Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 08.12.2014, Az.: 4 LA 46/14

Aufklärung; Belehrung; Eltern; Heimerziehung; Inobhutnahme; Kostenbeitrag; Leistungsart; Mitteilung; Unterhaltspflicht

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
08.12.2014
Aktenzeichen
4 LA 46/14
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2014, 42604
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 16.12.2013 - AZ: 3 A 106/12

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

§ 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII, wonach ein Kostenbeitrag bei Eltern, Ehegatten und Lebenspartnern ab dem Zeitpunkt erhoben werden kann, ab welchem dem Pflichtigen die Gewährung der Leistung mitgeteilt und er über die Folgen für seine Unterhaltspflicht gegenüber dem jungen Menschen aufgeklärt wurde, ist auch bei der Inobhutnahme eines Minderjährigen gemäß § 42 SGB VIII anwendbar.

2. Bei einem Wechsel der gewährten Jugendhilfeleistung hat eine erneute Belehrung nach § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII zu erfolgen, in der die neue Leistungsart benannt wird.

3. Bei der Belehrung nach § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII handelt es sich um eine allgemeine Tatbestandsvoraussetzung für die Beitragserhebung, die nicht nach dem individuellen Kenntnisstand oder der Vorbildung der kostenbeitragspflichtigen Person differenziert.

Tenor:

Auf den Antrag des Klägers wird die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig - Einzelrichterin der 3. Kammer - vom 16. Dezember 2013 zugelassen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung ist begründet, weil aus den von ihm dargelegten Gründen ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des klageabweisenden Urteils des Verwaltungsgerichts (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) bestehen.

Diese ergeben sich daraus, dass der Beklagte dem Kläger jeweils erst nach dem Ende der beiden hier in Rede stehenden Zeiträume gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII die Gewährung der Leistung mitgeteilt und ihn über die Folgen für seine Unterhaltspflicht gegenüber seiner Tochter aufgeklärt hat. Da diese gesetzlich angeordnete Aufklärung eine materiell-rechtliche Tatbestandsvoraussetzung für die Erhebung eines Kostenbeitrags darstellt (vgl. Senatsbeschl. v. 21.11.2011 - 4 LA 40/11 - m.w.N.), darf deshalb vom Kläger für die streitigen Zeiträume ein Kostenbeitrag nicht erhoben werden.

Der Senat teilt betreffend die Erhebung eines Kostenbeitrags für den Zeitraum vom 6. bis zum 25. Oktober 2010 nicht die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII auf die Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen nach § 42 SGB VIII nicht anwendbar sei (wie hier Kunkel/Kepert, in: LPK-SGB VIII, 5. Aufl. 2014, Rn. 17; dazu tendierend auch OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 24.10.2014 - 7 D 10511/14 -). Der Wortlaut von § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII, der von einer Mitteilung über die Gewährung der „Leistung“ spricht, schließt eine Anwendung auf die Inobhutnahme nicht aus. Zwar unterscheidet § 2 SGB VIII zwischen den Leistungen und den anderen Aufgaben der Jugendhilfe, wobei die Inobhutnahme nicht zu den Leistungen, sondern gemäß Abs. 3 Nr. 1 der Regelung zu den anderen Aufgaben der Jugendhilfe gezählt wird. Ferner nennt § 91 Abs. 1 SGB VIII als Gegenstände von Kostenbeiträgen einerseits vollstationäre Leistungen, andererseits vorläufige Maßnahmen, wobei mit vorläufigen Maßnahmen offenkundig in Anknüpfung an die Überschrift des ersten Abschnitts des dritten Kapitels des SGB VIII die Inobhutnahme gemeint ist. Jedoch zeigt die amtliche Begründung des Gesetzentwurfs, auf dem § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII beruht (vgl. BT-Drs. 15/3676, S. 41), dass der Gesetzgeber bei der Formulierung der Vorschrift nicht bewusst an diese begrifflichen Differenzierungen anknüpft hat und insbesondere nicht den Zweck verfolgt hat, die Inobhutnahme vom Anwendungsbereich des § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII auszunehmen. Darin heißt es:

„§ 10 Abs. 2 sieht ausdrücklich vor, dass die durch die Jugendhilfe eingetretene Bedarfsdeckung bei der Berechnung des Unterhalts (mindernd) zu berücksichtigen ist. Um zu verhindern, dass ein Unterhaltspflichtiger seiner Barunterhaltspflicht in unveränderter Höhe nachkommt, aber für den gleichen Zeitraum mit einem Kostenbeitrag belastet wird, hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe (in Anlehnung an § 94 Abs. 3 SGB XII und § 7 Abs. 2 UVG) die Pflicht, den Unterhalts- und Kostenbeitragspflichtigen über die Gewährung der Leistung zu unterrichten und über die Folgen für die Unterhaltspflicht aufzuklären.“

Der darin zum Ausdruck kommende Gesetzeszweck des § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII spricht für die uneingeschränkte Anwendung der Regelung auf die Inobhutnahme, denn die Gefahr einer Doppelbelastung der unterhaltspflichtigen Person durch Unterhaltsleistung und Zahlung eines Kostenbeitrags besteht bei dieser Maßnahme ebenso wie bei anderen kostenbeitragspflichtigen Jugendhilfeleistungen.

Eine ausreichende Mitteilung im Sinne von § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII, die zumindest eine Kostenbeitragserhebung ab dem 14. Oktober 2010 ermöglicht, liegt auch nicht in der Aushändigung des vom Kläger unter dem 14. Oktober 2010 unterzeichneten Merkblatts durch den Beklagten. Ist ein Elternteil - wie hier der Kläger - gegenüber dem Minderjährigen, der Jugendhilfeleistungen erhält, naturalunterhaltspflichtig, muss die Aufklärung über die unterhaltsrechtlichen Folgen der Leistungsgewährung zumindest beinhalten, dass die Jugendhilfeleistung unterhaltsrechtlich entlastende Auswirkungen hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 11.10.2012 - 5 C 22.11 -, BVerwGE 144, 313). Einen derartigen Hinweis enthält das Merkblatt nicht.

An einem den Anforderungen des § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII genügenden Hinweis fehlt es auch, soweit die Erhebung eines Kostenbeitrags für den Zeitraum vom 1. bis zum 29. Dezember 2010 in Rede steht. Dem Verwaltungsgericht kann nicht darin gefolgt werden, dass für diesen Zeitraum ein ausreichender Hinweis schon in dem Schreiben des Beklagten vom 25. Oktober 2010 zu sehen ist.

§ 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII verlangt, dass dem Pflichtigen erstens die Gewährung der Leistung mitgeteilt und er zweitens über die Folgen der Leistungsgewährung für seine Unterhaltspflicht aufgeklärt wird; über den Wortlaut der Vorschrift hinaus ist drittens auch ein deutlicher Hinweis auf die mögliche Kostenbeitragspflicht erforderlich (vgl. BVerwG, a.a.O.). Die Mitteilung über die Gewährung der Leistung ist im Gesetz deshalb vorgesehen, weil an die jugendhilferechtliche Leistungserbringung unterhaltsrechtliche und kostenbeitragsrechtliche Folgen anknüpfen, über die zu belehren ist. Insbesondere die kostenbeitragsrechtlichen Folgen erfordern es, dass in dem Hinweis auf die Gewährung der Leistung die konkrete Art der im Einzelfall erbrachten Jugendhilfeleistung genannt wird. Denn nur bei einer konkreten Bezeichnung der Leistung wird der Empfänger der Mitteilung in die Lage versetzt, aus ihrem Inhalt nachzuvollziehen, dass die Leistungsgewährung gemäß § 91 Abs. 1 und 2 SGB VIII eine Kostenbeitragspflicht auszulösen vermag und dass er zu dem nach § 92 Abs. 1 SGB VIII gerade für diese Einzelleistung festgelegten Kreis der beitragspflichtigen Personen gehört (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 13.3.2012 - 12 A 1662/11 -). Daraus folgt zugleich, dass bei einem Wechsel der für den Minderjährigen gewährten Jugendhilfeleistung eine erneute Belehrung nach § 92 Abs. 3 SGB VIII zu erfolgen hat, in der die neue Leistungsart benannt wird, und dass eine Kostenbeitragserhebung ab dem Wechsel der Leistungsart bis zu dem Zeitpunkt der erneuten Belehrung ausscheidet. Das muss insbesondere dann gelten, wenn der Minderjährige - wie hier die Tochter des Klägers - vom Jugendamt zunächst auf der Grundlage von § 42 SGB VIII in Obhut genommen worden ist und sich daran die Gewährung einer anderen Jugendhilfeleistung - hier Hilfe zur Erziehung in Form der Heimerziehung gemäß §§ 27, 34 SGB VIII - anschließt. Denn die Belehrung nach § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII soll es naturalunterhaltspflichtigen Eltern auch ermöglichen, im Hinblick auf die drohende Kostenbeitragspflicht vermögensrechtliche Dispositionen zu treffen, insbesondere Rücklagen für die Beitragszahlung zu bilden (vgl. BVerwG, a.a.O.). Insoweit besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen der Inobhutnahme als einer vorläufigen Maßnahme, die nach ihrem Wesen auf einen kurzen Zeitraum von wenigen Tagen oder Wochen angelegt ist (vgl. § 42 Abs. 3 SGB VIII), und längerfristig angelegten Jugendhilfeleistungen wie der Heimerziehung nach § 34 SGB VIII, denn bei einer Inobhutnahme muss sich ein naturalunterhaltspflichtiger Elternteil wegen der vorläufigen Natur und der absehbar kurzen Dauer dieser Maßnahme vorerst nur in geringem Umfang in seiner wirtschaftlichen Lebensgestaltung auf die Kostenbeitragspflicht einstellen.

Hieraus folgt, dass das Aufklärungsschreiben des Beklagten vom 25. Oktober 2010, das sich nach seinem Inhalt ausdrücklich nur auf die Inobhutnahme der Tochter des Klägers bezieht, die Erhebung eines Kostenbeitrags nur für die weitere Dauer der Inobhutnahme, also bis einschließlich zum 30. November 2010 ermöglicht. Für die Zeit ab dem 1. Dezember 2010, ab dem für die Tochter des Klägers Hilfe zur Erziehung in Form der Heimerziehung gewährt worden ist, war für die Erhebung eines Kostenbeitrags ein neuer Hinweis gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII erforderlich, wie ihn der Beklagte dem Kläger mit Schreiben vom 29. Dezember 2010 (zugestellt am 30. Dezember 2010) schließlich auch erteilt hat.

Ohne Bedeutung ist insoweit, dass es dem Kläger aufgrund seines jugendhilferechtlichen Leistungsantrags und seiner Beteiligung an der Hilfeplanung bekannt war, dass seine Tochter auch über den 30. November 2010 hinaus in der stationären Einrichtung Wohngruppe B. verbleiben würde und er als Volljurist die daran anknüpfenden unterhaltsrechtlichen und beitragsrechtlichen Konsequenzen eventuell auch ohne erneute Belehrung überblicken konnte. Bei der Belehrung nach § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII handelt es sich um eine allgemein geltende Tatbestandsvoraussetzung für die Beitragserhebung, die nicht nach dem individuellen Kenntnisstand und der Vorbildung der kostenbeitragspflichtigen Person differenziert. Die Aufklärungsregelung des § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII gilt auch gegenüber naturalunterhaltspflichtigen Eltern, die - wie der Kläger - vor der jugendhilferechtlichen Leistungserbringung mit dem Minderjährigen in einem gemeinsamen Haushalt gelebt haben (vgl. BVerwG, a.a.O.), also für einen Personenkreis, dem in aller Regel in tatsächlicher Hinsicht die voll- oder teilstationäre Betreuung des Kindes oder Jugendlichen außerhalb des Elternhauses in einer Jugendhilfeeinrichtung und die damit einhergehende Erbringung von Unterhaltsleistungen durch diese Einrichtung bekannt sein wird.

Das Antragsverfahren wird unter dem neuen Aktenzeichen

4 LB 305/14

als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht (§ 124 a Abs. 5 Satz 5 VwGO).

Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Beschlusses zu begründen. Die Begründung ist bei dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht, Uelzener Straße 40, 21335 Lüneburg, einzureichen (§ 124 a Abs. 6 VwGO).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).