Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 08.11.2011, Az.: 4 LB 156/11
Zulässigkeit der Ersetzung der von § 70 Abs. 1 S. 1 VwGO vorgeschriebenen Schriftform des Widerspruchs durch die elektronische Form der E-Mail; Erhebung einer Klage beim Verwaltungsgericht als gleichzeitigiger konkludenter Widerspruch
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 08.11.2011
- Aktenzeichen
- 4 LB 156/11
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2011, 32444
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2011:1108.4LB156.11.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Braunschweig - 04.03.2011 - AZ: 4 A 156/10
Rechtsgrundlagen
- § 68 Abs. 1 S. 1 VwGO
- § 69 VwGO
- § 70 Abs. 1 S. 1 VwGO
- § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 RGebStV
- § 3a Abs. 2 S. 1 VwVfG
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Die Ersetzung der von § 70 Abs. 1 Satz 1 VwGO vorgeschriebenen Schriftform des Widerspruchs durch die elektronische Form der E-Mail setzt voraus, dass das elektronische Dokument mit einer qualifizierten elektronischen Signatur nach dem Signaturgesetz versehen ist.
- 2.
In der Erhebung einer Klage beim Verwaltungsgericht liegt nicht gleichzeitig ein konkludenter Widerspruch. Die Klageerhebung kann auch nicht in einen Widerspruch umgedeutet werden. Die Einlegung des Widerspruchs wird durch die Erhebung einer Klage überdies nicht ersetzt.
Gründe
I.
Der Kläger begehrt seine Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht.
Der Kläger war zuletzt bis zum 31. Januar 2010 nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 RGebStV von der Rundfunkgebührenpflicht befreit. Unter dem 6. Januar 2010 stellte er einen weiteren Befreiungsantrag wegen des Bezugs von Sozialgeld bzw. Arbeitslosengeld II. Diesem Antrag fügte er eine Bescheinigung der Arbeitsgemeinschaft für Beschäftigungsförderung B. bei, der zufolge seiner Tochter C. Sozialgeld bzw. Arbeitslosengeld II einschließlich Leistungen nach § 22 SGB II für den Zeitraum vom 1. Februar 2010 bis zum 31. Juli 2010 bewilligt worden war.
Der Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom 3. Februar 2010 mit der Begründung ab, dass eine Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht nach § 6 Abs. 1 Satz 2 RGebStV nur dann in Betracht käme, wenn der Haushaltsvorstand oder sein Ehegatte die Befreiungsvoraussetzung erfüllte, was hier nicht der Fall sei. Ein Haushaltsangehöriger könne nur befreit werden, wenn er selbst Rundfunkgeräte zum Empfang bereit halte. Die beantragte Gebührenbefreiung für die gemeinsam zum Empfang bereit gehaltenen Rundfunkgeräte werde abgelehnt.
Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 22. Februar 2010 per E-Mail Widerspruch mit der Begründung ein, dass eine Bedarfsgemeinschaft bestehe.
Der Beklagte wies diesen Widerspruch durch Bescheid vom 20. Mai 2010 mit der Begründung zurück, dass der Widderspruch unzulässig sei, weil das elektronisch übersandte Schreiben nicht mit einer qualifizierten Signatur versehen gewesen sei und daher dem Schriftformerfordernis nicht genügt habe. Im Übrigen wäre der Widerspruch aber auch in der Sache nicht begründet gewesen.
Mit Schreiben vom 7. Juni 2010 hat der Kläger beim Verwaltungsgericht "Widerspruch/Einspruch" gegen den Bescheid des Beklagten vom 20. Mai 2010 eingelegt. Zur Begründung hat der Kläger ausgeführt, dass er und seine Tochter eine Bedarfsgemeinschaft bildeten. Er erhalte das Kindergeld und Leistungen der ARGE. Deshalb sei ihm auch wie in den letzten Jahren eine Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht zu erteilen.
Der Kläger hat beantragt,
den Bescheid vom 3. Februar 2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20. Mai 2010 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihm eine Rundfunkgebührenbefreiung für den Zeitraum Februar 2010 bis Januar 2011 zu erteilen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen,
und seine Ausführungen im Widerspruchsbescheid vertieft.
Das Verwaltungsgericht hat durch Urteil vom 4. März 2011 den Bescheid vom 3. Februar 2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20. Mai 2010 aufgehoben und den Beklagten verpflichtet, dem Kläger Rundfunkgebührenbefreiung für den Zeitraum Februar 2010 bis Januar 2011 zu erteilen. Zur Begründung dieser Entscheidung hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, dass die Verpflichtungsklage zulässig sei. Zwar habe der Kläger den Widerspruch gegen den die Befreiung ablehnenden Bescheid nicht in der erforderlichen Schriftform erhoben, weil die E-Mail nicht mit einer digitalen Signatur versehen gewesen sei. Er habe seine Klageschrift vom 7. Juni 2010 aber als "Einspruch/Widerspruch" bezeichnet, so dass auch von einer wirksamen Widerspruchserhebung auszugehen sei, auf die sich der Beklagte mit seiner Klageerwiderung - wenn auch nur vorsorglich - sachlich eingelassen habe. Der Kläger habe auch die Widerspruchsfrist eingehalten, weil die dem Bescheid vom 3. Februar 2010 beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung fehlerhaft gewesen sei und daher die Jahresfrist des § 58 Abs. 2 VwGO gegolten habe. Die Klage sei auch begründet, da dem Kläger eine Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht für den Zeitraum von Februar 2010 bis Januar 2011 nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 RGebStV zu erteilen sei. Der Kläger habe einen Bescheid der Arbeitsgemeinschaft für Beschäftigungsförderung über Leistungen nach dem SGB II vorgelegt. Dieser Bescheid sei offenbar nur versehentlich an seine minderjährige Tochter adressiert worden. Richtig wäre es gewesen, den Leistungsbescheid an den Kläger als erziehungsberechtigten Haushaltsvorstand zu richten. Der Sache nach habe sich die Arbeitsgemeinschaft auch entsprechend verhalten, weil sie Zahlungen auf ein Konto des Klägers bewirkt habe.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung des Beklagten vom 24. Juni 2011, die der Senat durch Beschluss vom 17. Juni 2011 (4 LA 98/11) wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung zugelassen hat.
Zur Begründung der Berufung trägt der Beklagte im Wesentlichen vor, das Verwaltungsgericht habe die Verpflichtungsklage zu Unrecht als zulässig angesehen. Voraussetzung für die Zulässigkeit der Klage wäre die frist- und formgerechte Einlegung eines Widerspruchs durch den Kläger gewesen, an der es fehle. Das Widerspruchsschreiben des Klägers vom 22. Februar 2010 habe dem Schriftformerfordernis des § 70 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht entsprochen. Die Klageschrift des Klägers könne auch nicht als Widerspruch angesehen werden. Selbst wenn dies anders wäre, wäre der Widerspruch nicht rechtzeitig erhoben worden. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sei die dem Bescheid vom 3. Februar 2010 beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung korrekt erfolgt, so dass die Monatsfrist des § 70 Abs. 1 Satz 1 VwGO zu beachten gewesen wäre.
Der Beklagte beantragt sinngemäß,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig - Einzelrichter der 4. Kammer - vom 4. März 2011 zu ändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger hat keinen Antrag gestellt, hält die Berufung aber für nicht begründet.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten (Beiakten A und B) Bezug genommen.
II.
Die Berufung des Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil ist begründet.
Diese Entscheidung trifft der Senat nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 130 a Satz 1 VwGO durch Beschluss, weil er die Berufung des Beklagten einstimmig für begründet hält und eine mündliche Verhandlung nicht als notwendig erachtet.
Das Verwaltungsgericht hat der auf die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht gerichtete Verpflichtungsklage zu Unrecht stattgegeben. Denn die Klage ist entgegen der Annahme der Vorinstanz nicht zulässig.
Nach § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO sind Rechtsmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsakts vor der Erhebung einer Anfechtungsklage in einem Vorverfahren nachzuprüfen. Einer solchen Nachprüfung bedarf es nach § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO nur dann nicht, wenn der Verwaltungsakt von einer obersten Bundesbehörde oder einer obersten Landesbehörde erlassen worden ist, außer wenn ein Gesetz die Nachprüfung vorschreibt, oder wenn der Abhilfebescheid oder der Widerspruchsbescheid erstmalig eine Beschwer enthält. Nach § 68 Abs. 2 VwGO gelten diese Regelungen für die Verpflichtungsklage entsprechend, wenn der Antrag auf Vornahme des Verwaltungsakts abgelehnt worden ist. Danach bedurfte es im vorliegenden Fall der Durchführung eines Vorverfahrens, weil der Beklagte den Antrag des Klägers auf Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht durch Bescheid vom 3. Februar 2010 abgelehnt hat.
Das Vorverfahren beginnt nach § 69 VwGO mit der Erhebung des Widerspruchs, der nach § 70 Abs. 1 Satz 1 VwGO innerhalb eines Monats, nachdem der Verwaltungsakt dem Beschwerten bekannt gegeben worden ist, schriftlich oder zur Niederschrift bei der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen hat, einzulegen ist. Die Wahrung der vorgeschriebenen Form und Frist des Widerspruchs ist als wesentliche Voraussetzung einer ordnungsgemäßen Durchführung des Vorverfahrens eine Sachurteilsvoraussetzung für eine spätere Klage (Kopp/Schenke, VwGO, Kommentar, 16. Aufl., § 70 Rn. 1; Vorb. § 68 Rn. 7 m.w.N.). Bei Nichteinhaltung der Maßgaben des § 70 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist die Klage demnach unzulässig (Sodan/Ziekow, VwGO, Kommentar, § 70 Rn. 1).
Ein solcher Fall liegt hier vor. Denn der Kläger hat gegen den Bescheid des Beklagten vom 3. Februar 2010, mit dem sein Antrag auf Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht abgelehnt worden ist, keinen formgerechten Widerspruch erhoben.
Der Kläger hat zwar am 22. Februar 2010 per E-mail gegen den o. a. Bescheid Widerspruch eingelegt. Dieser Widerspruch hat dem Schriftformerfordernis des § 70 Abs. 1 Satz 1 VwGO jedoch nicht entsprochen. § 3 a Abs. 2 Satz 1 VwVfG sieht zwar vor, dass eine durch Rechtsvorschrift angeordnete Schriftform durch die elektronische Form ersetzt werden kann, soweit nicht durch Rechtsvorschrift etwas anderes bestimmt ist. Die Ersetzung der vorgeschriebenen Schriftform durch die elektronische Form der E-mail setzt nach § 3 a Abs. 2 Satz 2 VwVfG indessen voraus, dass das elektronische Dokument mit einer qualifizierten elektronischen Signatur nach dem Signaturgesetz versehen ist (Posser/Wolff, VwGO, Kommentar, § 70 Rn. 11; Bay. VGH, Urt. v. 16.6.2007 - 11 CS 06.1959 -), woran es hier fehlt. Folglich hat der Kläger mit der E-mail vom 22. Februar 2010 keinen formgerechten Widerspruch gegen den Bescheid des Beklagten vom 3. Februar 2010 eingelegt (vgl. Posser/Wolff, § 70 Rn. 11 m.w.N.).
Der Kläger hat auch mit seinem am 9. Juni 2010 beim Verwaltungsgericht eingegangenen Schreiben vom 7. Juni 2010 keinen formgerechten Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid des Beklagten erhoben.
Das Schreiben des Klägers vom 7. Juni 2010 stellt zweifelsohne eine Klageschrift und keinen Widerspruch dar. Der Kläger hat in diesem Schreiben zwar ausgeführt, dass er gegen den Bescheid vom 20. Mai 2010 fristgerecht "Widerspruch/Einspruch" einlege. Die Verwendung der Begriffe "Widerspruch" bzw. "Einspruch" steht der Auslegung des Schreibens als Klageschrift aber nicht entgegen, weil das Schreiben an das Verwaltungsgericht und nicht den Beklagten gerichtet ist und weil aus ihm zweifelsfrei hervorgeht, dass der Kläger eine gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Bescheides des Beklagten vom 20. Mai 2010 begehrt. Dementsprechend hat das Verwaltungsgericht dieses Schreiben auch zutreffend als Klageschrift angesehen. Von einer Klageerhebung ist ersichtlich auch der Kläger selbst ausgegangen, da er mit Schreiben vom 9. August 2010 unter Bezugnahme auf die richterliche Verfügung vom 29. Juli 2010 ausdrücklich erklärt hat, er nehme "keine Klage zurück".
Die Klageschrift vom 7. Juni 2010 kann auch nicht zugleich als Widerspruch gewertet werden. In der Erhebung einer Klage beim Verwaltungsgericht liegt nämlich nicht gleichzeitig ein konkludenter Widerspruch, der nach § 70 Abs. 1 Satz 1 VwGO bei der den Verwaltungsakt erlassenden Behörde zu erheben wäre (Sodan/Ziekow, § 70 Rn. 37; Eyermann, VwGO, Kommentar, 16. Aufl., § 70 Rn. 16). Etwas anderes ist allenfalls dann zu erwägen, wenn in dem Schreiben mit hinlänglicher Deutlichkeit zugleich der Wunsch nach Einleitung eines förmlichen Widerspruchverfahrens nach § 68 ff. VwGO bei der Behörde zum Ausdruck gebracht wird (OVG Hamburg, Urt. v. 28.7.1995 - Bf IV 14/94 -, NVwZ-RR 1996, 397), was hier jedoch nicht der Fall ist. Die Klageerhebung kann ferner nicht in einen Widerspruch umgedeutet werden (vgl. Sodan/Ziekow § 69 Rn. 1, 12). Die Einlegung des Widerspruchs wird durch die Erhebung einer Klage auch nicht ersetzt (Kopp/Schenke, § 70 Rn. 3 m.w.N.).
Folglich erweist sich die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass das Schreiben des Klägers vom 7. Juni 2010 nicht nur eine Klage, sondern auch einen Widerspruch gegen den Bescheid von 3. Februar 2010 enthalte, als verfehlt.
Dass der Kläger mit dem o. a. Schreiben keinen Widerspruch gegen den Bescheid von 3. Februar 2010 eingelegt hat, ergibt sich im Übrigen aber auch daraus, dass er in diesem Schreiben ausgeführt hat, gegen den Bescheid des Beklagten vom 20. Mai 2010 "Widerspruch/Einspruch" einzulegen. Bei dem Bescheid vom 20. Mai 2010 handelt es sich aber nicht um den Ablehnungsbescheid des Beklagten, sondern um den Widerspruchsbescheid, mit dem der Beklagte den Widerspruch des Klägers mangels Einhaltung des Schriftformerfordernisses als unzulässig zurückgewiesen hat. Auch dieser Umstand steht der Annahme entgegen, der Kläger habe mit seinem Schreiben vom 7. Juni 2010 gegen den Bescheid von 3. Februar 2010 Widerspruch einlegen wollen.
Der Kläger hat schließlich auch nach der Klageerhebung innerhalb der Jahresfrist des § 58 Abs. 2 VwGO, die er selbst bei einer unrichtigen Rechtsbehelfsbelehrung durch den Beklagten hätte einhalten müssen, keinen formgerechten Widerspruch gegen den Bescheid des Beklagten vom 3. Februar 2010 erhoben.
Nach alledem ist die Verpflichtungsklage mangels Einlegung eines formgerechten Widerspruchs gegen den Ablehnungsbescheid des Beklagten unzulässig.