Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 28.10.2024, Az.: 10 LA 120/23
Zulassung der Berufung wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache; Alleinerziehender Elternteil mit minderjährigen Kindern als Dublin-Rückkehrer in Frankreich
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 28.10.2024
- Aktenzeichen
- 10 LA 120/23
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2024, 24951
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2024:1028.10LA120.23.00
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Hannover - 05.09.2023 - AZ: 15 A 1107/23
Rechtsgrundlagen
- § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG
- Art. 4 GRCh
Amtlicher Leitsatz
Zulassung der Berufung zur Klärung der grundsätzlichen Frage, ob einem alleinerziehenden Elternteil mit einem minderjährigen Kind als Dublin-Rückkehrer in Frankreich eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 4 GRCh droht.
Tenor:
Auf den Antrag der Beklagten wird die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - Einzelrichterin der 15. Kammer - vom 5. September 2023 zugelassen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Gründe
Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) hat Erfolg.
Eine Rechtssache ist nur dann im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG grundsätzlich bedeutsam, wenn sie eine höchstrichterlich noch nicht geklärte Rechtsfrage oder eine obergerichtlich bislang noch nicht beantwortete Tatsachenfrage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die im Rechtsmittelverfahren entscheidungserheblich und einer abstrakten Klärung zugänglich ist, im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer fallübergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf, nicht schon geklärt ist und (im Falle einer Rechtsfrage) nicht bereits anhand des Gesetzeswortlauts und der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung sowie auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens beantwortet werden kann (BVerwG, Beschlüsse vom 21.6.2023 - 1 B 48.22 -, juris Rn. 3, und vom 28.3.2022 - 1 B 9.22 -, juris Rn. 21, jeweils zu § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO; ferner: Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Mai 2024, § 78 AsylG Rn. 19 ff. m. w. N.).
Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG verlangt daher nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (u. a. Senatsbeschluss vom 1.2.2024 - 10 LA 44/24 -, juris Rn. 3 m. w. N.), dass
1. eine bestimmte Tatsachen- oder Rechtsfrage konkret und eindeutig bezeichnet,
2. ferner erläutert wird, warum sie im angestrebten Berufungsverfahren entscheidungserheblich und klärungsbedürftig wäre, und
3. schließlich dargetan wird, aus welchen Gründen ihre Beantwortung über den konkreten Einzelfall hinaus dazu beitrüge, die Rechtsfortbildung zu fördern oder die Rechtseinheit zu wahren.
Ob eine als grundsätzlich klärungsbedürftig bezeichnete Frage entscheidungserheblich ist, ist anhand der Tatsachenfeststellungen des Verwaltungsgerichts zu prüfen, soweit gegen diese keine begründeten Verfahrensrügen erhoben worden sind (ständige Rechtsprechung des Senats: u. a. Senatsbeschluss vom 1.2.2024 - 10 LA 44/24 -, juris Rn. 7 m. w. N.). Diese Tatsachenfeststellungen sind im Zulassungsverfahren bindend und unterliegen dort anders als in einem Berufungsverfahren keiner Richtigkeitskontrolle (Senatsbeschluss vom 1.2.2024 - 10 LA 44/24 -, juris Rn. 7 m. w. N.).
Die Darlegung der Entscheidungserheblichkeit und Klärungsbedürftigkeit der bezeichneten Frage im Berufungsverfahren (2.) setzt voraus, dass substantiiert dargetan wird, warum sie im Berufungsverfahren anders als im angefochtenen Urteil zu entscheiden sein könnte und - im Falle einer Tatsachenfrage - welche (neueren) Erkenntnismittel eine anderslautende Entscheidung nahelegen (ständige Rechtsprechung des Senats: u. a. Senatsbeschluss vom 1.2.2024 - 10 LA 44/24 -, juris Rn. 8 m. w. N.; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 27.6.2024 - 4 LA 21/24 -, juris Rn. 7 m. w. N.). Die Begründungspflicht verlangt daher, dass sich der Zulassungsantrag mit den Erwägungen des angefochtenen Urteils, auf die sich die aufgeworfene Frage bezieht, substantiiert auseinandersetzt und im Einzelnen aufzeigt, aus welchen Gründen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht zu folgen ist (Senatsbeschluss vom 1.2.2024 - 10 LA 44/24 -, juris Rn. 8 m. w. N.; vgl. BVerwG, Beschluss vom 17.5.2022 - 1 B 44.22 -, juris Rn. 14 zu § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Die Darlegung einer Tatsachenfrage setzt außerdem eine intensive, fallbezogene Auseinandersetzung mit den von dem Verwaltungsgericht herangezogenen und bewerteten Erkenntnismitteln voraus (Senatsbeschluss vom 1.2.2024 - 10 LA 44/24 -, juris Rn. 8 m. w. N.; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 27.1.2022 - 9 LA 29/20 -, juris Rn. 5; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 23.9.2021 - 4 LA 111/20 -, juris Rn. 25), weil eine Frage nicht entscheidungserheblich und klärungsbedürftig ist, die sich schon hinreichend klar aufgrund der vom Verwaltungsgericht berücksichtigten Erkenntnismittel beantworten lässt (GK-AsylG, Stand: August 2023, § 78 AsylG Rn. 609 m. w. N; vgl. auch BVerwG, Beschlüsse vom 30.1.2014 - 5 B 44.13 -, juris Rn. 2, und vom 17.2.2015 - 1 B 3.15 -, juris Rn. 3, zu den Anforderungen an die Darlegung einer grundsätzlichen Bedeutung gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Erforderlich ist daher über den ergebnisbezogenen Hinweis, dass der Bewertung der Situation in dem betreffenden Land zu der als klärungsbedürftig bezeichneten Tatsachenfrage durch das Verwaltungsgericht im Ergebnis nicht gefolgt werde, hinaus, dass in Auseinandersetzung mit den Argumenten des Verwaltungsgerichts und den von ihm herangezogenen Erkenntnismitteln dargetan wird, aus welchen Gründen dieser Bewertung im Berufungsverfahren nicht zu folgen sein wird (GK-AsylG, Stand: August 2023, § 78 AsylG Rn. 610 m. w. N.; vgl. OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 17.8.2021 - 1 LA 43/21 -, juris Rn. 2). Dabei ist es Aufgabe des Zulassungsantragstellers, durch die Benennung von Anhaltspunkten für eine andere Tatsacheneinschätzung, also insbesondere durch das Anführen bestimmter (neuerer) Erkenntnisquellen, darzutun, dass hierfür zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht (Hamburgisches OVG, Beschluss vom 30.4.2021 - 6 Bf 42/21.AZ -, juris Rn. 20; GK-AsylG, Stand: August 2023, § 78 AsylG Rn. 610 f. m. w. N.). Es reicht deshalb nicht, wenn der Zulassungsantragsteller sich lediglich gegen die Würdigung seines Vorbringens durch das Verwaltungsgericht wendet und eine bloße Neubewertung der vom Verwaltungsgericht berücksichtigten Erkenntnismittel verlangt (Senatsbeschluss vom 1.2.2024 - 10 LA 44/24 -, juris Rn. 8; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 9.2.2023 - 9 LA 259/21 -, juris Rn. 5; GK-AsylG, Stand: August 2023, § 78 AsylG Rn. 609 m. w. N.; vgl. auch Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Mai 2024, § 78 AsylG Rn. 26).
Diesen Anforderungen genügt der Zulassungsantrag der Beklagten.
Sie hält für grundsätzlich klärungsbedürftig,
"ob das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Frankreich systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung i. S. d. Art. 4 GRCh (bzw. Art. 3 EMRK) zum Zeitpunkt der Überstellung und während des Asylverfahrens mit sich bringen,
ob Antragstellern, welche in Frankreich internationalen Schutz erhalten haben, eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK insbesondere durch Obdachlosigkeit droht
und
ob dies für vulnerable Personengruppen, wie Familien oder alleinerziehende Elternteile mit minderjährigen Kindern der Fall ist"?
Im Rahmen der Begründung ihres Zulassungsantrags hat die Beklagte jedenfalls die grundsätzliche Bedeutung der vorliegend entscheidungserheblichen Frage, ob alleinerziehenden Elternteilen mit minderjährigen Kindern als vulnerable Personengruppe in Frankreich während des Asylverfahrens oder nach ihrer Anerkennung als schutzberechtigt die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung i. S. d. Art. 4 GRCh insbesondere durch Obdachlosigkeit droht, hinreichend dargelegt.
Das Verwaltungsgericht hat seine Auffassung, der Klägerin drohe als alleinerziehende Mutter eines siebenjährigen Kindes bei einer Rückkehr nach Frankreich im Zeitraum zwischen ihrer Rückführung und der förmlichen Asylantragstellung sowie nach dem Abschluss ihres Asylverfahrens eine unmenschliche und entwürdigende Behandlung (S. 6 UA), darauf gestützt, dass für sie dort die Gefahr der Obdachlosigkeit bestehe. Nach dem AIDA Country Report France 2021 Update reichten die Plätze zur Unterbringung von Asylsuchenden in den vergangenen Jahren trotz anhaltender Bemühungen Frankreichs fortlaufend nicht aus, so dass auch bei vorhandenen regulären oder Notunterkünften praktisch viele Dublin-Rückkehrer von Obdachlosigkeit betroffen seien. In 2021 hätten Schätzungen zufolge etwa 70.000 Asylsuchende in Frankreich nicht untergebracht werden können, von den Anspruchsberechtigten seien effektiv 59 % tatsächlich untergekommen. Dies gelte nach dem AIDA Country Report France 2022 Update auch für das Jahr 2022. Dass die Klägerin aus eigener Kraft für sich selbst und ihre Tochter sorgen könne, begegne erheblichen Bedenken. Das Risiko einer Obdachlosigkeit könne für vulnerable Personen, wie es die Klägerin und ihre Tochter seien, nicht hingenommen werden (S. 7 UA).
Die Beklagte hat demgegenüber unter Bezugnahme auf den AIDA Country Report 2022 Update ausgeführt, dass gerade den besonderen Bedürfnissen vulnerabler Personen auch in Fragen der Unterbringung bei eingeschränkten Kapazitäten zuerst Rechnung getragen werde und Hinweise darauf, dass auch vulnerable Personen von Obdachlosigkeit betroffen sein könnten, nicht ersichtlich seien (S. 5 der Berufungszulassungsbegründung). Für vulnerable Personengruppen seien Mechanismen zum frühzeitigen Erkennen des besonderen Schutzbedarfs mit der anschließenden bedürfnisgerechten Unterbringung eingerichtet worden, die gerade im Fall von Dublin-Rückkehrern zuverlässig vor dem Eintritt von Notsituationen schützen würden (S. 19 der Berufungszulassungsbegründung). Nach der Gewährung eines Schutzstatus könnten die Schutzberechtigten bis zu 6 Monate in der ursprünglichen Unterkunft verbleiben. Sie müssten zudem einen Integrationsvertrag schließen, in dessen Rahmen die Möglichkeit für eine temporäre Unterbringung bis 12 Monate bestehe. Darüber hinaus böten auch Nichtregierungsorganisationen eine temporäre Unterbringung für Schutzberechtigte an.
Damit hat die Beklagte substantiiert dargetan, warum die vorliegend entscheidungserhebliche Frage im Berufungsverfahren anders als im angefochtenen Urteil zu entscheiden sein könnte. Da das Verwaltungsgericht weder auf die konkrete Unterbringungssituation für vulnerable Personengruppen noch für anerkannte Schutzberechtigte (hinreichend) eingegangen ist und damit eine beachtliche Gefahr der Obdachlosigkeit für vulnerable Schutzsuchende und Schutzberechtigte aus den Entscheidungsgründen nicht hervorgeht, konnte von der Beklagten auch keine weitere Durchdringung der und Auseinandersetzung mit den (erkennbar unzureichenden) Erwägungen des Verwaltungsgerichts erwartet werden (vgl. auch bereits Senatsbeschlüsse vom 22.2.2023 - 10 LA 12/23 -, juris Rn. 8, vom 22.2.2023 - 10 LA 9/23 -, juris Rn. 8, vom 11. Mai 2022 - 10 LA 46/22 -, juris Rn. 22, und vom 4.12.2020 - 10 LA 264/19 -, juris Rn. 16).
Ob die in Art. 29 Abs. 1 UA 1 Dublin III-VO vorgesehene Überstellungsfrist, wie die Klägerin meint, bereits abgelaufen ist, mit der Folge, dass die Zuständigkeit für die Prüfung des Schutzbegehrens auf die Beklagte übergegangen ist (Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO), oder der Ablauf durch die Aussetzung der Vollziehung unterbrochen wurde (vgl. dazu etwa Senatsbeschlüsse vom 13.5.2022 - 10 LA 68/22 -, n. v., und vom 27.10.2020 - 10 LA 217/20 -, juris), was das Verwaltungsgericht offengelassen hat, liegt nicht ohne weiteres auf der Hand, so dass sich die verwaltungsgerichtliche Entscheidung nicht bereits im Zulassungsverfahren aus anderen Gründen als erkennbar richtig erweist (vgl. dazu BVerwG, Beschluss vom 10.3.2004 - 7 AV 4.03 -, juris Rn. 9 - 11; Senatsbeschluss vom 1.8.2022 - 10 LA 14/22 -, juris Rn. 7). und wird daher gegebenenfalls im Berufungsverfahren zu klären sein.
Das Zulassungsverfahren wird als Berufungsverfahren fortgeführt. Der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht. Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Beschlusses zu begründen. Die Begründung ist bei dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht in Lüneburg einzureichen.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).