Backshop und Herstellung von 91 Einstellplätzen – veränderte Ausführung der Baugenehmigung vom 14.12.2016“. Die Baugenehmigung stellte sie der Antragstellerin am 18. Dezember 2019 zu. Dagegen erhob die Antragstellerin unter dem 16. Januar 2020 Widerspruch, unter dem 26. März 2020 auch gegen die Baugenehmigungen vom 14. Dezember 2016, 8. Februar 2017, 10. August 2017 und 3. Dezember 2018. Die Widersprüche wies die Antragsgegnerin durch Widerspruchsbescheid vom 5. Mai 2020 als unzulässig zurück und lehnte am gleichen Tag den gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung aller angefochtenen Baugenehmigungen ab.

Auf den Eilantrag der Antragstellerin hat das Verwaltungsgericht Hannover mit dem angegriffenen Beschluss vom 23. September 2020 die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Baugenehmigung vom 6. Dezember 2019 angeordnet. Im Übrigen, d.h. hinsichtlich der Baugenehmigung vom 14. Dezember 2016 einschließlich der drei Nachtragsgenehmigungen, hat es den Eilantrag abgelehnt. Zur Begründung hat es ausgeführt: Soweit sich die Antragstellerin mit ihrer Klage gegen die Baugenehmigung vom 14. Dezember 2016 wende, sei ihr Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz unstatthaft, weil die Baugenehmigung ihr gegenüber bestandskräftig sei. Durch die spätestens Mitte Juli 2017 abgeschlossenen Abbrucharbeiten habe sich in diesem Einzelfall eine Pflicht der Verantwortlichen der Antragstellerin ergeben, sich nach dem Vorliegen einer Baugenehmigung zu erkundigen. Soweit sich die Antragstellerin gegen die allein die Statik bzw. die Innengestaltung betreffenden Nachtragsgenehmigungen vom 8. Februar 2017, 10. August 2017 und 3. Dezember 2018 wende, sei ihr Antrag mangels Antragsbefugnis unzulässig. Hinsichtlich der Baugenehmigung vom 6. Dezember 2019, bei der es sich um eine selbstständig anfechtbare Vollgenehmigung handle, sei ihr Eilantrag zulässig und begründet. Das genehmigte Vorhaben sei bauplanungsrechtlich unzulässig, denn es verstoße gegen das sich aus § 34 BauGB ergebende nachbarschützende Gebot der Rücksichtnahme in der durch die Seveso-III-Richtlinie gebotenen Auslegung. Das Vorhaben der Beigeladenen halte den angemessenen Abstand zum Störfallbetrieb der Antragstellerin nicht ein und sei nicht ausnahmsweise zuzulassen. Bei der insoweit vom Gericht anstelle der Antragsgegnerin vorzunehmenden nachvollziehenden Abwägung blieben städtebauliche oder sonstige öffentliche Belange unberücksichtigt. Gegenüber dem in die Abwägung einzustellenden erheblichen wirtschaftlichen Interesse der Beigeladenen setze sich das Interesse, die Risiken eines immer möglichen „Dennoch-Störfalls“ zu begrenzen, durch. Denn es sei nicht gutachterlich ermittelt worden, ob es im Fall eines Austritts von Schwefeldioxid aus der Rohrleitung des Störfallbetriebs noch möglich wäre, die Kunden insbesondere auf dem Parkplatz rechtzeitig zu alarmieren, bevor das Gas das Vorhabengrundstück erreiche, und welche Gesundheitsgefahren drohten, wenn dies nicht der Fall sei.

Dagegen wenden sich alle Beteiligten mit der Beschwerde und treten den jeweils anderen Beschwerden entgegen.

Während des Beschwerdeverfahrens hat die Antragsgegnerin der Beigeladenen auf deren Antrag vom 23. März 2020 unter dem 22. Oktober 2020 eine von den Beteiligten in dieses und das Hauptsacheverfahren vor dem Verwaltungsgericht einbezogene Nachtragsbaugenehmigung (Bauschein-Nr. (63)116/2020) erteilt, in der im Hinblick auf die Nachbarschaft zum Störfallbetrieb zusätzliche Bedingungen zu der Baugenehmigung vom 6. Dezember 2019 formuliert werden, beispielsweise die Einrichtung von Alarmierungswegen. Hinsichtlich der Nachtragsbaugenehmigung vom 22. Oktober 2020 hat die Beigeladene auf Rechtsbehelfe verzichtet und die Antragstellerin vorsorglich einen bislang nicht beschiedenen Widerspruch erhoben.

II.

Die zulässigen Beschwerden haben keinen Erfolg. Die dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen keine Änderung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung.

1. Die Beschwerde der Antragstellerin, die sich dagegen richtet, dass das Verwaltungsgericht ihren Eilantrag hinsichtlich der Baugenehmigung vom 14. Dezember 2016 (dazu unter a) und der Nachträge vom 8. Februar 2017, 10. August 2017 und 3. Dezember 2018 (dazu unter b) als unzulässig angesehen hat, ist unbegründet.

a) Das Verwaltungsgericht hat die Baugenehmigung vom 14. Dezember 2016 zu Recht als bestandskräftig erachtet, weil die Antragstellerin ihren Widerspruch zu spät erhoben hat.

aa) Ist dem Nachbarn die Baugenehmigung, durch die er sich beschwert fühlt, - wie hier - nicht amtlich bekanntgegeben worden, so läuft für ihn weder in unmittelbarer noch in analoger Anwendung der §§ 70 und 58 Abs. 2 VwGO eine Widerspruchsfrist. Hat er jedoch gleichwohl sichere Kenntnis von der Baugenehmigung erlangt oder hätte er sie erlangen müssen, so kann ihm nach Treu und Glauben die Berufung darauf versagt sein, dass sie ihm nicht amtlich mitgeteilt wurde. Dann läuft für ihn die Widerspruchsfrist nach den vorgenannten Vorschriften so, als sei ihm die Baugenehmigung in dem Zeitpunkt amtlich bekannt gegeben, in dem er von ihr sichere Kenntnis erlangt hat oder hätte erlangen können. Der Zeitpunkt, zu dem der Nachbar von der Baugenehmigung zuverlässige Kenntnis nehmen konnte, tritt ein, wenn sich ihm das Vorliegen der Baugenehmigung aufdrängen musste - beispielsweise aufgrund eines sichtbaren Beginns der Bauausführung - und es ihm möglich und zumutbar war, sich hierüber - etwa durch Anfrage bei dem Bauherrn oder der Baugenehmigungsbehörde - Gewissheit zu verschaffen. Daraus folgt: Ab dem Zeitpunkt, zu dem der Nachbar davon ausgehen muss, dass der Bauherr eine Baugenehmigung erhalten hat, hat er sich regelmäßig innerhalb eines Jahres über die Genehmigungslage zu informieren (BVerwG, Beschl. v. 11.9.2018 - 4 B 34.18 -, BRS 86 Nr. 184 = juris Rn. 9, 11; bestätigt Beschl. v. 21.1.2021 - 4 B 15.20 -, juris Rn. 6; Urt. v. 25.1.1974 - IV C 2.72 -, BVerwGE 44, 294 = juris Leitsatz 2 und Rn. 25; Senatsurt. v. 17.1.1997 - 1 L 6347/95 -, BRS 59 Nr. 195 = juris Rn. 9 f.). Maßgebend für den Verlust des Widerspruchsrechts gegen eine dem Nachbarn erteilte Baugenehmigung nach dem Grundsatz von Treu und Glauben sind die jeweiligen Umstände des Einzelfalls (BVerwG, Beschl. v. 28.8.1987 - 4 N 3.86 -, BVerwGE 78, 85 = juris Rn. 16; Beschl. v. 17.2.1989 - 4 B 28.89 -, Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 87 = juris Rn. 4; Senatsurt. v. 27.11.2019 - 1 KN 20/17 -, juris Rn. 33).

Anders als die Antragstellerin meint, können auch (verfahrensfreie) Abbrucharbeiten ein Aspekt sein, aufgrund dessen sich in der Zusammenschau mit anderen Umständen im konkreten Einzelfall das Vorliegen einer Baugenehmigung aufdrängt. Der „sichtbare Beginn der Bauausführung“ bzw. „deutlich wahrnehmbare Bauarbeiten“ sind ein häufiger (vgl. z.B. VGH BW, Urt. v. 14.05.2012 - 10 S 2693/09 -, BRS 79 Nr. 183 = juris Rn. 40 m.w.N.; VG Hamburg, Beschl. v. 4.9.2015 - 9 E 3623/15 -, juris Rn. 31, 37), aber dennoch nur der späteste (vgl. OVG Berl.-Bbg., Urt. v. 20.12.2005 - OVG 10 B 10.05 -, juris Rn. 23) unter den möglichen Anknüpfungspunkten dafür, dass sich die Erteilung einer Baugenehmigung aufdrängen muss. Es existiert kein Rechtssatz, wonach aus verfahrens- bzw. genehmigungsfreien Baumaßnahmen oder Abbruch- und Beseitigungsmaßnahmen generell nicht auf das Vorliegen einer Baugenehmigung für andere Baumaßnahmen geschlossen werden muss. Dahingehend ist weder das Urteil des Senats vom 17. Januar 1997 (- 1 L 6347/95 -, BRS 59 Nr. 195 = juris Rn. 11) noch die vom Verwaltungsgericht zitierte Entscheidung des Thüringer Oberverwaltungsgerichts (Beschl. v. 20.12.2004 - 1 EO 1077/04 -, BRS 67 Nr. 196 = juris Rn. 29) zu verstehen. Maßgebend ist, ob die Einzelfallumstände das Vorliegen einer Baugenehmigung für ein genehmigungsbedürftiges Vorhaben nahelegen und nicht lediglich einen verfahrens- oder genehmigungsfreien Abbruch oder eine verfahrens- oder genehmigungsfreie Errichtung oder Änderung einer baulichen Anlage.

Die konkrete Würdigung der Einzelfallumstände, die das Verwaltungsgericht zu der Einschätzung bewogen haben, die Antragstellerin habe sich spätestens bis Mitte Juli 2018 - innerhalb eines Jahres nach Beendigung der Abbrucharbeiten - erkundigen müssen, ob eine Baugenehmigung erteilt sei (BA S. 15 f. = juris Rn. 39 f.), ist ebenfalls nicht zu beanstanden. Der vorliegende Fall ist durch Besonderheiten gekennzeichnet, die es rechtfertigen, der Antragstellerin abzuverlangen, aus dem Abbruch des früheren Lebensmittelmarktes nebst Parkdeck auf das Vorliegen einer Genehmigung für die Neuerrichtung genehmigungspflichtiger baulicher Anlagen zu schließen. Für jeden Nachbarn und damit auch die Antragstellerin als ein zu einem Großkonzern gehörendes Unternehmen ersichtlich handelt es sich um ein großes Vorhabengrundstück in prominenter Lage zwischen Bahnhof und Innenstadt mit einem hohen Investitionsvolumen. Es war zu erwarten, dass sich ein Investor auf einem solch großen Grundstück schon aus wirtschaftlichen Gründen nur dann großflächig von altem Gebäudebestand trennt, wenn die künftige Grundstücksnutzung gesichert ist. Über die vom Verwaltungsgericht in die Gesamtschau einbezogenen Einzelfallumstände hinaus berücksichtigt der Senat, dass die künftige Nutzung des Vorhabengrundstücks für einen Verbrauchermarkt ausweislich der lokalen Presseberichterstattung Stadtgespräch war. Zwar muss ein Nachbar möglicherweise nicht jedem möglichen Hinweis in der Presse auf die Erteilung der Baugenehmigung nachgehen und diesen zum Anlass für entsprechende Nachfragen bei der Bauaufsichtsbehörde nehmen (vgl. ThürOVG, Beschl. v. 20.12. 2004, - 1 EO 1077/04 -, BRS 67 Nr. 196 = juris Rn. 28). Vorliegend war die künftige Nutzung des Geländes jedoch seit Ende 2016 Thema in der Lokalpresse. Die in das Gerichtsverfahren eingeführte Berichterstattung, die sich wie folgt zusammenfassen lässt, erwähnt die Erteilung einer Baugenehmigung entweder ausdrücklich oder legt sie nahe: Die A-Stadt Zeitung meldete am 27./28. Dezember 2016, dass die Baugenehmigung für die Umgestaltung des F. geländes „vorliege“ und ein neues Gebäude errichtet werden solle. Unter dem 3./4. Mai 2017 berichtete sie, unter dem 12. Juli 2017 die Hildesheimer Allgemeine Zeitung, dass noch im Jahr 2017 ein Neubau für einen Lebensmittelmarkt nebst Stellplätzen fertiggestellt sein solle. In einem weiteren im Beschwerdeverfahren übermittelten Artikel der A-Stadt Zeitung vom 12. Juli 2018 wird unter der Überschrift „[…] Nach Seveso III: Einkaufsmarkt auf dem F. -Gelände darf gebaut werden / Großprojekte auf dem Prüfstand“ erwähnt, dass für das Vorhabengrundstück eine Baugenehmigung erteilt sei. Dass die Antragstellerin diese bereits bis Mitte Juli 2017 umfangreich erfolgte Berichterstattung der Lokalpresse zur Zukunft des Vorhabengrundstücks zur Kenntnis nehmen konnte und genommen hat, entspricht der Lebenserfahrung und wird von ihr nicht bestritten. Lediglich in erster Instanz hat sie die Auffassung vertreten, sie sei nicht verpflichtet, die Presseberichterstattung zu lesen, und nach Einführung der Artikel vom 27./28. Dezember 2016 und 3./4. Mai 2017 pauschal (und unzutreffend) behauptet, dass die Presse nur von Abbrucharbeiten berichtet habe. Aufgrund der Besonderheiten des Falls hätte sich die Antragstellerin binnen eines Jahres gerechnet ab Mitte Juli 2017 nach dem Vorliegen einer Baugenehmigung für das Vorhabengrundstück erkundigen müssen.

Aus der - am 30. September 2017 und damit nach Erteilung der Baugenehmigung vom 14. Dezember 2016 in Kraft getretenen - Regelung über die Öffentlichkeitsbeteiligung bei Baumaßnahmen in der Nähe von Störfallbetrieben in § 68 Abs. 5 bis 8 NBauO kann die Antragstellerin nichts für sich herleiten. Es kann dahinstehen, ob die Vorschriften, die zum Ausgleich der widerstreitenden Belange ein spezielles Regime von behördlichen Bekanntgaben und Einwendungen Dritter enthalten, über ihren Wortlaut hinaus das nachbarrechtliche Gemeinschaftsverhältnis determinieren. Jedenfalls erfolgt insoweit keine Rückwirkung der Verfahrensvorschriften.

bb) Der Senat lässt offen, ob dem Verwaltungsgericht darin zu folgen ist, dass für den Beginn der Jahresfrist nicht nur die Kenntnis bzw. das Kennenmüssen der Baugenehmigung erforderlich ist, sondern zusätzlich zu fordern ist, dass der Nachbar hierdurch ausgelöste Risiken und Beeinträchtigungen erkennt oder erkennen muss (BA S. 15 = juris Rn. 38 unter Verweis auf: VGH BW, Urt. v. 14.05.2012 - 10 S 2693/09 -, BRS 79 Nr. 183 = juris Rn. 36 ff.; VG Hamburg, Beschl. v. 4.9.2015 - 9 E 3623/15 -, juris Rn. 20; Burzynska/Fontana, in: Große-Suchsdorf, NBauO, 10. Aufl. 2020, § 68 Rn. 189; Dolde/Porsch, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand: Januar 2020, § 70 Rn. 21; a.A.: VG München, Urt. v. 6.10.2005 - M 11 K 04.2630 -, juris Rn. 29). Das Argument der Antragstellerin, sie habe eine Beeinträchtigung ihrer subjektiven Rechte durch eine etwaige der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung nicht erkennen müssen, weil der Sicherheitsabstand von 800 m erst im März 2018 durch das Gutachten des TÜV Nord festgestellt worden sei, verfängt nicht. Das Verwaltungsgericht hat überzeugend darauf abgestellt, dass sich eine Rechtsbeeinträchtigung aufgrund der sehr geringen räumlichen Nähe des Baugrundstücks zum Betriebsgelände - auf der gegenüberliegenden Seite der G. straße - und insbesondere zur Rohrleitung für das Schwefeldioxid (Entfernung etwa 370 m) hätte aufdrängen müssen (BA S. 16 Mitte = juris Rn. 39 a.E.). Eine dahingehende Einschätzung musste die Antragstellerin im Rahmen einer zumindest laienhaften Wertung auch ohne das Gutachten des TÜV treffen können. Abgesehen davon hat sich die Antragstellerin auch nicht binnen eines Jahres seit März 2018 nach der Genehmigungslage erkundigt.

cc) Die von den Beteiligten auch im Beschwerdeverfahren aufgeworfene Frage eines wahrnehmbaren (Neu-)Baugeschehens auf dem Vorhabengrundstück in den letzten Jahren einschließlich der Aufstellung des Bauschildes ist - wie das Verwaltungsgericht angenommen hat (BA S. 15 letzter Absatz und S. 17 = juris Rn. 39 und 45) - nicht entscheidungserheblich. Soweit dieser Aspekt auf die Frage der Verwirkung des Widerspruchsrechts der Antragstellerin abzielt, muss der Senat darüber nicht befinden, weil die Verwirkung nach Eintritt der Bestandskraft wegen Versäumung der Widerspruchsfrist keine Rolle mehr spielt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 11.9.2018 - 4 B 34.18 -, BRS 86 Nr. 184 = juris Rn. 14). Soweit damit ein Erlöschen der Genehmigung vom 14. Dezember 2016 gem. § 71 NBauO angesprochen sein sollte, betrifft dies die nicht mehr zu prüfende Begründetheit des Eilantrags.

b) Gegen die Feststellung des Verwaltungsgerichts, ihr Eilantrag sei hinsichtlich der drei Nachtragsbaugenehmigungen vom 8. Februar 2017, 10. August 2017 und 3. Dezember 2018 mangels Antragsbefugnis unzulässig (BA S. 16 f. = juris Rn. 41 ff.), wendet sich die Antragstellerin ebenfalls erfolglos. Ihr Vortrag, für die Frage der möglichen Rechtsverletzung müssten die Bescheide in ihrer Gesamtheit gewürdigt werden, wobei die Nachtragsbaugenehmigungen unselbstständige Teile der angefochtenen Genehmigung vom 14. Dezember 2016 seien, mag zwar in Teilen zutreffen; dies ändert aber nichts daran, dass die Anfechtbarkeit eines jeden Verwaltungsaktes gesondert zu beurteilen ist. Überzeugend hat das Verwaltungsgericht insofern argumentiert, der Antragstellerin fehle bezüglich der einzelnen Nachtragsbaugenehmigungen die Antragsbefugnis, weil eine Verletzung ihrer subjektiven Rechte durch die getroffenen Regelungen zum Innenausbau und zur Vorhabenstatik des Verbrauchermarktes offensichtlich ausgeschlossen sei. Dem schließt sich der Senat an.

c) Der von der Antragstellerin erstmals im Beschwerdeverfahren angekündigte Hilfsantrag, festzustellen, dass vorläufig - bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache - von der angefochtenen Baugenehmigung aus 2016 in Gestalt der erteilten Nachträge kein Gebrauch gemacht werden darf, ist nicht wirksam gestellt. Soweit die Antragstellung von einem gerichtlichen Hinweis abhängig gemacht wird, dass diese Baugenehmigung ihre Wirksamkeit verloren hätte, kann der Senat den Bedingungseintritt nicht herbeiführen. Der angekündigte Hilfsantrag liefe nicht auf eine andere Fassung des ursprünglichen Rechtsschutzbegehrens hinaus, sondern auf eine Antragshäufung und eine Erweiterung des Streitgegenstandes. Anlass, die Antragstellerin zu deren Zulässigkeit zu beraten, hat der Senat nicht.

2. Die Beschwerden der Antragsgegnerin und der Beigeladenen, die die Baugenehmigung vom 6. Dezember 2019 in der Fassung der Nachtragsbaugenehmigung vom 22. Oktober 2020 betreffen, sind ebenfalls unbegründet.

a) Die gegen die Zulässigkeit des Eilantrags betreffend die Baugenehmigung vom 6. Dezember 2019 vorgetragenen Argumente greifen nicht durch.

aa) Ohne Erfolg zweifelt die Beigeladene die Feststellung des Verwaltungsgerichts an, wonach es sich bei der Baugenehmigung vom 6. Dezember 2019 nicht um eine Nachtragsgenehmigung zu der Baugenehmigung vom 14. Dezember 2016, sondern um eine Genehmigung für ein anderes Bauvorhaben, ein „aliud“, handelt, die von der Antragstellerin selbstständig angefochten werden kann (BA S. 17 f. = juris Rn. 47-49).

Soweit die Beigeladene meint, für die Einstufung komme es auf die Bezeichnungen durch die Beteiligten an, hat sie einen Rechtsfehler nicht hinreichend dargelegt und sich nicht mit dem vom Verwaltungsgericht korrekt zu Grunde gelegten Prüfungsmaßstab auseinandergesetzt. Dieses ist davon ausgegangen, eine Baugenehmigung für ein anderes Bauvorhaben sei dann zu erteilen, wenn sich für das abgewandelte Bauvorhaben die Frage der Genehmigungsfähigkeit wegen geänderter tatsächlicher oder rechtlicher Voraussetzungen neu stellt, d.h. diese geänderten Voraussetzungen eine erneute Überprüfung der materiellen Zulässigkeitskriterien erfordern (BA S. 18 erster Absatz = juris Rn. 48; vgl. Senatsbeschl. v. 2.3.2015 - 1 LA 151/14 -, BRS 83 Nr. 111 = juris Rn. 11 und v. 16.6.2014 - 1 ME 70/14 -, BRS 82 Nr. 171 = juris Rn. 11). Das trifft zu.

Soweit die Beigeladene einwendet, bei der Abgrenzung von Nachtragsbaugenehmigung und Änderungsgenehmigung sei darauf abzustellen, ob sich die Frage der Genehmigungsfähigkeit im Hinblick auf potenziell nachbarschützende Gesichtspunkte - hier die Nähe zum Störfallbetrieb - neu stelle, was nicht der Fall sei, folgt der Senat dem nicht. Eine Einschränkung dahingehend, dass sich die Frage der materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen in Dreieckskonstellationen gerade im Hinblick auf die im konkreten Fall in Rede stehenden nachbarschützenden Belange neu stellen müsse, ist nicht vorzunehmen. Die mit einer Nachtragsbaugenehmigung einhergehenden Beschränkungen der bauaufsichtlichen Prüfung sind vielmehr nur gerechtfertigt, wenn sich die Genehmigungsfrage insgesamt und nicht bloß in Bezug auf nachbarschützende Belange nicht neu stellt.

bb) Gegen die Feststellung des Verwaltungsgerichts, die Antragstellerin habe ihr Widerspruchsrecht in Bezug auf die Baugenehmigung vom 6. Dezember 2019 nicht verwirkt (BA S. 18 f. = juris Rn. 51), wendet sich die Beigeladene ebenfalls erfolglos. Die angeführte jahrelange Untätigkeit der Antragstellerin hinsichtlich der vorangegangenen Genehmigungen ist angesichts der rechtlichen Selbstständigkeit der Vollgenehmigung vom 6. Dezember 2019 unerheblich; den entsprechenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts tritt der Senat bei. Im Übrigen wiederholt die Beigeladene in einer nicht den Darlegungsanforderungen genügenden Weise ihr erstinstanzliches Vorbringen, ohne sich mit dessen Würdigung durch das Verwaltungsgericht auseinanderzusetzen.

cc) Der von der Antragsgegnerin und der Beigeladenen gegen die Annahme des Rechtsschutzbedürfnisses (BA S. 19; juris Rn. 52 ff.) vorgebrachte Einwand, die Antragstellerin könne ihre Rechtsposition nicht verbessern, weil die beabsichtigte Einzelhandelsnutzung auf dem Vorhabengrundstück bereits durch die bestandskräftige und für bauplanungsrechtliche Fragen wie ein Bauvorbescheid wirkende Baugenehmigung vom 14. Dezember 2016 zugelassen worden sei, überzeugt nicht. Weder die Antragsgegnerin noch die Beigeladene haben eine konkrete, vorbescheidungsfähige Frage formuliert, die durch die Baugenehmigung vom 14. Dezember 2016 beantwortet sein könnte. Dies dürfte auch deshalb schwerfallen, weil die Frage nur bei einem Bauvorbescheidsantrag so formuliert werden kann, dass eine gewisse Variationsbreite hinsichtlich der Ausführung der baulichen Anlage verbleibt. Der Bauvorbescheid nimmt beschränkt auf einzelne Punkte, die einer selbstständigen Beurteilung zugänglich sind, die Baugenehmigung vorweg (abgesplitterter Teil der Baugenehmigung; Burzynska/Mann, in: Große-Suchsdorf, 10. Aufl. 2020, NBauO, § 73 Rn. 11). Da er aber nicht zugleich die Baufreigabe für ein bestimmtes Vorhaben erteilt, ist eine allgemeinere, nicht auf ein ganz bestimmtes Vorhaben bezogene Formulierung zulässig. Demgegenüber enthält die Baugenehmigung keine dem Bauvorbescheid vergleichbare allgemeine Feststellungswirkung zu einzelnen Fragen, sondern verknüpft Feststellungen zu der konkret zur Genehmigung gestellten baulichen Anlage und deren Nutzung mit der Baufreigabe. Deshalb kann keine Rede davon sein, dass eine Baugenehmigung als Minus stets einen Bauvorbescheid enthalte. Dass die Baugenehmigung vom 14. Dezember 2016 bestandskräftig ist, bedeutet zudem nicht, dass sie in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht realisierbar ist. Ob sich die Möglichkeit einer Beeinträchtigung der Antragstellerin nur aus der Art der baulichen Nutzung auf dem Vorhabengrundstück ergeben kann, worauf die Antragsgegnerin abhebt, ist für die Frage des Rechtsschutzbedürfnisses unerheblich. Entscheidend ist, dass der Antragstellerin bei jeder eigenständigen Baugenehmigung für das Vorhabengrundstück grundsätzlich erneut die Möglichkeit eröffnet ist, die Verträglichkeit des genehmigten Vorhabens mit ihrem Störfallbetrieb gerichtlich überprüfen zu lassen.

b) Die Antragsgegnerin und die Beigeladene wenden sich vergeblich gegen die Begründetheit des Eilantrags. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats kommt die Stattgabe eines Nachbareilantrags nach § 80a Abs. 3 i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO erst dann in Betracht, wenn Überwiegendes für die Annahme spricht, der Rechtsbehelf des Nachbarn sei jedenfalls derzeit begründet (Senatsbeschl. v. 29.4.2020 - 1 ME 99/19, BauR 2020, 1278 = juris Rn. 15 m.w.N.). Das ist hier der Fall. Die Baugenehmigung vom 6. Dezember 2019 in der vom Senat zu berücksichtigenden Fassung der Nachtragsbaugenehmigung vom 22. Oktober 2020 verletzt das in § 34 Abs. 1 BauGB enthaltene, die Antragstellerin schützende Gebot der Rücksichtnahme. Bei dem geplanten Verbrauchermarkt nebst Backshop handelt es sich um ein öffentlich genutztes Gebäude (dazu unter aa), das den angemessenen Sicherheitsabstand zum Störfallbetrieb der Antragstellerin nicht wahrt (dazu unter bb) und innerhalb dieses Abstands nicht ausnahmsweise zuzulassen ist (dazu unter cc).

aa) Es bleibt bei der Einschätzung des Verwaltungsgerichts, wonach es sich bei dem von der Beigeladenen geplanten SB-Verbrauchermarkt um ein „öffentlich genutztes Gebäude“ i.S.v. Art. 13 Abs. 2 Buchst. a) Seveso-III-Richtlinie (Richtlinie 2012/18/EU, ABl. L 197 vom 24.07.2012, S. 1 ff.), § 3 Abs. 5d BImSchG handelt, weil dort ein erheblicher Kundenverkehr eröffnet wird (BA S. 23 = juris Rn. 66).

Große Verbrauchermärkte werden in Rechtsprechung und Literatur durchgängig als „öffentlich genutzte Gebäude“ angesehen (BVerwG, Urt. v. 20.12.2012 - 4 C 11.11 -, BVerwGE 145, 290 = juris Rn. 14 - Gartencenter mit 9.368 qm Verkaufsfläche; OVG NRW, Urt. v. 25.11.2020 - 7 A 3893/19 -, juris Rn. 59, insoweit bestätigend VG Köln, Urt. v. 28.8.2019 - 23 K 2083/18 -, juris Rn. 27 - Lebensmittelmarkt mit 799 qm Verkaufsfläche; Jarass, BImSchG, 13. Aufl. 2020, § 50 Rn. 13). Denn Verbrauchermärkte sind dazu bestimmt und geeignet, ohne Einschränkungen von der Öffentlichkeit - einem grundsätzlich unbeschränkten und wechselnden Personenkreis - aufgesucht zu werden, der nicht auf das richtige Verhalten im Alarmierungsfall vorbereitet werden kann (vgl. Hess. VGH, Urt. v. 26.3.2015 - 4 C 1566/12.N - BRS 83 Nr. 56 = juris Rn. 41 - „Drive-In“-Baumarkt; Beschl. v. 22.10.2020 - 4 B 1371/20 -, BauR 2021, 511 = juris Rn. 11).

Der Senat lässt offen, ob ein öffentlich genutztes Gebäude erst dann vorliegt, wenn dieses eine gewisse Kundenfrequenz erreicht, insbesondere zeitgleich von mehr als 100 Besucherinnen und Besuchern genutzt werden kann. Für das Baugenehmigungsverfahren trifft zwar der mit Wirkung vom 30. September 2017 eingeführte und zum 1. Januar 2019 ergänzte § 62 Abs. 1 Satz 4 Hs. 1 Nr. 2 NBauO eine entsprechende Regelung. Ob diese Wertung den Anforderungen der §§ 3 Abs. 5d, 50 Satz 1 BImSchG und Art. 13 Abs. 2 Buchst. a) Seveso-III-Richtlinie entspricht, bedarf hier keiner Entscheidung. Wäre für die Annahme eines öffentlich genutzten Gebäudes eine gewisse Kundenfrequenz erforderlich (so: OVG NRW, Urt. v. 3.9.2009 - 10 D 121/07.NE -, BRS 74 Nr. 6 = juris Rn. 177 f.; Schoen, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Stand: August 2020, § 50 BImSchG Rn. 113; a.A. Hess. VGH, Urt. v. 26.3.2015 - 4 C 1566/12.N -, BRS 83 Nr. 56 = juris Rn. 41; Oerder, Schwertner, Wörheide, BauR 2018, 436 [439]) oder die „Möglichkeit der gleichzeitigen Nutzung durch mehr als 100 Besucherinnen und Besucher“, so wäre sie im vorliegenden Fall gegeben.

Der Lebensmittelmarkt ist großflächig, da allein der Verkaufsraum 1.595 qm umfasst. Damit vermag er problemlos deutlich mehr als 100 Kundinnen und Kunden aufzunehmen. Die von der Antragsgegnerin und der Beigeladenen auf Basis von Erfahrungswerten der Firma Rewe angestellten Berechnungen veranschlagen die durchschnittliche Anzahl der zeitgleich im Lebensmittelmarkt und Backshop anwesenden Besucherinnen und Besucher zwar nur auf knapp 35. Die Berechnungen sind jedoch schon deshalb untauglich, weil es nicht auf die durchschnittliche Besucherzahl ankommt, sondern auf die potenzielle. Die Nutzungsmöglichkeit für mehr als 100 Kundinnen und Kunden besteht zur Überzeugung des Senats offenkundig und gerade in Stoßzeiten, die in den vorgenannten Berechnungen ebenso wenig gesondert berücksichtigt werden wie die Anzahl der 91 Einstellplätze, deren Errichtung nur dann nachvollziehbar ist, wenn jedenfalls zu Spitzenzeiten mit einem entsprechenden Bedarf zu rechnen ist. Hinzu kommt die Laufkundschaft aufgrund der innenstadtnahen Lage.

bb) Die tragende auf Grundlage des Gutachtens des TÜV Nord vom März 2018 getroffene Feststellung des Verwaltungsgerichts, der angemessene Sicherheitsabstand i.S.v. Art. 13 Abs. 2 Buchst. a) Seveso-III-Richtlinie und § 3 Abs. 5c BImSchG zwischen dem Störfallbetrieb der Antragstellerin und dem Vorhaben der Beigeladenen sei nicht eingehalten (BA S. 23 Mitte - S. 24 drittletzter Absatz = juris Rn. 68-70), wird von den Beteiligten nicht in Zweifel gezogen, auch nicht im Hinblick auf die von der Beigeladenen mit ihrer Beschwerdebegründung vorgelegte Stellungnahme des TÜV Nord vom 22. Oktober 2020, die selbst keine Aussagen zum angemessenen Sicherheitsabstand enthält, und die unter dem 22. Oktober 2020 erteilte Nachtragsbaugenehmigung.

Nur ergänzend und außerhalb des durch § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO gezogenen Prüfungsrahmens merkt der Senat daher an, dass zu den störfallspezifischen Faktoren, anhand derer der angemessene Abstand ermittelt werden muss, nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der der Senat folgt, auch vorhabenseitige Faktoren gehören. Solche störfallspezifischen vorhabenseitigen Faktoren sind beispielsweise die Art der Tätigkeit der neuen Ansiedlung, die Intensität ihrer öffentlichen Nutzung, die Leichtigkeit, mit der Notfallkräfte bei einem Unfall eingreifen können, die Verschlimmerung von Unfallfolgen durch einen vorhabenbedingten Anstieg der möglicherweise betroffenen Personen (EuGH, Urt. v. 15.9.2011 - C-53/10 -, Slg 2011, I-8311 = juris Rn. 43 f.), Nutzungseinschränkungen sowie bauliche Anforderungen an das Vorhaben, das an den Störfallbetrieb heranrückt. Dabei ist die Abschätzung der im Einzelfall relevanten störfallspezifischen Faktoren in aller Regel nicht ohne eine Heranziehung technisch-fachlichen Sachverstands möglich (zum Vorstehenden insgesamt: BVerwG, Urt. v. 20.12.2012 - 4 C 11.11 -, BVerwGE 145, 290 = juris Rn. 17 f.; s.a. Oerder/Schwertner/Wörheide, BauR 2018, 436 [444 f.] m.w.N., auch zur a.A.).

Der TÜV Nord hat in seinem Gutachten vom März 2018 in Anlehnung an den Leitfaden KAS-18 und die Arbeitshilfe KAS-32 hingegen nur anlagenseitige, nicht vorhabenseitige störfallspezifischen Faktoren berücksichtigt. Zugleich hat er darauf hingewiesen (S. 10 des Gutachtens), dass die Ermittlung des angemessenen Abstands eines konkreten Vorhabens in einem nachgelagerten Schritt unter Berücksichtigung der vorhabenseitigen störfallspezifischen Faktoren vorzunehmen sei. Demzufolge ist das Gutachten allein keine taugliche Grundlage zur Abstandsbemessung. Ob eine Berücksichtigung auch der vorhabenseitigen Faktoren angesichts des Abstands von nur 370 m zu einer anderen Betrachtung führen kann, ist jedoch allenfalls offen; gegebenenfalls bedürfte diese Frage der weiteren Aufklärung im Hauptsacheverfahren.

cc) Das Vorhaben der Beigeladenen ist innerhalb des störfallspezifisch ermittelten angemessenen Sicherheitsabstands nicht ausnahmsweise zulässig, denn es streiten keine hinreichend gewichtigen „sozio-ökonomischen“ (nicht störfallspezifischen) Belange der Beigeladenen für seine Zulassung.

aaa) Für die nachvollziehende Abwägung gelten folgende Maßstäbe:

Zwar wird mit jedem Vorhaben, das den angemessenen Abstand unterschreitet, der störfallrechtlich unerwünschte Zustand in der Regel weiter verfestigt. Gleichwohl zwingt Art. 13 Abs. 2 Buchst. a) Seveso-III-Richtlinie nicht dazu, Neuansiedlungen in der Nachbarschaft eines Störfallbetriebs ausnahmslos abzulehnen und das Abstandskriterium damit zum alleinigen Genehmigungskriterium zu machen. Das Abstandskriterium ist grundsätzlich nicht im Sinne eines Verschlechterungsverbots zu verstehen. Eine Unterschreitung des störfallspezifisch ermittelten angemessenen Abstandes ist vielmehr ausnahmsweise zulässig, wenn im Einzelfall hinreichend gewichtige nicht störfallspezifische Belange - insbesondere solche sozialer, ökologischer und wirtschaftlicher Art („sozioökonomische Faktoren“) - für die Zulassung des Vorhabens streiten (BVerwG, Urt. v. 20.12.2012 - 4 C 11.11 -, BVerwGE 145, 290 = juris Rn. 22; Hess. VGH, Urt. v. 11.3.2015 - 4 A 654/13 -, ZUR 2015, 485 = juris Rn. 63; noch zur Vorgängervorschrift). Ist diese Prüfung nicht im Rahmen der Bauleitplanung vorgenommen worden, fällt sie im Genehmigungsverfahren an und erfordert eine „nachvollziehende“ Abwägung, verstanden als ein Vorgang der Rechtsanwendung, der eine auf den Einzelfall ausgerichtete Gewichtsbestimmung verlangt. Sie ist nicht planerische Abwägung, sondern unterliegt als sog. sachgeleitete Wertung der vollen gerichtlichen Kontrolle. Unterbleibt die im Vorhabenzulassungsverfahren erforderliche Abwägung, hat das Gericht die erforderlichen Ermittlungen und Bewertungen selbst vorzunehmen (BVerwG, Urt. v. 20.12.2012 - 4 C 11.11 -, BVerwGE 145, 290 = juris Rn. 23, 25, 26, 38 f.).

Da dem Erfordernis der Wahrung eines angemessenen Abstands gemäß Art. 13 Abs. 2 Buchst. a) Seveso-III-Richtlinie langfristig Rechnung zu tragen ist, sollen Abstände dort, wo sie bereits eingehalten werden, gewahrt bleiben, und für die Zukunft als langfristiges Ziel aufgestellt werden, wenn sie noch nicht umgesetzt wurden. Liegt ein Neuansiedlungsvorhaben innerhalb des angemessenen Abstands, ist deshalb wie folgt zu differenzieren: Die erstmalige Schaffung einer Gemengelage ist im Regelfall unzulässig. Ist der angemessene Abstand demgegenüber schon bisher nicht eingehalten, greift der Wertungsspielraum der Genehmigungsbehörden (BVerwG, Urt. v. 20.12.2012 - 4 C 11.11 -, BVerwGE 145, 290 = juris Rn. 24).

Die nach Art. 13 Abs. 2 Buchst. a) Seveso-III-Richtlinie zu berücksichtigenden sozioökonomischen Faktoren müssen sich innerhalb des Rahmens der im Rücksichtnahmegebot abgebildeten gegenseitigen Interessenbeziehung zwischen Rücksichtnahmebegünstigten und Rücksichtnahmeverpflichteten bewegen. Denn nur insoweit ist das nationale Recht über das in § 34 Abs. 1 BauGB enthaltene Gebot der Rücksichtnahme einer richtlinienkonformen Auslegung zugänglich. Von vornherein überschritten sind die Leistungsgrenzen des Rücksichtnahmegebots, wenn nicht individuelle, sondern städtebauliche Gründe für eine Zulassung eines Vorhabens in der Gefahrenzone eines Störfallbetriebs streiten, oder wenn Alternativstandorte für die Verwirklichung des Vorhabens in Frage stehen. Entsprechendes gilt, wenn ein Neuansiedlungsvorhaben städtebauliche Spannungen bewirkt, die im Wege einer nachvollziehenden Abwägung nicht beseitigt werden können, sondern einer planerischen Bewältigung bedürfen, oder wenn eine rechtsfehlerfreie Konfliktbewältigung auf das Festsetzungsinstrumentarium der Bauleitplanung angewiesen ist. In all diesen Fällen ist eine Zulassung des Vorhabens auf der Grundlage des § 34 Abs. 1 BauGB abzulehnen, weil es einen Koordinierungsbedarf auslöst, dem nicht das Konditionalprogramm des Rechts der Vorhabenzulassung, sondern nur eine förmliche Planung Rechnung zu tragen vermag (BVerwG, Urt. v. 20.12.2012 - 4 C 11.11 -, BVerwGE 145, 290 = juris Rn. 35). Bei der nachvollziehenden Abwägung sind deshalb gleichsam (nur) bipolar die für die Ansiedlung des Vorhabens sprechenden sozioökonomischen Belange des Bauherrn dem in der Seveso-III-Richtlinie zum Ausdruck kommenden Interesse gegenüberzustellen, die Folgen eines „schweren Unfalls“ durch Einhaltung der angemessenen Abstände zu begrenzen (vgl. Hess. VGH, Urt. v. 11.3.2015 - 4 A 654/13 -, ZUR 2015, 485 = juris Rn. 66).

Für die nachvollziehende Abwägung geht der Senat im Eilverfahren davon aus, dass in diese einerseits die sozioökonomischen Faktoren und andererseits das Abstandsgebot selbst einzustellen sind (s.a. BVerwG, Urt. v. 20.12.2012 - 4 C 11.11 -, BVerwGE 145, 290 = juris Rn. 39 „dem Abstandserfordernis gegenüberstehen“). Dabei dürfen vorhabenseitige Belange, die bereits für die Ermittlung des angemessenen Sicherheitsabstands relevant sind, nicht nochmals im Rahmen der nachvollziehenden Abwägung berücksichtigt werden (so aber bspw. OVG NRW, Urt. v. 25.11.2020 - 7 A 3893/19 -, juris Rn. 76 f. in Anlehnung an die Arbeitshilfe der Fachkommission Städtebau der Bauministerkonferenz, Berücksichtigung des neuen nationalen Störfallrechts zur Umsetzung des Art. 13 Seveso-III-Richtlinie im baurechtlichen Genehmigungsverfahren in der Umgebung von Störfallbetrieben, beschlossen am 18. April 2018, S. 12; Hess. VGH, Urt. v. 11.3.2015 - 4 A 654/13 -, ZUR 2015, 485 = juris Rn. 67 f. und v. 26.3.2015 - 4 C 1566/12.N -, juris Rn. 41; VG Karlsruhe, Urt. v. 22.11.2020 - 2 K 194/19 -, juris Rn. 57). Denn das Bundesverwaltungsgericht verlangt bei der Vorhabenzulassung eine gestufte Prüfung: In einem ersten Schritt muss ermittelt werden, welcher Abstand angemessen ist und ob das Neuansiedlungsvorhaben innerhalb dieser Abstandsgrenzen liegt. Dabei sind ausschließlich störfallspezifische, also störfallanlagen- und vorhabenseitige Belange zu berücksichtigen. Ist der angemessene Abstand nicht eingehalten, muss in einem zweiten Schritt bewertet werden, ob ein Unterschreiten des angemessenen Abstands im Einzelfall ausnahmsweise aufgrund von nicht-störfallspezifischen, sozioökonomischen Belangen vertretbar ist (BVerwG, Urt. v. 20.12.2012 - 4 C 11.11 -, BVerwGE 145, 290 = juris Rn. 15, 19). Störfallspezifische Belange prägen mithin den erforderlichen Abstand und betreffen den Regelfall; sozioökonomische Belange ermöglichen eine Ergebniskorrektur in Ausnahmefällen. Würde man die einzelnen störfallspezifischen Belange nochmals im Rahmen der Abwägung berücksichtigen, wäre die Sinnhaftigkeit dieser zweistufigen Prüfung und der im ersten Schritt ermittelte angemessene Abstand in Frage gestellt. Einzelne störfallspezifische Belange dürfen daher nicht bei der nachvollziehenden Abwägung gleichsam nochmals gewichtet werden.

bbb) Die nachvollziehende Abwägung des Senats führt dazu, dass das Vorhaben der Beigeladenen innerhalb des störfallspezifisch ermittelten angemessenen Abstands nicht ausnahmsweise zulässig ist. Denn es streiten keine hinreichend gewichtigen sozioökonomischen, d.h. wirtschaftlichen, Belange der Beigeladenen für die Vorhabenzulassung.

(1) Da in der Kernstadt der Antragsgegnerin schutzbedürftige Objekte nahe am Störfallbetrieb der Antragstellerin liegen, besteht eine Gemengelage, in der der angemessene Abstand schon bisher nicht eingehalten ist. Der Wertungsspielraum ist daher eröffnet.

(2) Gegen die Genehmigungsfähigkeit des in Rede stehenden Vorhabens ist das in Art. 13 Abs. 2 Buchst. a) Seveso-III-Richtlinie zum Ausdruck kommende Interesse, den angemessenen Abstand freizuhalten, um die Folgen eines „schweren Unfalls“ zu begrenzen, in die Abwägung einzustellen. Der angemessene Sicherheitsabstand soll von öffentlich genutzten Gebäuden regelmäßig frei bleiben. Bei der Gewichtung dieses Interesses ist das Ausmaß der Unterschreitung des (anhand der störfallspezifischen Faktoren ermittelten) angemessenen Abstands zu berücksichtigen. Vorliegend wiegt das Interesse an der Wahrung des Abstands schwer, da das geplante Vorhaben den vom Senat zugrunde zu legenden angemessenen Sicherheitsabstand erheblich, etwa um die Hälfte, unterschreitet. Nach einer Verwirklichung des Vorhabens der Beigeladenen wäre bei einem Störfall ein weiteres Gebäude nebst Freiflächen von möglichen Auswirkungen betroffen. Der störfallrechtlich unerwünschte Zustand wird dadurch weiter verfestigt.

(3) Die vorgetragenen städtebaulichen Gründe (Stärkung eines städtebaulich integrierten Einzelhandelsstandortes, Erhalt der zentralörtlichen Funktion der Kernstadt als Mittelzentrum durch Möglichkeit der Fortentwicklung der Einzelhandelsnutzungen in der Innenstadt, kein im Einklang mit dem Einzelhandelskonzept stehender Alternativstandort) sind im Vorhabenzulassungsverfahren nicht abwägungsrelevant.

(4) Anders als die Antragsgegnerin ist der Senat nicht der Auffassung, dass in die nachvollziehende Abwägung eine Vorbelastung durch andere schutzbedürftige Objekte außerhalb des Vorhabengrundstücks in der Nähe des Störfallbetriebs einzustellen ist.

Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der der Senat folgt, darf eine bestehende Vorbelastung nicht dazu führen, die durch eine Neuansiedlung im Fall eines Störfalls zusätzlich exponierten Menschen auszublenden. Eine bestehende Vorbelastung ist im Störfallrecht Voraussetzung des Wertungsspielraums, den Art. 13 Abs. 2 Buchst. a) Seveso-III-Richtlinie eröffnet (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.12.2012 - 4 C 11.11 -, BVerwGE 145, 290 = juris Rn. 11-13, 34) und damit Voraussetzung der nachvollziehenden Abwägung. Sie kann bei diesem individualschützenden Ansatz des Störfallrechts nicht nochmals im Rahmen der Abwägung selbst berücksichtigt werden, um eine ausnahmsweise Vorhabenzulassung zu rechtfertigen (so auch die Arbeitshilfe der Fachkommission Städtebau, S. 11 unten).

(5) Das schützenswerte Interesse der Beigeladenen an der angemessenen Nutzung ihres Grundeigentums ist nicht so hoch zu gewichten, dass es den Ausschlag für die Zulassung des Vorhabens innerhalb des gegenüber dem Störfallbetrieb der Antragstellerin grundsätzlich zu wahrenden angemessenen Abstands gibt.

Das wirtschaftliche Interesse der Beigeladenen an einer Realisierung des Vorhabens ist ausweislich der in erster Instanz vorgetragenen Investitionskosten (BA S. 27 = juris Rn. 81) erheblich. Allerdings kann das „einfache“ Interesse des Bauherrn an einer wirtschaftlich möglichst sinnvollen Nutzung des betreffenden Grundstücks aufgrund der Art. 13 Abs. 2 Buchst. a) Seveso-III-Richtlinie zugrundeliegenden Wertung regelmäßig nicht geeignet sein, die nachvollziehende Abwägung zu seinen Gunsten ausfallen zu lassen (vgl. Uechtritz, NVwZ 2013, 724 [725] [BVerwG 20.12.2012 - BVerwG 4 C 11.11]; VG Karlsruhe, Urt. v. 22.1.2020 - 2 K 194/19 -, juris Rn. 55).

Ein Überwiegen der Interessen des Bauherrn wird von einigen Stimmen ausnahmsweise dann angenommen, wenn sich die angestrebte Nutzung „aufdrängt“, etwa im Fall der Erweiterung eines bereits bestehenden Betriebs oder wenn alternative wirtschaftlich sinnvolle Nutzungsmöglichkeiten des Grundstücks ausscheiden (Uechtritz, NVwZ 2013, 724 [725] [BVerwG 20.12.2012 - BVerwG 4 C 11.11]; dem folgend: Arbeitshilfe der Fachkommission Städtebau, S. 12; VG Karlsruhe, Urt. v. 22.1.2020 - 2 K 194/19 -, juris Rn. 55; OVG NRW, Urt. v. 25.11.2020 - 7 A 3893/19 -, juris Rn. 76). Letzteres hat weder die Antragsgegnerin noch die Beigeladene substantiiert dargelegt.

Der vorliegende Fall ist durch die Besonderheit gekennzeichnet, dass das Vorhaben einen Ersatzbau für ein abgebrochenes Gebäude an einem etablierten Einzelhandels- und Dienstleistungsstandort darstellt. Der aufgrund der Vorprägung des Grundstücks durch Einzelhandel einheitlich zu verstehende Lebenssachverhalt rechtfertigt eine verstärkte Gewichtung des wirtschaftlichen Interessens der Beigeladenen an Ausnutzung ihres Eigentums durch Realisierung des Vorhabens.

Rechtlich knüpft dieses Argument entgegen der Auffassung der Beigeladenen nicht an den Bestandsschutz an, weil ein durch eine Baugenehmigung ursprünglich vermittelter formeller Bestandsschutz jedenfalls mit vollständiger Beseitigung der Bausubstanz durch Abbruch des Gebäudes erloschen ist (vgl. BVerwG, Urt. vom 31.10.1990 - 4 C 45.88 -, BRS 50 Nr. 86 = juris Rn. 22; OVG NRW, Urt. v. 6.2.2015 - 2 A 1394/13 -, BRS 83 Nr. 97 = juris Rn. 53 f.). Es lässt sich jedoch - wie die Antragsgegnerin ausführt - an den Aspekt der nachprägenden Wirkung für die nähere Umgebung, in die sich das Vorhaben nach § 34 Abs. 1 BauGB einfügen muss, anbinden. Eine fortwirkende Berücksichtigungsfähigkeit von Altbestand ist im Rahmen des § 34 Abs. 1 BauGB unter der Voraussetzung anerkannt, dass nach der Verkehrsauffassung mit einer Wiederbebauung oder mit der Wiederaufnahme einer gleichartigen Nutzung zu rechnen ist, etwa, indem über die Genehmigung einer Neubebauung oder einer neuen Nutzung ein Verwaltungsverfahren anhängig ist (BVerwG, Beschl. v. 16.6.2009 - 4 B 50.08 -, juris Rn. 9 m.w.N.; s.a. OVG NRW, Urt. v. 6.2.2015 - 2 A 1394/13 -, juris Rn. 87 f.). Zusätzliche Voraussetzung für die Annahme einer nachprägenden Wirkung im Störfallrecht ist, dass der Altbestand legal errichtet und genutzt wurde (vgl. BVerwG, Beschl. v. 28.3.2013 - 4 B 15.12 -, BRS 81 Nr. 122 = juris Rn. 13; OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 15.12.2011 - 2 A 2645/08 -, BRS 78 Nr. 181 = juris Rn. 146). Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Der Mitte Juli 2017 abgebrochene Altbestand war rechtmäßig errichtet und langjährig genutzt worden. Zum maßgeblichen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 23.4.1998 - 4 B 40.98 -, BRS 60 Nr. 178 = juris Rn. 3) Zeitpunkt der Erteilung der Änderungsgenehmigung vom 6. Dezember 2019 war aufgrund des gestellten Bauantrags mit einer Wiederbebauung des Vorhabengrundstücks zu rechnen.

Das aus vorstehenden Gründen erhöhte wirtschaftliche Interesse der Beigeladenen ist jedoch nicht so schwer zu gewichten, dass es das Interesse an der Einhaltung des Abstandsgebots überwiegt. Als einen entscheidenden Aspekt für die Gewichtung der widerstreitenden Interessen sieht der Senat neben dem Ausmaß der Unterschreitung des angemessenen Abstands (s.o. unter (2)) die durch das Vorhaben eintretende Risikoveränderung gegenüber der bisherigen Situation an (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.12.2012 - 4 C 11.11 -, BVerwGE 145, 290 = juris Rn. 13: „welche Risiken“; s.a. EuGH, Urt. v. 15.9.2011 - C-53/10 -, Slg 2011, I-8311 = juris Rn. 43 und Arbeitshilfe der Fachkommission Städtebau, S. 13).

Vorliegend handelt es sich nicht um den Fall einer jahrelangen durchgehenden Nutzung eines Lebensmittelmarktes, der nunmehr geringfügig erweitert werden soll und dadurch eine geringe Risikoerhöhung mit sich bringt (dazu: OVG NRW, Urt. v. 25.11.2020 - 7 A 3893/19 -, juris Rn. 77) und auch nicht um einen Fall der Risikoverringerung. Es muss berücksichtigt werden, dass die Bebauung auf dem Vorhabengrundstück zum Zeitpunkt der Erteilung der Baugenehmigung vom 6. Dezember 2019 mindestens weitgehend abgebrochen war. Diese Beseitigung der nicht mehr standsicheren und - jedenfalls soweit es den Lebensmittelmarkt betrifft - seit langem leerstehenden Bestandsbebauung stellt störfallrechtlich einen erstrebenswerten Zustand dar, denn dem Erfordernis angemessener Sicherheitsabstände ist gemäß Art. 13 Abs. 2 Buchst. a) Seveso-III-Richtlinie „langfristig“ Rechnung zu tragen (vgl. VG Karlsruhe, Urteil vom 22.1.2020 - 2 K 194/19 -, juris Rn. 63). Zudem kann das Vertrauen der Beigeladenen auf den Fortbestand der Baugenehmigung vom 14. Dezember 2016 nicht besonders hoch gewichtet werden. Denn seit dem Abriss der früheren Altgebäude im Jahr 1996 war - wenn auch nicht in allen Einzelheiten - stadtbekannt, dass der Baugrund auf dem Vorhabengrundstück schwierig ist. Die Problematik aktualisierte sich durch die im späteren Lebensmittelmarkt aufgetretenen Setzrisse. Nachdem sich - wohl in der ersten Hälfte des Jahres 2019 - herausgestellt hatte, dass ein wesentlicher Teil des am 14. Dezember 2016 genehmigten Gebäudes auf einer Erdfallstelle liegen würde, war diese Genehmigung mangels Standsicherheit nicht mehr vollziehbar, wenn nicht sogar rechtswidrig und aufhebbar (§§ 48, 49 VwVfG) oder durch Erledigung auf andere Weise unwirksam geworden (§ 43 Abs. 2 VwVfG). Daraus folgt, dass für die Frage einer durch das Vorhaben gegenüber der Bestandsituation eintretenden Risikoveränderung nicht lediglich ein Vergleich mit der Genehmigungssituation vom 16. Juli 1996 oder 14. Dezember 2016 angestellt werden darf, sondern berücksichtigt werden muss, dass das Vorhabengrundstück unmittelbar vor Erteilung der Genehmigung vom 6. Dezember 2019 tatsächlich nicht bebaut und rechtlich aufgrund der damaligen Genehmigungslage nicht bebaubar war. Damit führte das Vorhaben zum Betrachtungszeitpunkt 6. Dezember 2019, anders als die Antragsgegnerin meint, nicht zu einer Risikoverringerung, sondern einer beträchtlichen Risikoerhöhung gegenüber der vorherigen Situation.

Aufgrund dieser Risikoerhöhung und des deutlichen Unterschreitens des angemessenen Abstands kann dem wirtschaftlichen Interesse der Beigeladenen kein so hohes Gewicht beigemessen werden, dass es das Interesse an der Einhaltung des Abstandsgebots überwiegt. Für die Frage der Risikoveränderung irrelevant sind die Nebenbestimmungen der Nachtragsgenehmigung vom 22. Oktober 2020, da diese nur in die Ermittlung des angemessenen Abstands eingehen können.

dd) Nach alldem ist das Vorhaben der Beigeladenen nach § 34 Abs. 1 BauGB nicht genehmigungsfähig, weil es gegen das die Antragstellerin schützende Gebot der Rücksichtnahme verstößt. Sie ist durch die Baugenehmigung vom 6. Dezember 2019 in der Fassung der Nachtragsgenehmigung vom 22. Oktober 2020 in ihren subjektiven Rechten verletzt. Das Vorhaben ist nicht mit dem in § 34 Abs. 1 BauGB enthaltenen Gebot der Rücksichtnahme in der durch Art. 13 Abs. 2 Buchst. a) Seveso-III-Richtlinie gebotenen richtlinienkonformen Handhabung vereinbar, weil es den - nach dem Stand des Verfahrens vom Senat zugrunde zu legenden - angemessenen Abstand nicht einhält und eine Abstandsunterschreitung nicht vertretbar ist. Das Abstandserfordernis dient nicht nur dem Schutz der das Vorhaben besuchenden Öffentlichkeit, sondern auch dem Recht der Antragstellerin auf Erhaltung ihres Betriebs und ihrem Interesse auf betriebliche Entwicklung (BVerwG, Beschl. v. 3.12.2009 - 4 C 5.09 -, BRS 74 Nr. 32 = juris Rn. 22 und v. 28.3.2013 - 4 B 15.12 -, juris Rn. 5). Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Gebot, angemessene Abstände zu wahren, nicht nur in den Fällen des Heranrückens einer schutzbedürftigen Nutzung an den Störfallbetrieb gilt, sondern auch in den Fällen, in denen immissionsschutzrechtlich genehmigungspflichtige Maßnahmen innerhalb eines Störfallbetriebes durchgeführt werden (Hess. VGH, Urt. v. 11.3.2015 - 4 A 654/13 -, ZUR 2015, 485 = juris Rn. 74).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO sowie §§ 162 Abs. 3, 154 Abs. 3, 159 Satz 1 VwGO, 100 Abs. 1 ZPO.

Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1, 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, 47 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 GKG. Es geht um die Beeinträchtigung des Betriebs der Antragstellerin durch zwei eigenständige Baugenehmigungen; dass beide Genehmigungen nicht gleichzeitig ausnutzbar sind, ist nach ständiger Senatsrechtsprechung (vgl. Senatsbeschl. v. 30.10.2020 - 1 OA 141/20 -, juris Rn. 3) unerheblich. Den Wert der Beeinträchtigung veranschlagt der Senat für das Hauptsacheverfahren im mittleren Bereich mit 40.000,- EUR je Genehmigung (vgl. Nr. 8 d) der Streitwertannahmen des Senats, NdsVBl. 2002, 192 = NordÖR 2002,197; abrufbar auch unter https://oberverwaltungsgericht.niedersachsen.de/service/streitwertkatalog/-79572.html). Bei zwei Genehmigungen ergibt dies 80.000,- EUR; dieser Betrag ist für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auf 40.000,- EUR zu halbieren.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).