Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 16.06.2014, Az.: 1 ME 70/14

Legalisierungswirkung einer Baugenehmigung bei Abweichungen des errichteten Gebäudes

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
16.06.2014
Aktenzeichen
1 ME 70/14
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2014, 23791
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2014:0616.1ME70.14.0A

Fundstellen

  • BauR 2014, 1762-1763
  • DÖV 2014, 807
  • IBR 2014, 573
  • NJW-Spezial 2014, 654
  • NVwZ-RR 2014, 6
  • NVwZ-RR 2014, 802-803
  • NordÖR 2014, 420
  • ZfBR 2014, 590
  • ZfBR 2014, 784

Amtlicher Leitsatz

Legalisierungswirkung der Baugenehmigung bei Abweichungen des errichteten Gebäudes

Ob ein abweichend von einer Baugenehmigung errichtetes Gebäude noch von ihrer Legalisierungswirkung erfasst wird oder aber als aliud einem gänzlich neuen Baugenehmigungsverfahren zu unterziehen ist, richtet sich danach, ob sich das errichtete Vorhaben in Bezug auf baurechtlich relevante Kriterien von dem ursprünglichen Vorhaben unterscheidet. Dies gilt unabhängig davon, ob die baurechtliche Zulässigkeit des abgewandelten Vorhabens als solche im Ergebnis anders zu beurteilen ist (wie OVG Münster, Beschl. v. 22.4.2013 2 A 1891/12 , juris Rn. 7 = BauR 2013, 1668; Beschl. v. 13.12.2012 2 B 1250/12 , juris Rn. 15 = NVwZ RR 2013, 500 = BRS 79 Nr. 153, beide m. w. N.).

Tenor:

Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Oldenburg - 4. Kammer -vom 14. April 2014 wird zurückgewiesen.

Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens als Gesamtschuldner.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 6.000,- EUR festgesetzt.

Gründe

I.

1

Die Antragsteller wenden sich gegen die vollständige Untersagung der Nutzung eines Apartmenthauses, das sie entgegen der ihnen erteilten Baugenehmigung mit sieben anstelle von vier Wohnungen ausgebaut haben; sie sind der Ansicht, der Beklagte habe nur die Nutzung derjenigen Wohnungen untersagen dürfen, die wesentlich von der erteilten Baugenehmigung abweichen.

2

Die Antragsteller sind Eigentümer des in der Stadt E., F. Straße 23, gelegenen Baugrundstücks. Mit Baugenehmigung vom 10. Februar 2012 gestattete ihnen der Antragsgegner die Errichtung eines Apartmenthauses mit vier Wohneinheiten auf zwei Etagen. Keller und Dachgeschoss des Gebäudes sollten nicht zu Wohnzwecken ausgebaut werden. Tatsächlich errichteten die Antragsteller ein Gebäude mit insgesamt sieben Wohneinheiten unter Nutzung von Dachgeschoss und Keller. Dabei entsprechen die Außenwände und das Dach - abgesehen von den insbesondere in der Dachhaut in Anzahl und Größe erheblich erweiterten Fensteröffnungen und der nördlichen Fassade - im Wesentlichen dem genehmigten Gebäude. An der Nordseite des Gebäudes haben die Antragsteller das Grundstück abgegraben und im Kellerbereich große Fenster eingebaut, um die dortigen Räume zu Wohnzwecken nutzen zu können. Die Abgrabung ist mit einer Stützwand gesichert. Im Gebäudeinnern sind die Wände größtenteils abweichend gesetzt; auch die Anordnung der Treppen und Zugänge entspricht weithin nicht der Baugenehmigung.

3

Nachdem dem Antragsgegner aufgrund einer Nachbarbeschwerde die abweichende Bauausführung bekannt geworden war, beantragten die Antragsteller die Erteilung einer (Nachtrags)Baugenehmigung; eine solche Baugenehmigung hat der Antragsgegner bislang nicht erteilt. Zudem untersagte er mit Verfügung vom 15. Oktober 2013 unter Anordnung der sofortigen Vollziehung sowie unter Zwangsgeldandrohung die Nutzung des gesamten Gebäudes zu Wohnzwecken. Zur Begründung verwies er auf die formelle Illegalität.

4

Das Verwaltungsgericht hat es mit dem angegriffenen Beschluss vom 14. April 2014 abgelehnt, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs insoweit wiederherzustellen, als von der Nutzungsuntersagung auch die im südlichen Gebäudeteil gelegenen und der erteilten Baugenehmigung immerhin teilweise entsprechenden Wohnungen 1 und 4 betroffen sind. Eine teilweise Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung komme nicht in Betracht, weil die Baugenehmigung vom 10. Februar 2012 und in der Folge auch die Nutzungsuntersagung nicht teilbar seien. Die Wohnungen 1 und 4 seien tatsächlich schon aufgrund der gemeinsamen Haustechnik des gesamten Gebäudes nicht selbstständig nutzbar. Hinzu komme, dass die Baugenehmigung rechtlich nicht teilbar sei, weil andernfalls ein - legaler - Gebäudetorso entstünde.

5

Hiergegen wenden sich die Antragsteller mit ihrer Beschwerde; der Antragsgegner verteidigt den verwaltungsgerichtlichen Beschluss.

II.

6

Die Beschwerde hat keinen Erfolg.

7

Die dargelegten Gründe (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) rechtfertigen keine Änderung des angegriffenen Beschlusses. Die Entscheidung erweist sich im Ergebnis als richtig.

8

Zu Recht wenden sich die Antragsteller allerdings gegen die Auffassung des Verwaltungsgerichts, es komme auf die Frage der Teilbarkeit der Baugenehmigung vom 10. Februar 2012 an. Entscheidend ist allein, ob die Nutzungsuntersagung als solche teilbar ist; das ist angesichts der Tatsache, dass sich die Untersagungsverfügung in sieben jeweils wohnungsbezogene selbstständige Verfügungen aufspalten lässt, der Fall.

9

Am Ergebnis der Entscheidung ändert dies allerdings nichts. Die auf § 79 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 5 NBauO gestützte und allein mit der formellen Baurechtswidrigkeit des (gesamten) Apartmenthauses begründete Nutzungsuntersagung ist auch nach Auffassung des Senats aller Voraussicht nach rechtmäßig, sodass das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung die wirtschaftlichen Interessen der Antragsteller überwiegt.

10

Die Untersagung der Nutzung eines gesamten Gebäudes wegen formeller Illegalität setzt tatbestandlich voraus, dass entweder das gesamte Gebäude in der zum Entscheidungszeitpunkt vorliegenden Gestalt ohne die erforderliche Baugenehmigung errichtet wurde oder aber seine Nutzung insgesamt einer erteilten Baugenehmigung nicht entspricht. Der erstgenannte Fall liegt hier vor; entgegen der Ansicht der Antragsteller handelt es sich bei dem von ihnen errichteten Apartmenthaus um ein "aliud" zu dem unter dem 10. Februar 2012 genehmigten Gebäude. Von der Legalisierungswirkung der Genehmigung wird es nicht erfasst; es handelt sich insgesamt um einen "Schwarzbau", gegen den der Antragsgegner einschreiten darf.

11

Ob ein abweichend von einer Baugenehmigung errichtetes Gebäude noch von ihrer Legalisierungswirkung erfasst wird oder aber als "aliud" einem gänzlich neuen Baugenehmigungsverfahren zu unterziehen ist, richtet sich danach, ob sich das errichtete Vorhaben in Bezug auf baurechtlich relevante Kriterien von dem ursprünglichen Vorhaben unterscheidet. Dies gilt unabhängig davon, ob die baurechtliche Zulässigkeit des abgewandelten Vorhabens als solche im Ergebnis anders zu beurteilen ist. Ein baurechtlich relevanter Unterschied zwischen dem ursprünglichen und dem abgewandelten Bauvorhaben ist immer dann anzunehmen, wenn sich für das abgewandelte Bauvorhaben die Frage der Genehmigungsfähigkeit wegen geänderter tatsächlicher oder rechtlicher Voraussetzungen neu stellt, d. h. diese geänderten Voraussetzungen eine erneute Überprüfung der materiellen Zulässigkeitskriterien erfordern. Ist dies der Fall, ist für das errichtete Gebäude ein selbstständiges (neues) Genehmigungsverfahren durchzuführen. Die Erteilung einer bloßen Nachtragsbaugenehmigung zu der für das ursprüngliche Vorhaben erteilten Baugenehmigung scheidet aus (vgl. OVG Münster, Beschl. v. 22.4.2013 - 2 A 1891/12 -, juris Rn. 7 = BauR 2013, 1668; Beschl. v. 13.12.2012 - 2 B 1250/12 -, juris Rn. 15 = NVwZ-RR 2013, 500 = BRS 79 Nr. 153; beide zur Abgrenzung von Baugenehmigung und Nachtragsbaugenehmigung und jeweils m. w. N.).

12

Dies zugrunde gelegt handelt es sich bei dem von den Antragstellern realisierten Vorhaben um ein "aliud" zu dem genehmigten Bau. Die Abweichungen von der Baugenehmigung vom 10. Februar 2012 sind derart umfassend, dass sich die Genehmigungsfrage insgesamt gänzlich neu stellt und der erteilten Baugenehmigung in Bezug auf das errichtete Gebäude keine Rechtswirkungen zuzubilligen sind. Das errichtete Gebäude wahrt zwar in weiten Teilen die genehmigte Kubatur sowie - möglicherweise - die Nutzungsart. Damit sind die wesentlichen Gemeinsamkeiten indes erschöpft. Die Veränderungen der nördlichen Fassade mit der Abgrabung zur Belichtung der Kellerräume, der Ersatz der zwei kleinen Gauben durch ein mehr als die Hälfte der Dachbreite einnehmendes Zwerchhaus, die vielfachen Änderungen der Fenster, die veränderte Raumaufteilung im Inneren, die Änderung der Zugänge und Treppen, die Stellplatzanordnung sowie nicht zuletzt auch die deutliche intensivierte Nutzung selbst stellen allesamt keine geringfügigen Abweichungen dar, sondern werfen baurechtlich relevante Fragen auf, die in einem neuen Baugenehmigungsverfahren zu beantworten sind. Zu berücksichtigen sind neben der nachbarrelevanten Stellplatzproblematik insbesondere Fragen des Brandschutzes aufgrund der neuen Aufteilung der Wohneinheiten, Eingriffe in die Statik nicht nur aufgrund der Führung der dritten Dachtreppe sowie die Vereinbarkeit der nördlichen Fassade mit Bauordnungsrecht.

13

Anlass zu einer differenzierten Betrachtung gab es auch unter Ermessensgesichtspunkten nicht. Die Genehmigungsfähigkeit des Vorhabens ist nicht offensichtlich zu bejahen; nur wenn es geradezu handgreiflich wäre und keiner näheren Prüfung bedürfte, dass das errichtete Gebäude dem öffentlichen Baurecht vollständig entspricht, wäre die Nutzungsuntersagung ermessenswidrig (vgl. Senat, Beschl. v. 12.3.2003 - 1 ME 342/02 -, juris Rn. 10 = BauR 2003, 1205 = BRS 66 Nr. 201). Das ist nicht der Fall. Die Genehmigungsfähigkeit des gesamten Vorhabens ist ungeachtet der vom Rat der Stadt E. zwischenzeitlich beschlossenen Veränderungssperre in dem - bislang noch - als allgemeines Wohngebiet (§ 4 BauNVO) festgesetzten Gebiet im Gegenteil fraglich. Den Bauvorlagen ist die angestrebte Nutzung nicht mit der gebotenen Eindeutigkeit zu entnehmen. Die Errichtung von zu vermietenden Ferienwohnungen - als solche sind die Wohnungen jedenfalls im Oktober 2013 offenbar genutzt worden - ist im allgemeinen Wohngebiet unzulässig (vgl. Senat, Beschl. v. 18.7.2008 - 1 LA 203/07 -, juris Rn. 12 = BauR 2008, 2022 = BRS 73 Nr. 168; Beschl. v. 22.11.2013 - 1 LA 49/13 -, juris Rn. 18 f. = NVwZ-RR 2014, 255 [OVG Niedersachsen 22.11.2013 - 1 LA 49/13]). Hinzu tritt die Problematik der gemäß § 47 NBauO erforderlichen Stellplätze, deren Anordnung entlang der rückwärtigen Grundstücksgrenze im Hinblick auf das Rücksichtnahmegebot einer näheren Betrachtung bedarf (vgl. zu dieser Frage zusammenfassend jüngst Senat, Beschl. v. 28.5.2014 - 1 ME 47/14 -, juris).

14

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 i. V. mit § 159 Satz 2 VwGO.

15

Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG.

16

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).