Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 26.02.2015, Az.: 5 Sa 1318/14

Betriebsbedingte Kündigung bei Betriebsstilllegung; Angebot zu Verhandlungen über Interessenausgleich als Angebot zu Verhandlungen über Massenentlassung

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
26.02.2015
Aktenzeichen
5 Sa 1318/14
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2015, 20195
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LAGNI:2015:0226.5SA1318.14.0A

Verfahrensgang

vorgehend
ArbG Hameln - 09.09.2014 - AZ: 1 Ca 92/14

Fundstellen

  • AE 2015, 210
  • EzA-SD 22/2015, 3
  • NZA 2015, 11
  • ZInsO 2015, 1065-1067

Amtlicher Leitsatz

Die Verhandlungen über einen Interessenausgleich im Sinne des § 112 Abs. 1 Satz 1 BetrVG und die Beratung gem. § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG mögen sich möglicherweise formal unterscheiden, sind in der Praxis inhaltlich deckungsgleich. Hier eine Unterscheidung zu treffen, wäre ein übertriebener Formalismus. Bei aller Formalisierung der nationalen Rechtsordnung, auch unter Einfluss der zunehmenden Europäisierung muss das Recht praxistauglich sein. Gekünstelte theoretische Ergebnisse sind zu vermeiden.

Redaktioneller Leitsatz

Hat der Betriebsrat mit einem schriftlichen Verhandlungsangebot einen Entwurf des Interessenausgleiches erhalten und enthält dieser Entwurf wie auch der später unterzeichnete Interessenausgleich die Formulierung: "Der Insolvenzverwalter hat dem Betriebsrat die erforderlichen Auskünfte gemäß § 17 Abs. 2 KSchG erteilt. Die Umstände und Voraussetzungen der Massenentlassung wurden eingehend erörtert. ...", muss der Betriebsrat das Angebot zu Verhandlungen über einen Interessenausgleich auch als Angebot zu Verhandlungen im Sinne des § 17 Abs. 2 KSchG verstehen.

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hameln vom 09.09.2014 - 1 Ca 92/14 - wird auf seine Kosten zurückgewiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit von zwei Kündigungen.

Der Kläger war bei der Insolvenzschuldnerin seit dem 01.09.2011 als Kfz-Service Techniker tätig. Diese beschäftigte mehr als 10 Arbeitnehmer, es bestand ein Betriebsrat. Das zuständige Amtsgericht eröffnete über ihr Vermögen das Insolvenzverfahren und bestellte den Beklagten am 01.02.2014 zum Insolvenzverwalter.

Er traf die Entscheidung, den Betrieb still zu legen und informierte am 03.02.2014 den Betriebsrat. Ob er mit diesem Gremium auch beraten hat, ist streitig. Jedenfalls bot er dem Betriebsrat verschiedene Termine an, um über einen Interessenausgleich zu verhandeln und übermittelte ihm einen Entwurf eines Interessenausgleiches. Bereits am selben Tage (03.02.2014) unterzeichnete er mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich.

Nach Betriebsratsanhörung kündigte er fristgerecht gegenüber dem Kläger mit Schreiben vom 24.02.2014 zum 31.03.2014. Alle anderen Arbeitnehmer erhielten zeitgleich ihre Kündigungen, die Betriebsratsmitglieder erst zum 31.05.2014. Mit Schreiben vom 18.06.2014 kündigte der Beklagte sicherheitshalber ein zweites Mal, allerdings ohne zuvor den Betriebsrat anzuhören.

Mit seiner Klage hat sich der Kläger gegen beide Kündigungen zur Wehr gesetzt und Kündigungsschutz geltend gemacht. Er hat die Auffassung vertreten, bei der ersten Kündigung sei der Betriebsrat nicht ordnungsgemäß im Sinne des § 17 Abs. 2 KSchG konsultiert worden, und bei der zweiten nicht nach § 102 BetrVG beteiligt worden.

Wegen weiterer Einzelheiten des gesamten erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils, dort Bl. 1 bis 3 desselben, Bl. 80 bis 82 der Gerichtsakte, verwiesen.

Mit Urteil vom 09.09.2014 hat das Arbeitsgericht Hameln die Klage abgewiesen. Wegen der genauen Einzelheiten der rechtlichen Würdigung wird auf die Entscheidungsgründe dieses Urteils (dort Bl. 3 bis 5 desselben, Bl. 82 bis 84 der Gerichtsakte) verwiesen.

Dieses Urteil ist dem Kläger am 11.09.2014 zugestellt worden. Mit einem am Montag, den 13.10.2014 eingegangenen Schriftsatz hat er Berufung eingelegt und diese mit einem am 11.12.2014 eingegangenen Schriftsatz begründet, nachdem zuvor das Landesarbeitsgericht auf einen am 11.11.2014 eingegangenen Antrag mit Beschluss vom 12.11.2014 die Rechtsmittelbegründungsfrist antragsgemäß bis zum 11.12.2014 verlängert hatte.

Mit seiner Berufung verfolgt der Kläger in vollem Umfang das erstinstanzliche Klageziel des Kündigungsschutzes weiter. Er meint, die erste streitgegenständliche Kündigung sei deswegen formal unwirksam, weil Beratungen mit dem Betriebsrat im Sinne des § 17 KSchG nicht stattgefunden hätten. Er bestreitet die gegenteilige Auffassung des Beklagten und rügt sie als unsubstantiiert. Bereits der gedrängte Zeitablauf zeige, dass Beratungen nicht hätten stattfinden können. Soweit es die zweite Kündigung anbelangt, habe der Betriebsrat angehört werden müssen, dies sei aber nicht geschehen.

Er beantragt:

Das Urteil des Arbeitsgerichts Hameln vom 09.09.2014 zum Aktenzeichen: 1 Ca 92/14 wird abgeändert. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die Kündigung des Beklagten vom 24.02.2014 nur durch die Kündigung vom 18.06.2014 aufgelöst ist.

Der Beklagte beantragt,

Die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das angefochtene Urteil.

Wegen weiterer Einzelheiten des Vorbringens der Parteien in der Berufung wird auf ihre Schriftsätze vom 11.12.2014 und 15.01.2015 sowie das Sitzungsprotokoll vom 26.02.2015 verwiesen.

Entscheidungsgründe

A.

Die Berufung ist zulässig. Sie ist statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 519, 520 ZPO und 64, 66 ArbGG).

Insbesondere wahrt die Montag, den 13.10.2014 eingegangene Berufungsschrift die Monatsfrist des § 66 Abs. 1 ArbGG wegen §§ 193 BGB, 222 ZPO. Auch ist der Antrag auf Fristverlängerung der Berufungsbegründungsfrist rechtzeitig am letzten Tag der Berufungsbegründung eingegangen. Die Bescheidung dieses Antrages außerhalb der Frist ist nach allgemeiner Auffassung unschädlich.

B.

Die Berufung ist unbegründet. Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das angefochtene Urteil die Klage abgewiesen. Bereits die Kündigung vom 24.02.2014 hat das Arbeitsverhältnis rechtswirksam zum 31.03.2014 beendet.

I.

Soweit es um die Problemkreise der sozialen Rechtfertigung, der ordnungsgemäßen Anhörung des Betriebsrates gemäß § 102 BetrVG und der Einhaltung der richtigen Kündigungsfrist geht, wird in vollem Umfang auf die entsprechenden Ausführungen des erstinstanzlichen Urteils (Entscheidungsgründe A. I., III. und IV, Bl. 82 und 83 der Gerichtsakte) verwiesen.

II.

Die Kündigung ist auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer eventuell fehlerhaften Beteiligung des Betriebsrates gem. § 17 II KSchG unwirksam. Der Beklagte hat den Betriebsrat i. S. der zuvor genannten Norm rechtlich beanstandungsfrei informiert und beteiligt.

1.

Im Zuge der zunehmenden Europäisierung der nationalen Rechtsordnung, die man begrüßen oder bedauern mag, führt nach der aktuellen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (Urteil vom 21.03.2013, AZ: 2 AZR 63712 - Juris, Randnummer 20) die fehlerhafte Konsultation des Betriebsrates gem. § 17 II KSchG zu einer Rechtsunwirksamkeit der streitgegenständlichen Kündigung. Die Durchführung des Konsultationsverfahrens nach § 17 Abs. 2 KSchG ist ein eigenständiges Wirksamkeitserfordernis für die Kündigung. Danach hat - bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 17 Abs. 1 KSchG - der kündigende Arbeitgeber dem Betriebsrat nicht nur die nach § 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 6 KSchG erforderlichen Angaben zu machen sondern mit ihm auch die Möglichkeit zu beraten, die Entlassungen zu vermeiden oder einzuschränken und ihre Folgen zu mindern oder ihm zumindest die Gelegenheit hierzu zu geben (BAG aaO., Randnummer 15).

2.

Unter Beachtung dieser Rechtsgrundsätze hat der Beklagte das Konsultationsverfahren ordnungsgemäß durchgeführt. Dem Erfordernis des § 17 Abs. 2 KSchG ist genüge getan.

a.

Das Informationsschreiben vom 03.02.2014, welches der Betriebsratsvorsitzende unstreitig am selben Tage erhalten hat, enthält eine vollständige und umfassende Information in schriftlicher Form im Sinne des § 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 6 KSchG.

b.

Auch das Beratungserfordernis des § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG ist im vorliegenden Streitfall gegeben.

aa.

Zunächst einmal ist die Berufungskammer von den von dem Beklagten behaupteten Beratungen gemäß § 286 ZPO mit der erforderlichen Sicherheit überzeugt. Dem Kläger ist zwar zuzugeben, dass die schriftsätzlichen Darlegungen diesbezüglich sehr vage und unpräzise gewesen sind und der Darlegungslast eines Arbeitgebers im Sinne der bereits zitierten Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes nicht genügen. Jedoch hat der Beklagte ergänzend im Kammertermin gemäß § 141 ZPO diese Beratungen im Einzelnen geschildert. Hiervon ist das Berufungsgericht in vollem Umfang überzeugt.

aaa.

Die volle richterliche Überzeugung erfordert das Vorhandensein einer persönlichen Gewissheit beim Richter, welche den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen. Sie verlangt keine absolute Gewissheit. Dies hieße, die Grenze menschlicher Erkenntnisfähigkeit zu ignorieren. Ausreichend und erforderlich ist eine persönliche Gewissheit, die den Zweifel Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (BGH, Urteil vom 17.02.1970, Az.: 3 ZR 139/67 - BGHZ 53, 245 - 256; Urteil vom 06.06.1973, Az.: IV ZR 164/71 - BGHZ 61, 165 - 169). Mehr als die subjektive Überzeugung wird nicht gefordert, absolute Gewissheit zu verlangen hieße die Grenze menschlicher Erkenntnisfähigkeit zu ignorieren. Andererseits reicht weniger als die volle Überzeugung von der Wahrheit nicht für das Bewiesensein aus, ein bloßes Glauben, Wähnen, für wahrscheinlich halten, berechtigt den Richter nicht zur Bejahung des streitigen Tatbestandsmerkmals. Die richterliche Überzeugungsbildung ist kein ausschließlich logischer Prozess, sie ist abhängig von der individuellen Einschätzung der beurteilenden Richter (Zöller-Greger, 30. Aufl., § 286 RdNr. 13).

bbb.

Die informatorische Anhörung des Beklagten gemäß § 141 Abs. 1 ZPO erbringt diese volle richterliche Überzeugung. Denn der Beklagte hat frei und lebensnah seine schriftsätzliche Behauptung konkretisiert. Diese Darstellung im Einzelnen enthielt die notwendigen Realitätskennzeichen, die erforderlich sind, um ausgehend von der sogenannten Nullhypothese eine positive richterliche Überzeugungsbildung zu erbringen. Vom persönlichen Auftreten wirkte der Beklagte integer und glaubwürdig. Darüber hinaus hat er in seiner Eigenschaft als Sachwalter nicht das besondere Eigeninteresse, das ein persönlich betroffener Arbeitgeber hat, wenn er die Angelegenheiten aus seiner Sicht schildert. Auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass es sich bei den zu Protokoll genommenen Erklärungen um einen Parteivortrag handelt, ist das Berufungsgericht voll von ihrem Wahrheitsgehalt überzeugt.

bb.

Unabhängig davon hat der Beklagte dem Betriebsrat die Beratungen in ausreichender Weise angeboten. Selbst wenn es keine Beratungen gegeben haben sollte, wäre dem Beratungserfordernis des § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG entsprochen worden, weil es nach der bereits zitierten höchstrichterlichen Rechtsprechung ausreichend ist, dem Betriebsrat Gelegenheit zur Beratung zu geben. Dieses Beratungsangebot resultiert aus dem Schreiben des Beklagten vom 03.02.2014, welches der Betriebsratsvorsitzende am selben Tage erhalten hat. Es enthält das Angebot sich am selben Tage zusammen zu setzen und zu einigen, ersatzweise die Mitteilung zukünftiger passender Termine.

Wenn sich auch dieses Verhandlungsangebot in erster Linie auf den Interessenausgleich bezieht, ist es dennoch genügend.

aaa.

Die Verhandlung über einen Interessenausgleich im Sinne des § 112 Abs. 1 Satz 1 BetrVG und die Beratungen gemäß § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG mögen sich möglicherweise formal unterscheiden, sind jedoch in der Praxis inhaltlich deckungsgleich. Hier eine Unterscheidung zu treffen, wäre ein übertriebener Formalismus, welchem die 5. Kammer des Landesarbeitsgerichtes eine klare Absage erteilt. Bei aller Formalisierung der nationalen Rechtsordnung, auch unter Einfluss der zunehmenden Europäisierung muss das Recht praxistauglich sein. Gekünstelte theoretische Ergebnisse sind zu vermeiden. Das Angebot, über einen Interessenausgleich im Sinne des § 112 Abs. 1 Satz 1 BetrVG zu verhandeln, umfasst auch das Beratungsangebot im Sinne des 17 Abs. 2 KSchG.

bbb.

Unabhängig davon sprechen jedenfalls die Besonderheiten dieses Einzelfalles für vorstehendes Ergebnis: Mit dem schriftlichen Verhandlungsangebot hat der Betriebsrat nämlich einen Entwurf des Interessenausgleiches erhalten. Dieser Entwurf enthielt wie der später unterzeichnete Interessenausgleich in § 6 die Formulierung: "Der Insolvenzverwalter hat dem Betriebsrat die erforderlichen Auskünfte gemäß § 17 Abs. 2 KSchG erteilt. Die Umstände und Voraussetzungen der Massenentlassung wurden eingehend erörtert. ...".

Jedenfalls vor dem Hintergrund eines solchen als Entwurf übersandten Interessenausgleichs musste der Betriebsrat das Angebot zu Verhandlungen über einen Interessenausgleich auch als Angebot zu Verhandlungen im Sinne des § 17 Abs. 2 KSchG verstehen.

III.

Mit diesem Ergebnis steht die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 31.03.2014 fest. Deswegen ist auch die Kündigungsschutzklage gegen die zeitlich später ausgesprochene Kündigung unbegründet und die Berufung war insgesamt zurückzuweisen.

C.

Der Kläger hat als unterlegende Partei gemäß § 97 Abs. 1 ZPO vollständig die Kosten seiner erfolglosen Berufung zu tragen. Gründe, die Revision gem. § 72 Abs. 2 ArbGG zum Bundesarbeitsgericht zuzulassen, sind nicht ersichtlich.