Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 04.03.2015, Az.: 1 LA 177/14

Baugrenze; Nachbarschutz; Vereinigungsbaulast

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
04.03.2015
Aktenzeichen
1 LA 177/14
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2015, 44951
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 13.11.2014 - AZ: 2 A 211/13

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Eine Vereinigungsbaulast muss und kann nicht auf bestimmte Bauvorhaben auf dem vereinigten Baugrundstück beschränkt werden.

Zum nachbarschützenden Charakter von Baugrenzen (hier verneint).

Tenor:

Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Lüneburg - 2. Kammer (Einzelrichterin) - vom 13. November 2014 wird abgelehnt.

Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind erstattungsfähig.

Der Wert des Streitgegenstandes für das Beschwerdeverfahren wird auf 7.500 EUR festgesetzt.

Gründe

Die Kläger begehren ein bauaufsichtliches Einschreiten gegen eine grenzständig von den Beigeladenen auf dem Nachbargrundstück errichtete Terrassenüberdachung.

Die Kläger sind Eigentümer des Wohnhauses G. -Str. 17, die Beigeladenen des Nachbarhauses G. -Str. 15 in der Gemeinde Neu Wulmstorf. Beide sind Teil einer 1990 errichteten Reihenhausanlage. Die Häuser stehen auf 4,5 m breiten Grundstücken und sind von Norden her über einen Stichweg erschlossen. Südlich der Häuserreihe schließen sich bis zur G. -Straße die Hausgärten an. Die Reihenhausanlage liegt im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 20 „Bahnhofsstraße Ost“ der Gemeinde Neu Wulmstorf. Dieser setzt in der für den Bau maßgeblichen Fassung der am 3.9.1987 als Satzung beschlossenen 3. Änderung für den fraglichen Bereich eine offene Bauweise sowie Baugrenzen fest; die Häuser der Kläger und der Beigeladenen sind mit ihren südlichen Außenwänden auf diesen Baugrenzen errichtet. Zur Errichtung der Anlage wurden die weitläufigen, damals im Eigentum des Bauträgers stehenden Grundstücke Flurstücksnrn. H., I., und J. der Flur 6, Gemarkung Neu Wulmstorf durch Vereinigungsbaulast vom 31.10.1989 zu einem Baugrundstück zusammengeführt. Mit Bescheiden vom 18.12.1989 und 25.5.1990 erteilte der Beklagte die Baugenehmigung. Offenbar im Sommer 1990 erfolgte die Aufteilung der o.g. Buchgrundstücke in kleinere, je ein Reihenhaus mit Garten umfassende Parzellen (für die Kläger Flurstück K., für die Beigeladenen Flurstück L.). Die Vereinigungsbaulast wurde geändert und lautet in ihrer Fassung vom 10.10.1990:

„Der jeweilige Eigentümer erklärt, daß die Grundstücke, Flurstücke M. -N., O. -P., Flur 6, Gemarkung Neu Wulmstorf, die aneinandergrenzen und im Lageplan kenntlich gemacht sind, im Sinne des öffentlichen Baurechts ein Grundstück bilden. Er verpflichtet sich zu einem entsprechenden Tun, Dulden oder Unterlassen für sein jeweiliges Grundstück, um zu gewährleisten, daß alle baulichen Anlagen auf den Grundstücken das öffentliche Baurecht so einhalten, als wären die Grundstücke ein Grundstück.“

Im April 2013 errichteten die Beigeladenen südlich ihres Hauses eine ca. 2,9 m tiefe, seitlich überwiegend mit Milchglas, oben mit Klarglas geschlossene Terrassenüberdachung auf ganzer Breite ihres Grundstücks. Nachdem der Beklagte ein bauaufsichtliches Einschreiten hiergegen abgelehnt hatte, haben die Kläger am 30.7.2013 Klage mit dem Ziel erhoben, den Beklagten zu verpflichten, einen Rückbau anzuordnen.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, die Überdachung verletze keine Nachbarrechte der Kläger. Grenzabstände nach § 5 NBauO 2012 seien nicht einzuhalten, da die Grundstücke der Kläger und der Beigeladenen infolge der o.g. Vereinigungsbaulast als ein Baugrundstück zu behandeln seien. Grenzabstände auf demselben Baugrundstück seien durch § 7 NBauO 2012 geregelt, der aber nicht nachbarschützend sei. Auf eine etwaige Überschreitung der südlichen Baugrenze des Bebauungsplans könnten sich die Kläger ebenfalls nicht berufen. Eine derartige Festsetzung sei regelmäßig nicht nachbarschützend. Umstände, die hier etwas anderes rechtfertigten, seien nicht ersichtlich. Ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme liege nicht vor, die Anlage entfalte auch keine erdrückende Wirkung.

Der gegen das Urteil gerichtete, auf die Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel, besonderen rechtlichen Schwierigkeiten und grundsätzlichen Bedeutung gestützte Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.

1. Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Derartige Zweifel sind dann dargelegt, wenn es dem Antragsteller gelingt, zumindest eine tragende Tatsachenfeststellung oder einen erheblichen Rechtssatz der Vorinstanz mit plausiblen Gegenargumenten derart in Frage zu stellen, dass sich hierdurch am Ergebnis der Entscheidung etwas ändern würde. Das ist den Klägern nicht gelungen.

Die Auffassung der Kläger, eine Vereinigungsbaulast könne nur von der Einhaltung von Grenzabständen für eine in der Baulast genau bestimmte Bebauung befreien, geht fehl. Der Inhalt einer Vereinigungsbaulast ist in § 2 Abs. 12 Satz 2 NBauO 2012, § 4 Abs. 1 Satz 2 NBauO a.F. eindeutig geregelt; danach ist, sollen die Rechtsfolgen dieser Norm greifen, durch die Baulast zu sichern, dass alle baulichen Anlagen auf den durch die Vereinigungsbaulast zusammengeführten Grundstücken das öffentliche Baurecht so einhalten, als wären die Grundstücke ein Grundstück. Eine Beschränkung auf bestimmte bauliche Anlagen ist mithin - anders als bei der im Senatsurteil vom 22.9.2001 - 1 LB 1137/01 - BRS 64 Nr. 130 = juris Rn. 22 ff. behandelten Baulast nach § 5 Abs. 5 Satz 2 NBauO 2012 bzw. § 8 Abs. 2 Satz 1 NBauO a.F., die sich schon ihrem Inhalt nach stets auf ein bestimmtes Vorhaben bezieht - nicht vorgesehen und auch nicht möglich (Senat, Urt. v. 26.9.1991 - 1 L 74/91 u.a. -, juris Rn. 72; Beschl. v. 1.8.1996 - 1 M 3898/96 -, NVwZ-RR 1998, 12 = juris Rn. 8). Mit der Bestellung einer Vereinigungsbaulast verlassen die Nachbarn (von den im Gesetz geregelten Ausnahmen wie § 4 Abs. 2 Satz 2 NBauO 2012 abgesehen) in gleicher Weise umfassend das wechselseitige Schutzregime des Bauordnungsrechts, als würden sie ihre Grundstücke zivilrechtlich zu einem Buchgrundstück vereinigen (vgl. a. Senatsurteil v. 27.1.1999
- 1 L 5277/96 -, BauR 2000, 376 = BRS 62 Nr. 147). Zweifel über die Reichweite der Baulast können mithin nicht auftreten.

Die auf S. 3 unten/4 oben des Zulassungsantrags sinngemäß vertretene Auffassung der Kläger, die Vereinigungsbaulast entbinde die Bauherren auf den von der Baulast erfassten Grundstücken nicht von der Pflicht, die nicht durch die Baulast überwundenen Vorschriften des öffentlichen Baurechts wie planungsrechtliche Baugrenzen einzuhalten, ist zwar zutreffend (vgl. z.B. BVerwG, Urteil v. 7.12.2000 - 4 C 3.00 -, DVBl. 2001, 645 = NVwZ 2001, 813 = BRS 63 Nr. 160). Ein Drittschutz dieser Pflicht folgt daraus jedoch nicht. Dass mit der Baulast der Baulastbegünstigte dem Baulastbelasteten - quasi im Gegenzug gegen die von diesem eingeräumte Rechtsstellung - ein klagbares Recht einräume, auch auf Einhaltung der baurechtlichen Vorschriften zu pochen, die sonst nicht nachbarschützend wären - das wären z.B. auch die Grenzabstände, die an den Außengrenzen des vereinigten Grundstücks gegenüber Dritten einzuhalten wären, oder Regelungen zu Toiletten und Bädern -, bleibt bloße Behauptung der Kläger, die mit dem vagen Hinweis auf ein „Austauschverhältnis“ nicht hinreichend zu begründen ist.

Die umfangreichen Ausführungen der Kläger zu einem angeblich falschen Verständnis des Verwaltungsgerichts von § 5 NBauO 2012 gehen schon deshalb fehl, weil diese Norm - wie das Verwaltungsgericht richtig gesehen hat - auf die Grenze zwischen dem Kläger- und dem Beigeladenengrundstück insgesamt nicht anwendbar ist. § 5 betrifft seinem eindeutigen Wortlaut nach die „Grenzen des Baugrundstücks“. Rechtsfolge der hier bestellten Vereinigungsbaulast ist nach dem ebenfalls eindeutigen Wortlaut des § 2 Abs. 12 NBauO 2012 aber gerade, dass Kläger- und Beigeladenengrundstück ein einheitliches Baugrundstück bilden, also keine gemeinsame Grenze i.S.d. § 5 NBauO haben. § 5 NBauO grenzt nur die Nutzbarkeit (noch) selbständiger Grundfläche voneinander ab.

Die Rüge der Kläger, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht angenommen, durch die Unanwendbarkeit des § 5 NBauO entstehe kein rechtsfreier Raum, da § 7 NBauO greife, ist unbegründet. Zutreffend ist, dass die Vorschrift im Falle von durch Vereinigungsbaulast zusammengeführten, aber aus verschiedenen und nicht eigentümeridentischen Buchgrundstücken bestehenden Baugrundstücken keinen § 5 NBauO vergleichbaren Schutz von Nachbarinteressen gewährleistet. Das ist indes auch nicht erforderlich. Wer sehenden Auges eine Vereinigungsbaulast bestellt oder ein mit einer Vereinigungsbaulast belastetes Grundstück erwirbt, kann einen derartigen Nachbarschutz nicht beanspruchen; Schutz für seine subjektiven Nachbarinteressen kann er ausschließlich über und in den Grenzen des Zivilrechts sowie der nachbarschützenden Normen des Bauplanungsrechts erwirken. § 7 NBauO verbleibt die Aufgabe sicherzustellen, dass auf einem einheitlichen Baugrundstück - sei es ein Buchgrundstück oder seien es mehrere durch Vereinigungsbaulast zusammengeführte Buchgrundstücke - objektiv baulich vertretbare Zustände herrschen. Daraus, dass das hier gewährleistet ist - § 7 NBauO greift schon deshalb nicht, weil auf dem Klägergrundstück keinerlei Gebäude den Seitenwänden der Terrassenüberdachung in einem Winkel von weniger als 75 Grad zugekehrt sind -, können die Kläger nichts für sich herleiten.

Für die Auffassung der Kläger, die im Bebauungsplan Nr. 20 festgesetzten Baugrenzen entfalteten zumindest nach seiner 3. Änderung drittschützende Wirkung, enthält das Zulassungsvorbringen keine plausiblen Argumente. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend ausgeführt, dass eine drittschützende Wirkung von Baugrenzen nur in Ausnahmefällen anzunehmen ist (vgl. zusammenfassend Senatsbeschluss v. 31.10.2007 - 1 ME 277/07 -, NdsVBl 2008, 76 = NdsRpfl. 2008, 86 = BRS 71 Nr. 172 mwN); davon geht auch die von den Klägern angeführte Entscheidung des OVG Saarlouis (Urt. v. 24.9.1996 - 2 R 5/96 -, BRS 58 Nr. 172) aus. Die Kläger meinen, der Entscheidung entnehmen zu können, dass ein solcher Ausnahmefall regelmäßig dann anzunehmen sei, wenn schmale Reihenhausgrundstücke überplant würden, die auf freibleibende Gartenflächen angewiesen seien. Sie verkennen dabei, dass das nicht die Situation war, die bei Satzungsbeschluss der 3. Planänderung vorlag. Zu diesem Zeitpunkt waren die Grundstücke der Kläger und Beigeladenen noch Teil des weitläufigen Grundstücks Flurstück H.. Anhaltspunkte dafür, dass eine Parzellierung in schmale Reihenhausgrundstücke auch nur angedacht war, bieten weder das Zulassungsvorbringen  noch der Verwaltungsvorgang. Angesichts dessen hatte der Rat der Gemeinde Neu Wulmstorf keinen Anlass, eine Baugrenze im Interesse des Nachbarschutzes festzusetzen. Warum aus der weiter angeführten Tatsache, dass in der 3. Änderung die Baugrenze von der G. -Straße nach Norden verlegt wurde, ein drittschützender Charakter dieser Maßnahme folgen soll, erläutert das Zulassungsvorbringen nicht.

2. Die Rechtssache weist nicht die von den Klägern geltend gemachten besonderen rechtlichen Schwierigkeiten auf. Die von den Klägern aufgeworfene Frage, ob auch bei fakultativ geschlossener Bauweise nach neuem Baurecht das Privileg des § 5 Abs. 3 Nr. 2 NBauO Anwendung findet, würde sich im Berufungsverfahren nicht stellen, da § 5 NBauO im Verhältnis des Beigeladenen- zum Klägergrundstück infolge der Vereinigungsbaulast keine Anwendung findet.

3. Die Rechtssache hat auch keine grundsätzliche Bedeutung. Die Frage, ob

eine streitgegenständliche Vereinigungsbaulast dahingehend auszulegen [ist], dass Einwendungen gegen sämtliche, auch nachträglich errichtete bauliche Anlagen, insbesondere Vorbauten, auf dem Baugrundstück, unabhängig davon, von wem und auf welchem Flurstück sie errichtet werden, ausgeschlossen sind, obwohl in § 5 Abs. 5 NBauO explizit auf eine Baulast Bezug genommen wird und demnach der Anwendungsbereich der Abstandsflächenvorschriften eröffnet ist“,

lässt sich in der gestellten, auf die streitgegenständliche Baulast abstellenden Form ohnehin nicht einzelfallübergreifend beantworten. Versteht man sie dahingehend, dass geklärt werden soll, ob Vereinigungsbaulasten stets die Anwendbarkeit des § 5 NBauO ausschließen, so zeigt sie jedenfalls keinen rechtsgrundsätzlichen Klärungsbedarf auf, da die Antwort auf diese Frage sich - wie unter 1. dargelegt - unmittelbar aus dem Wortlaut der §§ 2 Abs. 12, 5 Abs. 1 NBauO ergibt.

Die Frage, ob

nicht vielmehr der Wortlaut der Norm des § 5 NBauO dahingehend zu verstehen [ist], dass sämtliche Baulasten, die die Grenzbebauung in einem Baugebiet des § 5 Abs. 5 Satz 2 sicherstellen sollen, den Anwendungsbereich eröffnen und demnach § 5 Abs. 7 S. 1 NBauO zur Anwendung kommt, mit der Folge, dass Anbauten, die den Abstand von 1,5 Metern unterschreiten sollen, zustimmungsbedürftig sind“,

würde sich im Berufungsverfahren nicht stellen, da vorliegend keine „Baulast, die die Grenzbebauung in einem Baugebiet des § 5 Abs. 5 Satz 2 NBauO sicherstellen soll“, sondern eine Vereinigungsbaulast bestellt wurde. Die Vereinigungsbaulast stellt keine Grenzbebauung (auf dem Klägergrundstück) sicher, sondern lässt die Baugrundstücksgrenze und damit die Notwendigkeit einer korrespondierenden Grenzbebauung überhaupt entfallen.

Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.