Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 21.11.2011, Az.: 4 LA 40/11

Information des Kostenbeitragspflichtigen als materiell-rechtliche Tatbestandsvoraussetzung für die Erhebung eines Kostenbeitrags bzgl. Gewährung einer Eingliederungshife

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
21.11.2011
Aktenzeichen
4 LA 40/11
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2011, 29742
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2011:1121.4LA40.11.0A

Fundstellen

  • DVBl 2012, 196
  • FamRZ 2012, 1178

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Die Information des Kostenbeitragspflichtigen nach Maßgabe des § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII stellt eine materiell-rechtliche Tatbestandsvoraussetzung für die Erhebung eines Kostenbeitrags dar.

  2. 2.

    Wird der unterhaltsrechtliche Bedarf des Kindes/Jugendlichen durch die ihm gewährte Eingliederungshilfe in vollem Umfang gedeckt, ist der Kostenbeitragspflichtige nach § 92 Abs. 3 Satz 1 Hs. 2 SGB VIII darüber aufzuklären, dass seine Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind/Jugendlichen aufgrund der Gewährung der Eingliederungshilfe entfallen ist, für den Zeitraum dieser Hilfegewährung also nicht besteht.

  3. 3.

    Der Hinweis, dass Unterhaltsansprüche des Kindes/Jugendlichen für den Zeitraum der Hilfegewährung ruhen, ist in einem solchen Fall weder zutreffend noch eindeutig und stellt daher keine den Maßgaben des § 92 Abs. 3 Satz 1 Hs. 2 SGB VIII genügende Aufklärung über die Folgen der Gewährung der Jugendhilfe für die Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind/Jugendlichen dar.

  4. 4.

    Der Schuldner soll durch § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII nicht nur davor geschützt werden, doppelt in Anspruch genommen zu werden, sondern auch davor, ungewollt doppelte Leistungen zu erbringen.

  5. 5.

    Eine den Anforderungen des § 92 Abs. 3 Satz 1 Hs. 2 SGB VIII genügende Aufklärung kann erst dann erfolgen, wenn darüber entschieden worden ist, welche Jugendhilfemaßnahme durchgeführt wird.

Gründe

1

Der Antrag des Beklagten, die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zuzulassen, hat keinen Erfolg, weil die von dem Beklagten geltend gemachten Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 Nr. 1, 2 und 3 VwGO nicht vorliegen bzw. nicht hinreichend dargelegt worden sind.

2

Entgegen der Annahme des Beklagten bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils, mit dem das Verwaltungsgericht den Kostenbeitragsbescheid des Beklagten vom 21. Juli 2009 mit der Begründung aufgehoben hat, dass dieser Bescheid rechtswidrig sei und den Kläger in seinen Rechten verletze, weil der Beklagte den Kläger zu keiner Zeit in einer den Anforderungen des § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII entsprechenden Weise über die Folgen der Jugendhilfegewährung für seine Unterhaltspflicht gegenüber seinem Sohn aufgeklärt habe. Das Verwaltungsgericht hat der Klage gegen den Kostenbeitragsbescheid des Beklagten nämlich zu Recht stattgegeben.

3

Nach § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII kann ein Kostenbeitrag bei Eltern, Ehegatten und Lebenspartnern ab dem Zeitpunkt erhoben werden, ab welchen dem Pflichtigen die Gewährung der Leistungen mitgeteilt und er über die Folgen für seine Unterhaltspflicht gegenüber dem jungen Menschen aufgeklärt wurde. Eine solche Information, die eine materiell-rechtliche Tatbestandsvoraussetzung für die Erhebung eines Kostenbeitrags darstellt (vgl. OVG Münster, Beschl. v. 26.8.2009 - 12 A 64/09 - m.w.N.; Frankfurter Kommentar zum SGB VIII, 6. Auflage, § 92 Rn. 18), ist im vorliegenden Fall vor Ablauf des von dem angefochtenen Kostenbeitragsbescheid erfassten Zeitraums vom 1. Juni 2009 bis zum 31. Dezember 2009 nicht erfolgt. Denn der Beklagte hat den Kläger weder zutreffend noch eindeutig über die Folgen der Gewährung der Jugendhilfe für dessen Unterhaltspflicht gegenüber seinem minderjährigen Sohn aufgeklärt.

4

Der Beklagte hat dem Sohn des Klägers durch Bescheide vom 26. April 2007, die an den Kläger und dessen Ehefrau gerichtet waren, ab dem 16. April 2007 Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII in der Form einer stationären Unterbringung in der Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung "B. " in C. gewährt. Da diese Hilfe nach§ 39 SGB VIII auch den notwendigen Unterhalt des Kindes außerhalb des Elternhauses umfasst, ist der unterhaltsrechtliche Bedarf des Sohnes des Klägers durch die ihm gewährte Eingliederungshilfe in vollem Umfang gedeckt worden. Dies hat nach § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII zur Folge, dass der Unterhaltsanspruch des Kindes während der Gewährung der vollstationären Eingliederungshilfe entfallen ist (vgl. Frankfurter Kommentar zum SGB VIII, 6. Auflage, § 10 Rn. 32 m.w.N.). Diese Vorschrift bestimmt nämlich, dass soweit der Bedarf des jungen Menschen durch Leistungen und vorläufige Maßnahmen nach dem SGB VIII gedeckt ist, dies bei der Berechnung des Unterhalts zu berücksichtigen ist. Daher hätte der Beklagte den Kläger nach § 92 Abs. 3 Satz 1 Hs. 2 SGB VIII darüber aufklären müssen, dass seine Unterhaltspflicht gegenüber seinem Sohn aufgrund der Gewährung der vollstationären Eingliederungshilfe entfallen ist, für den Zeitraum dieser Hilfegewährung also nicht besteht. Eine solche Aufklärung ist indessen nicht erfolgt.

5

Das "Merkblatt zum Antrag auf Gewährung von Jugendhilfe/Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch - Achtes Buch - (SGB VIII - Kinder- und Jugendhilfegesetz)" vom 1. August 2006, das der Beklagte dem Kläger und seiner Ehefrau bei der Stellung des Antrags auf Gewährung von Eingliederungshilfe für ihren Sohn am 30. März 2007 ausgehändigt hat, enthält die nach § 92 Abs. 3 Satz 1 Hs. 2 SGB VIII erforderliche Aufklärung nicht. Es liegt auf der Hand und bedarf daher keiner näheren Begründung, dass der in dem Merkblatt enthaltene Hinweis, dass "Zahlungen, die ab Beginn der Jugendhilfegewährung an das Kind/die Kinder und Jugendlichen oder Dritte geleistet werden, .... vom Jugendamt nicht anerkannt werden" können, den Anforderungen des § 92 Abs. 3 Satz 1 Hs. 2 SGB VIII nicht genügt, weil er nicht darüber aufklärt, dass die Unterhaltspflicht des Klägers gegenüber seinem Sohn während der Gewährung der vollstationären Eingliederungshilfe entfallen ist. Abgesehen davon hat das Verwaltungsgericht zutreffend darauf hingewiesen, dass der Auffassung des Beklagten, er habe durch das dem Kläger ausgehändigte Merkblatt seine Aufklärungspflicht hinreichend erfüllt, bereits der Umstand entgegen steht, dass eine den Anforderungen des § 92 Abs. 3 Satz 1 Hs. 2 SGB VIII genügende Aufklärung erst dann erfolgen kann, wenn darüber entschieden worden ist, welche Jugendhilfemaßnahme durchgeführt wird, weil die Folgen der Gewährung der Jugendhilfe für die Unterhaltspflicht des Kostenbeitragspflichtigen gegenüber dem Kind/Jugendlichen, über die aufzuklären ist, von der Art und dem Umfang der gewährten Jugendhilfe abhängig sind.

6

Die Begründung der Bewilligungsbescheide vom 26. April 2007 enthält ebenfalls nicht die notwendige Aufklärung über die Folgen der Gewährung der Jugendhilfe für die Unterhaltspflicht des Klägers gegenüber seinem Sohn. Der in der Begründung dieser Bescheide enthaltene Hinweis, dass der Lebensunterhalt des Kindes seit dem 16. April 2007 aus Jugendhilfemitteln sichergestellt wird, ist insoweit unzureichend. Entsprechendes gilt für den Hinweis in dem an den Kläger gerichteten Bescheid vom 27. April 2007, dass Zahlungen, die der Kläger ab dem Erhalt dieses Bescheides an das Kind oder Dritte leistet, von dem Beklagten nicht mehr anerkannt werden können.

7

Schließlich enthalten auch das Schreiben vom 18. März 2009, mit dem der Beklagte eine erneute Überprüfung der Einkommensverhältnisse des Klägers zur Festsetzung eines Kostenbeitrags eingeleitet hat, und der Kostenbeitragsbescheid vom 21. Juli 2009 keine den Maßgaben des § 92 Abs. 3 Satz 1 Hs. 2 SGB VIII genügende Aufklärung über die Folgen der Gewährung der Jugendhilfe für die Unterhaltspflicht des Klägers gegenüber seinem Sohn. Zwar enthält sowohl das Schreiben vom 18. März 2009 als auch der Bescheid vom 21. Juli 2009 den Hinweis, dass Unterhaltsansprüche des Kindes für den Zeitraum der Jugendhilfegewährung ruhen. Dieser Hinweis ist aber unzutreffend, weil Unterhaltsansprüche des Sohnes des Klägers gegen den Kläger während der Gewährung der stationären Eingliederungshilfe nicht nur geruht haben, d.h. nicht geltend gemacht werden konnten, sondern gar nicht bestanden. Darüber hinaus ist der Hinweis auch nicht eindeutig, da er von einem durchschnittlichen Empfänger nicht nur so verstanden werden kann, dass Unterhaltsansprüche für den Zeitraum der Hilfegewährung überhaupt nicht, also auch nicht rückwirkend, geltend gemacht werden können, sondern auch dahin ausgelegt werden kann, dass Unterhaltsansprüche während der Gewährung der vollstationären Eingliederungshilfe nur aufgeschoben sind, nach der Beendigung der vollstationären Eingliederungshilfe aber auch für den Zeitraum der Hilfegewährung geltend gemacht werden können. Folglich ist der Hinweis nicht geeignet, einem durchschnittlichen Empfänger die notwendige Klarheit über die Folgen der Gewährung der Jugendhilfe für seine Unterhaltspflicht zu verschaffen.

8

Die Annahme des Beklagten, dass im vorliegenden Fall entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts eine den Maßgaben des § 92 Abs. 3 Satz 1 Hs. 2 SGB VIII entsprechende Aufklärung des Klägers erfolgt sei, ist demnach unzutreffend.

9

Der Beklagte kann ferner nicht mit Erfolg einwenden, dass eine solche Aufklärung in den Fällen entbehrlich sei, in denen sie "augenscheinlich und nach allen lebenspraktischen Erfahrungen... ins Leere läuft". Es besteht nämlich kein Grund für die Annahme, dass die vorgeschriebene Aufklärung über die Folgen der Gewährung der Jugendhilfe für die Unterhaltspflicht im vorliegenden Fall überflüssig gewesen oder "ins Leere gelaufen" wäre, da eine zutreffende Aufklärung des Klägers über das Entfallen der Unterhaltspflicht dem Kläger Klarheit darüber verschafft hätte, dass er während der Gewährung der vollstationären Eingliederungshilfe seinem Sohn nicht unterhaltspflichtig ist und etwaige Zahlungen an das Kind ohne eine Rechtspflicht erfolgen. Dass der Kläger damals nicht auf Unterhalt in Anspruch genommen worden ist, ändert an dieser Beurteilung nichts. Der Schuldner soll durch § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII nämlich nicht nur davor geschützt werden, doppelt in Anspruch genommen zu werden, sondern auch davor, ungewollt doppelte Leistungen zu erbringen (vgl. Frankfurter Kommentar zum SGB VIII, 6. Auflage, § 92 Rn. 21).

10

Schließlich ergeben sich ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils auch nicht aus dem Vortrag des Beklagten, dass § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII nur solche Fälle erfasse, in denen die Unterhaltspflicht auf Geldleistungen gerichtet ist. Ein solcher Fall liegt hier nämlich vor, da der Kläger barunterhaltspflichtig gewesen wäre, wenn der Unterhaltsanspruch seines Sohnes während der Gewährung der Eingliederungshilfe nicht vollständig entfallen wäre. Dass der Kläger vor der stationären Eingliederungshilfe keinen Barunterhalt geleistet hat, stellt die Verpflichtung des Beklagten zur Aufklärung über die Folgen der Gewährung der Jugendhilfe für seine Unterhaltspflicht gegenüber seinem Sohn ebenfalls nicht in Frage.

11

Die Berufung kann entgegen der Auffassung des Beklagten auch nicht wegen besonderer rechtlicher Schwierigkeiten zugelassen werden. Zum einen hat der Beklagte nicht konkret dargelegt, aus welchen Gründen die Rechtsfragen, die sich im vorliegenden Verfahren stellen, nur unter besonderen, d.h. überdurchschnittlichen Schwierigkeiten zu klären sein sollen. Zum anderen wirft das vorliegende Verfahren auch keine Rechtsfragen auf, deren Beantwortung mit überdurchschnittlichen Schwierigkeiten verbunden ist.

12

Schließlich scheidet auch eine Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache aus.

13

Eine Rechtssache ist nur dann grundsätzlich bedeutsam, wenn sie eine höchstrichterlich oder obergerichtlich noch nicht beantwortete Rechtsfrage oder eine obergerichtlich bislang ungeklärte Tatsachenfrage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die sich im Rechtsmittelverfahren stellen würde und im Interesse der Einheit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer fallübergreifenden Klärung durch das Berufungsgericht bedarf (vgl. Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Kommentar, § 124 Rn. 30 ff. m.w.N.). Daher ist die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache nur dann im Sinne des § 124 a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegt, wenn eine derartige Frage konkret bezeichnet und darüber hinaus erläutert worden ist, warum diese Frage im angestrebten Berufungsverfahren entscheidungserheblich und klärungsbedürftig wäre und aus welchen Gründen ihre Beantwortung über den konkreten Einzelfall hinaus dazu beitrüge, die Rechtsfortbildung zu fördern oder die Rechtseinheit zu wahren (vgl. Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, § 124 a Rn. 103 ff. m.w.N.).

14

Diesen Darlegungsanforderungen wird die Antragsschrift schon deshalb nicht gerecht, weil der Beklagte keine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert hat, die im Rechtsmittelverfahren entscheidungserheblich wäre und im Interesse der Einheit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer fallübergreifenden Klärung durch das Berufungsgericht bedarf. Der Beklagte hat zur Begründung der behaupteten grundsätzlichen Bedeutung lediglich vorgetragen, die Rechtssache habe aufgrund der Vielzahl der bei ihn anhängigen Fälle und "der durch das Urteil absehbaren Einnahmeausfälle für die Kostenbeiträge zu teilstationären Hilfen auch grundsätzliche Bedeutung". Dieser Vortrag ist zur Darlegung des Zulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zweifelsohne nicht ausreichend. Im Übrigen weist die vorliegende Rechtssache aber auch keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO auf, da sich die entscheidungsrelevanten Fragen auch außerhalb eines Berufungsverfahrens ohne weiteres beantworten lassen.