Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 28.07.2023, Az.: 7 ME 51/23

Begründungsdefizit; Gemeinschaftslizenz; Güterkraftverkehr; sofortige Vollziehung; Verkehrsleiter; Zu den Anforderungen an die Begründung für die Anordnung der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
28.07.2023
Aktenzeichen
7 ME 51/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 28842
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2023:0728.7ME51.23.00

Verfahrensgang

vorgehend
VG Braunschweig - 13.06.2023 - AZ: 6 B 138/23

Tenor:

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Braunschweig - 6. Kammer - vom 13. Juni 2023 geändert.

Die Anordnung der sofortigen Vollziehung des Bescheides des Antragsgegners vom 21. März 2023 wird aufgehoben.

Im Übrigen wird die Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts zurückgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens tragen die Beteiligten je zur Hälfte.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 15.000 EUR festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Braunschweig vom 13. Juni 2023, mit dem dieses den Antrag der Antragstellerin auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen den mit einer Anordnung der sofortigen Vollziehung versehenen Bescheid des Antragsgegners vom 21. März 2023 abgelehnt hat, hat zum Teil Erfolg. Mit dem Bescheid vom 21. März 2023 hat der Antragsgegner der Antragstellerin die ihr am 6. Oktober 2020 mit Befristung bis zum 5. Oktober 2030 erteilte Gemeinschaftslizenz für den grenzüberschreitenden Güterkraftverkehr nebst 17 beglaubigten Kopien dieser Lizenz entzogen und der Antragstellerin aufgegeben, die Kopien unverzüglich, spätestens jedoch innerhalb einer Woche nach Zustellung des Bescheids zurückzugeben.

Die Beschwerdebegründung, auf deren Prüfung das Beschwerdegericht - hinsichtlich der gegen die Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung sprechenden Gründe (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 25.11.2004 - 8 S 1870/04 -, NVwZ-RR 2006, 75) - nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, führt zu einem Teilerfolg der Beschwerde. Sie führt zur Aufhebung der Anordnung der sofortigen Vollziehung (1.). Im Übrigen, d.h. soweit die Antragstellerin die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen den Bescheid vom 21. März 2023 begehrt, ist die Beschwerde unbegründet (2.).

1. Die Antragstellerin beanstandet zu Recht, dass die Begründung für die Anordnung der sofortigen Vollziehung des angefochtenen Bescheids nicht den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO genügt. Nach dieser Vorschrift ist in den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO - wie hier - das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Diesem Erfordernis ist nicht schon dann genügt, wenn überhaupt eine Begründung für die Vollziehungsanordnung gegeben wird. Die schriftliche Begründung kann durchaus knapp sein, sie muss aber in nachvollziehbarer Weise erkennen lassen, weshalb im konkreten Fall ausnahmsweise die gemäß § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO grundsätzlich geltende aufschiebende Wirkung der Klage ausgeschlossen werden soll, weshalb also das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung überwiegt, und zudem die Ermessenserwägungen darlegen, die die Behörde zur Anordnung der sofortigen Vollziehung bewogen haben (vgl. Gersdorf in: BeckOK VwGO, 65. Ed. 01.07.2021, § 80 Rn. 87). Das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung muss dabei im Regelfall über das Interesse hinausgehen, das den Erlass des Verwaltungsakts selbst rechtfertigt, also ein qualitativ anderes Interesse darstellen. Erforderlich ist ein besonderes Interesse gerade an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts. Es geht nicht um ein gesteigertes Interesse am Erlass des Verwaltungsakts, sondern es müssen besondere Gründe dafür sprechen, dass der Verwaltungsakt sofort und nicht erst nach Eintritt der Bestands- und Rechtskraft verwirklicht, umgesetzt oder vollzogen wird. Es muss eine besondere Dringlichkeit oder Eilbedürftigkeit für die sofortige Verwirklichung des Verwaltungsakts vorliegen (vgl. Gersdorf, a.a.O., § 80 Rn. 99). Das Begründungserfordernis des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO ist demgemäß erfüllt, wenn eine auf die Umstände des konkreten Falles bezogene Darstellung des Interesses an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts gegeben ist, aus der sich ergibt, dass und warum die Verwaltungsbehörde in diesem konkreten Fall dem Vollzugsinteresse Vorrang vor dem Aufschubinteresse des Betroffenen einräumt (Beschlüsse des Senats vom 07.11.2017 - 7 ME 91/17 -, juris, und vom 03.07.2019 - 7 ME 27/19 -, juris).

Der Bescheid vom 21. März 2023 wird diesen Anforderungen nicht gerecht. Zur Anordnung der sofortigen Vollziehung wird darin ausgeführt, diese sei erforderlich und im öffentlichen Interesse, damit nicht durch die aufschiebende Wirkung eines eventuell eingelegten Rechtsbehelfs die Antragstellerin weiterhin die Ausübung von grenzüberschreitendem Güterkraftverkehr betreiben könne. Das Allgemeinwohl und öffentliche Interesse an einer rechtmäßigen Durchführung von gewerblichem Güterkraftverkehr sei angesichts der fehlenden Genehmigungsvoraussetzungen höher zu bewerten als das Interesse der Antragstellerin an der Fortführung des Unternehmens. Hier werde von der Antragstellerin ein Gewerbe betrieben, ohne dass die dafür vorgeschriebenen Genehmigungsvoraussetzungen erfüllt seien. Das Interesse der Allgemeinheit an der Herstellung rechtmäßiger Zustände überwiege deutlich das Interesse der Antragstellerin, weiterhin genehmigungspflichtigen Güterkraftverkehr auszuüben, sowie den damit verbundenen Gewinnerzielungsabsichten. Mit dieser Begründung wiederholt der Antragsgegner lediglich Argumente, die die Entziehung der Gemeinschaftslizenz gemäß Art. 7 Abs. 2 Buchst. a) der Verordnung (EG) Nr. 1072/2009 in Verbindung mit § 3 Abs. 5 GüKG tragen. Weshalb ein besonderes öffentliches Interesse daran bestehen soll, dass der Verwaltungsakt mit sofortiger Wirkung durchgesetzt werden soll, erschließt sich aus der Begründung nicht. Insbesondere genügt es nicht, auf die Wiederherstellung rechtmäßiger Zustände zu verweisen. Denn darauf zielt gerade der Verwaltungsakt selbst, d.h. die Entziehungsanordnung nebst der Rückgabeverpflichtung hinsichtlich der Gemeinschaftslizenz mit allen beglaubigten Kopieren, ab. Soweit es die Abwägung der widerstreitenden Interessen der Beteiligten betrifft, d.h. des öffentlichen Vollzugsinteresses einerseits mit dem privaten Interesse der Antragstellerin an einer Suspendierung der sofortigen Vollziehbarkeit andererseits, beschränkt sich die Begründung auf die Feststellung, dass das öffentliche Interesse höher zu bewerten sei bzw. gegenüber dem Aussetzungsinteresse der Antragstellerin deutlich überwiege. Eine Begründung dafür, warum dies der Fall sein soll, fehlt gänzlich.

Der Senat sieht sich dazu veranlasst, die Anordnung der sofortigen Vollziehung wegen des formellen Begründungsdefizits aufzuheben. Eine Befugnis, die Begründung auszuwechseln oder abzuändern, steht dem Senat nicht zu (vgl. BVerwG, Beschluss vom 18.09.2001 - 1 DB 26.01 -, juris). Dem Antragsgegner steht es indes offen, die Anordnung mit zutreffender Begründung erneut auszusprechen, wobei dazu kein Abänderungsverfahren gemäß § 80 Abs. 7 VwGO durchgeführt werden müsste (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 13.06.2022 - 1 ME 38/22 -, juris; Hoppe in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 98 m.w.N.).

2. Die Beschwerde der Antragstellerin ist nicht auf die Änderung der erstinstanzlichen Entscheidung mit dem Ziel einer Aufhebung der Anordnung der sofortigen Vollziehung beschränkt. Vielmehr ergibt sich aus der Beschwerdebegründung, dass die Antragstellerin (weiterhin) den Bescheid vom 21. März 2023 insgesamt für rechtswidrig erachtet und die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gemäß § 80 Abs. 5 VwGO begehrt. In diesem - weitergehenden - Umfang hat die Beschwerde keinen Erfolg. Die dargelegten Gründe gebieten insoweit keine Änderung der Entscheidung des Verwaltungsgerichts (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO).

Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, in materiell-rechtlicher Hinsicht bestehe keine Veranlassung, die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage der Antragstellerin wiederherzustellen. Die nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 2 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung gehe hier zu Lasten der Antragstellerin aus, denn bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung erwiesen sich die Entziehung der noch bis zum 5. Oktober 2030 befristeten Gemeinschaftslizenz für den grenzüberschreitenden Güterkraftverkehr und der 17 beglaubigten Kopien der Lizenz sowie die Aufforderung, diese unverzüglich, spätestens innerhalb einer Woche nach Zustellung zurückzugeben, als rechtmäßig. Auf die Begründung des Verwaltungsgerichts (Beschlussabdruck S. 13 ff.) wird Bezug genommen. Der Senat schließt sich ihr an (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO).

Die gegen die materiell-rechtliche Beurteilung des Verwaltungsgerichts geäußerte Kritik der Antragstellerin überzeugt nicht. Ihr Vortrag, sämtliche Unterlagen, die der Antragsgegner zuletzt gefordert habe, lägen vor und inzwischen habe sie auch einen Verkehrsleiter beschäftigt, ist unerheblich. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, kommt es für die Beurteilung maßgeblich auf den Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung an (vgl. Bayerischer VGH, Beschluss vom 24.01.2011 - 11 CS 11.37 -, juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12.04.2013 - 13 B 255/13 -, juris; Beschluss des Senats vom 03.11.2017 - 7 LA 58/17 -, V.n.b.), d.h. hier auf den Bescheiderlass am 21. März 2021. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Antragstellerin die von ihr anlässlich eines Gesprächstermins bei dem Antragsgegner am 9. Februar 2023 unter Fristsetzung nachgeforderten Unterlagen und Nachweise nicht beigebracht. Der Antragsgegner hatte die Antragstellerin bereits zuvor wiederholt und nachdrücklich auf die Mängel in ihrem Betrieb hingewiesen und ihr zuletzt - am 9. Februar 2023 - Gelegenheit bis zum 23. Februar 2023 eingeräumt, die zur Abwendung des Bescheides erforderlichen Nachweise zu liefern bzw. Unterlagen einzureichen. Nach Verstreichen der Frist hat der Antragsgegner auch nicht sofort entschieden, sondern - wie dargelegt - erst nach Ablauf weiterer Wochen am 21. März 2023. In diesem Zeitpunkt hat es, wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, an den Voraussetzungen für die Erteilung einer Gemeinschaftslizenz gefehlt, damit lagen auch die Voraussetzungen für eine Entziehung der Lizenz vor. Der Antragsgegner war nicht gehalten, noch weiter zuzuwarten und von dem Erlass des Entziehungsbescheides abzusehen. Die Antragstellerin hatte hinreichend Gelegenheit, die für den Erhalt der Gemeinschaftslizenz erforderlichen Voraussetzungen darzutun. Dass sie die ihr eingeräumten Möglichkeiten zur Nachweiserbringung nicht genutzt hat, geht zu Ihren Lasten. Insoweit hat sich auch der für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Bescheides maßgebliche Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung nicht verschoben. Ungeachtet dessen kann die Antragstellerin die von ihr nachgereichten Unterlagen gegebenenfalls zum Gegenstand eines Verfahrens auf (Neu-)Erteilung der Gemeinschaftslizenz machen.

Der Vorwurf der Antragstellerin, der Antragsgegner habe ihr keine konkrete Frist zur Einstellung ihres aktuellen Verkehrsleiters gesetzt, ist nicht nachvollziehbar. Ausweislich der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners wurde der Geschäftsführer der Antragstellerin bei dem Gespräch am 9. Februar 2023 im Beisein des neuen Verkehrsleiters an den zuvor angekündigten Entzug der Gemeinschaftslizenz erinnert und ihm wurde eine Liste noch fehlender Unterlagen und Angaben überreicht, die bis zum 23. Februar 2023 nachzureichen seien. Dazu gehörte auch ein Nachweis über das Beschäftigungsverhältnis mit dem Verkehrsleiter. Die Antragstellerin hat die gesetzte Frist verstreichen lassen und dem Antragsgegner Gründe hierfür bis zum Erlass des angefochtenen Bescheides nicht genannt.

Der Antragstellerin ist nicht zu folgen, soweit sie geltend macht, ihr vormaliger Verkehrsleiter E. sei in Ansehung der tatsächlichen Größe ihres Unternehmens hinreichend gewesen. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, hat die Antragstellerin bei einer Vorsprache beim Antragsgegner am 30. November 2022 angegeben, dass Herr E. seine Tätigkeit als Verkehrsleiter bei der Antragstellerin nicht mehr ausübe. Ob Herr E. vor seinem Ausscheiden in der Lage war, die Verkehrsleitung ordnungsgemäß auszuüben, obwohl er eigenen Angaben der Antragstellerin zufolge langfristig erkrankt gewesen sein soll, kann danach dahinstehen.

Soweit die Antragstellerin auf die für sie in persönlicher und wirtschaftlicher Hinsicht schwerwiegenden Folgen einer sofortigen Vollziehung des Bescheides vom 21. März 2022 hinweist, fehlt es an einer hinreichenden Auseinandersetzung mit der entsprechenden Begründung der angefochtenen Entscheidung (vgl. Beschlussabdruck S. 20). Dies kann aber dahinstehen. Denn die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist nach den obigen Ausführungen ohnehin hinfällig.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG in Verbindung mit Nrn. 47.1, 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NordÖR 2014, 11).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).