Landgericht Hannover
Urt. v. 22.06.2022, Az.: 11 O 48/21
Abwägung des ursächlichen Verhaltens der Beteiligten gegeneinander i.R.e. Kollision eines Radfahrers mit einem Kfz
Bibliographie
- Gericht
- LG Hannover
- Datum
- 22.06.2022
- Aktenzeichen
- 11 O 48/21
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2022, 69311
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LGHANNO:2022:0622.11O48.21.00
Rechtsgrundlage
- § 9 StVG
Fundstelle
- NZV 2024, 95
In dem Rechtsstreit
XXX
- Kläger -
Prozessbevollmächtigte:
XXX
gegen
1. XXX
2. XXX-
- Beklagte -
Prozessbevollmächtigte zu 1. und 2.:
XXX
hat das Landgericht Hannover - 11. Zivilkammer - durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht XXX als Einzelrichter auf die mündliche Verhandlung vom 25.05.2022 für Recht erkannt:
Tenor:
- 1.
Die Klage wird abgewiesen
- 2.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger.
- 3.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
Der Kläger begehrt von den Beklagten Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall.
Der im Unfallzeitpunkt XXX alte Kläger befuhr am 08.05.2020 gegen 12.00 Uhr als Radfahrer XXX zunächst den linksseitig parallel zur XXX XXX verlaufenden Radweg stadteinwärts, verließ dann im Bereich der Ein- und Ausfahrt des Autohauses XXX den Radweg und fuhr - weiterhin stadteinwärts - auf die XXX auf, wo es zur Kollision mit der linken Fahrzeugseite des bei der Beklagten zu 2. haftpflichtversicherten Pkw XXX, kam, der von dem im Unfallzeitpunkt XXX alten Beklagten zu 1., der auch Halter dieses Fahrzeugs ist, ebenfalls in Richtung Innenstadt geführt wurde.
Infolge der Kollision mit dem Pkw stürzte der Kläger vom Fahrrad auf die Straße und zog sich schwere Kopfverletzungen zu (Schädelhirntrauma, epidurales Hämatom links parietal, beidseits frontotemporale subudrale Blutauflagerungen, undisloszierte Schädelkalottenfraktur links parietal, Riss-Quetsch-Wunde occipetal) und befand sich 108 Tage in unterschiedlichen Kliniken in Behandlung und leidet bis heute an den Folgen des Unfalls, seinen Alltag kann er nicht mehr alleine bewältigen.
Der Kläger verlangt von den Beklagten mit der Klage eine Regulierung der Unfallschäden mit einer Quote von 2/3.
Der Kläger hatte zunächst behauptet, rechts überholt worden zu sein, daran indes nach Einholung des Sachverständigengutachtens nicht mehr festgehalten. Er behauptet weiter, sein Abbiegevorgang auf die Straße sei im Kollisionszeitpunkt bereits abgeschlossen gewesen. Er müsse sich unter Umständen anrechnen lassen, dass er zu leichtsinnig in den fließenden Verkehr der Göttinger Straße eingebogen ist.
Der Kläger beantragt,
- 1.
die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an den Kläger 1.145,68 € nebst Zinsen in Höhe von 5 % über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit dem 09.05.2020 zu zahlen.
- 2.
die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen an den Kläger ein angemessenes Schmerzensgeld nebst 5 Prozentpunkten Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 09.05.2020 unter Immaterialvorbehalt zu zahlen sowie
- 3.
außergerichtliche Anwaltskosten in Höhe von anteiligen 669,44 € nebst Zinsen in Höhe von 5 % überm Basiszinssatz seit dem 01.10.2020 zu zahlen sowie
- 4.
festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger sämtliche Schäden, die ihm künftig aus dem Verkehrsunfall vom 08.05.2020 XXX noch entstehen, zu einer Quote von 2/3 zu ersetzen, soweit sie nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.
Die Beklagten beantragen,
die Klage abzuweisen.
Sie behaupten, der Kläger sei plötzlich und für den Beklagten zu 1. vollkommen unvorhersehbar mit seinem Fahrrad schräg / quer auf die Fahrbahn vor den XXX gefahren. Im Zeitpunkt der Kollision sei der Kläger noch im Vorgang des Auffahrens vom Radweg auf die Straße befindlich gewesen. Der Kläger habe mit seinem Verstoß gegen § 10 StVO den Unfall allein verursacht.
Das Gericht hat zum Unfallhergang den Kläger und den Beklagten zu 2. persönlich angehört und Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen XXX und XXX sowie durch Einholung eines Gutachtens des Sachverständigen Dipl.-Ing. XXX vom 03.03.2022. Wegen der Ergebnisse der Anhörungen Parteien, der Zeugenvernehmungen und des Inhalts des Gutachtens sowie wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der beigezogenen Ermittlungsakte, der Protokolle der mündlichen Verhandlungen und auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
I. Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg.
Der Kläger kann gegenüber den Beklagten keine Ersatzansprüche aus § 7 Abs. 1 StVG geltend machen.
Ein Fall des § 7 Abs. 2 StVG (Haftungsausschluss wegen höherer Gewalt) liegt ersichtlich nicht vor.
Da der Kläger als Radfahrer nicht aus § 7 Abs. 1StVG haftet, kommt die Anrechnung eines etwaigen Mitverschuldens des Klägers nicht über § 17 Abs. 1 und 2 StVG, sondern zunächst nur nach § 9 StVG i.V.m. § 254 BGB in Betracht. Die Regelung zum Haftungsausschluss im Sinne von § 17 Abs. 3 StVG gilt damit zwar grundsätzlich nicht, allerdings kann der Gesichtspunkt einer etwaigen Unabwendbarkeit bei der gebotenen Abwägung der Verursachungsbeiträge auch dann Berücksichtigung finden, wenn an einem Unfallgeschehen nicht mehrere Kraftfahrzeuge beteiligt sind (§ 17 Abs. 3 StVG), sondern auch nicht motorisierte Verkehrsteilnehmer, wenngleich diesem Gesichtspunkt dann nicht die Bedeutung eines haftungsausschließenden Umstandes zukommt (vgl. BGH, Urteil vom 16. Oktober 2007 - VI ZR 173/06 -, juris Rn. 25; OLG Celle, Urteil vom 05. Juni 2018 - 14 U 5/18 -, juris Rn. 13).
Im Rahmen von § §§ 9 StVG, 254 BGB ist in erster Linie das ursächliche Verhalten der Beteiligten gegeneinander abzuwägen und dabei die Betriebsgefahr des Kraftfahrzeuges zu berücksichtigen, wobei nur erwiesene Verursachungsfaktoren in die Abwägung einbezogen werden dürfen (vgl. König in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl. 2019, § 9 StVG Rn. 7 m.w.N.). Die Abwägung setzt die Feststellung eines haftungsbegründenden Tatbestandes auf der Seite des Klägers voraus. Die für die Abwägung maßgeblichen Umstände müssen feststehen, d.h. unstreitig, zugestanden oder nach § 286 ZPO bewiesen und für die Entstehung der Schäden ursächlich gewesen sein. Nur vermutete Tatbeiträge oder die bloße Möglichkeit einer Schadensverursachung aufgrund geschaffener Gefährdungslage haben außer Betracht zu bleiben. Die Beweislast für einen unfallursächlichen Mitverschuldensanteil des Klägers tragen dabei nach allgemeinen Beweisgrundsätzen die Schädiger, hier die Beklagten (vgl. BGH Urteil vom 24.09.2013 - VI ZR 255/12 - Rn. 7, juris).
Von diesen Maßstäben ausgehend ist es vorliegend gerechtfertigt, die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeuges vollständig zurücktreten zu lassen. Denn der Unfall ist auf das alleinige, schwerwiegende Verschulden des Klägers zurückzuführen, der hier gegen die ihm obliegende gesteigerte Sorgfaltspflicht aus § 10 S. 1 StVO verstoßen hat.
1. Nach § 10 S. 1 StVO muss derjenige, der von anderen Straßenteilen oder über einen abgesenkten Bordstein hinweg auf die Fahrbahn einfahren oder vom Fahrbahnrand anfahren will, sich dabei so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist.
Gegen den Kläger findet insofern zunächst der Beweis des ersten Anscheins Anwendung. Denn gegen denjenigen, der beim Ausfahren aus einem Grundstück mit dem fließenden Verkehr kollidiert, spricht zunächst der Anschein der schuldhaften Unfallverursachung; wenn ein (Mit-)Verschulden des Unfallgegners nicht nachgewiesen werden kann, tritt auch dessen Haftung aus Betriebsgefahr zurück (OLG Celle, Urteil vom 22. Mai 2003 - 14 U 239/02 -, juris).
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht fest, dass die ursprüngliche Behauptung des Klägers, er sei von dem Fahrzeug des Beklagten zu 1. rechts überholt worden, nicht richtig ist. Vielmehr haben die Zeugen XXX und XXX beide glaubhaft und übereinstimmend ausgesagt, dass der Kläger vom Radweg kommend auf die Straße eingebogen und dabei mit dem Pkw kollidiert sei. Dies deckt sich mit den Angaben den Beklagten zu 1., der mitgeteilt hatte, den Radfahrer erst im Moment der Kollision auf der linken Fahrzeugseite bemerkt zu haben und wird bestätigt durch das Gutachten des Sachverständigen XXX, der gut nachvollziehbar dargelegt hat, dass ein Rechts-Überholen seitens des Beklagtenfahrzeugs technisch und räumlich nicht darstellbar sei und vielmehr der Auffahrvorgang des Klägers im Kollisionszeitpunkt noch nicht abgeschlossen gewesen sei. Das Gericht folgt insofern den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen. Das Sachverständigengutachten des auf die Rekonstruktion von Unfallhergängen spezialisierten Ingenieurs ist in sich schlüssig und nachvollziehbar. Insbesondere ist der Sachverständige von zutreffenden Tatsachen ausgegangen und hat die daraus gezogenen Konsequenzen logisch und widerspruchsfrei dargestellt. Der Sachverständige ist der Kammer aus zahlreichen Gerichtsverfahren bekannt, seine Sachkunde unterliegt keinerlei Zweifeln. Soweit der Kläger nach seiner teilweisen Genesung hierzu auch noch persönlich angehört worden ist, haben sich dabei jedenfalls keine Anhaltspunkte für eine andere Bewertung ergeben. Der Kläger konnte offenbar aufgrund seiner mentalen Beeinträchtigungen nicht mehr sicher erinnern, ob er mit einem Auto oder mit einem Radfahrer kollidiert war. Vor diesem Hintergrund konnte seiner geäußerten Einschätzung, dass der andere jedenfalls hätte bremsen können und dass jedenfalls genug Platz auf der Straße für zwei gewesen sei, mangels hinreichender Konkretheit dieser Angaben, keine Überzeugungswirkung zukommen.
2. Gegenüber diesem alleinigen, schwerwiegenden Verschulden der Kläger, tritt die Betriebsgefahr des Fahrzeuges der Beklagtenseite zurück. Den Beklagten zu 1. trifft kein Verschulden am Zustandekommen des Unfalls.
a. Das gilt zunächst für die vom Beklagten zu 1. gefahrene Geschwindigkeit. Der Beklagte zu 1. hatte im Rahmen seiner persönlichen Anhörung angegeben, in diesem Bereich in der Regel schon nur noch ungefähr 30 Km/h zu fahren. Der (neben dem Kollisionsort stehende) Zeuge XXX hat die Geschwindigkeit des Beklagtenfahrzeugs auf circa 45 bis 55 km/h geschätzt, der (mit einem Auto in einiger Entfernung entgegenkommende) Zeuge XXX konnte hierzu keine Angaben machen. Der Sachverständige konnte aufgrund fehlender technischer Anknüpfungspunkte die Kollisionsgeschwindigkeiten der beteiligten Fahrzeuge nicht beweissicher rekonstruieren, hat aber auch keine Hinweise für eine überhöhte Geschwindigkeit eines der beteiligten Fahrzeuge gesehen.
b. Es ist auch kein Verstoß des Beklagten zu 1. gegen das Sichtfahrgebot gemäß § 3 Abs. 1 Satz 2 und Satz 4 StVO festzustellen.
Anders als bei der Frage der Unabwendbarkeit, bei der das Verhalten eines Idealfahrers zugrunde zu legen ist, sind bei Verstößen gegen die übrigen Vorschriften der StVO normale Anforderungen an einen Fahrzeugführer zu stellen (OLG Celle, Urteil vom 05. Juni 2018 - 14 U 5/18 -, juris Rn. 21).
Nach dem in § 3 Abs. 1 Satz 2, 4 StVO enthaltenen Sichtfahrgebot ist eine Herabsetzung der Fahrgeschwindigkeit nur dann geboten, wenn der Fahrer den Verkehrsablauf nicht vollständig überblicken und deshalb auftretende Hindernisse und Gefahren nicht so rechtzeitig bemerken kann, dass er ihnen mit Sicherheit zu begegnen vermag.
Hier war die - aus Fahrtrichtung des Beklagten zu 1. gesehen - links der XXX gelegene seitliche Umgebung einschließlich des Radweges und der Ein- und Ausfahrt des dort befindlichen Autohauses gut einsehbar und damit für den Beklagten zu 1. kein Anlass für eine Geschwindigkeitsreduzierung gegeben.
c. Ebenso wenig kann festgestellt werden, dass der Beklagte zu 1. gegen seine allgemeine Sorgfaltspflicht nach § 1 Abs. 2 StVO verstoßen hätte.
Denn nach dem insofern aufgrund der entsprechenden Abbildung 14 gut nachvollziehbaren Gutachten des Sachverständigen XXX hätte bei einer angenommenen Geschwindigkeit des Beklagtenfahrzeugs von 30 km/h kein Gefahrerkennungspunkt für den Beklagten zu 1. bestanden, weil dann das Klägerfahrzeug vollständig von der A-Säule des Pkw verdeckt gewesen wäre, der Kläger hingegen das Beklagtenfahrzeug durch einen Schulterblick nach rechts als Gefahr hätte wahrnehmen können. In einem solchen Fall wäre der Unfall für den Beklagten zu 1. sogar unvermeidbar gewesen. Da hier eine konkret gefahrene Geschwindigkeit des Beklagtenfahrzeugs mangels entsprechender Anknüpfungstatsachen nicht sicher feststellbar war, kann jedenfalls nicht von einem entsprechenden Sorgfaltsverstoß des Beklagten zu 1. ausgegangen werden. Insofern kann die vom Beklagten zu 1. gefahrene Geschwindigkeit, weil diese nicht sicher feststellbar war, nicht als erwiesener Verursachungsfaktor in die Abwägung einbezogen werden.
Der Kläger hingegen hätte bei allen von dem Sachverständigen betrachteten Geschwindigkeitsvarianten die Kollision durch einen Verzicht auf das Auffahren auf die XXX räumlich vermeiden können.
3. Bei der Abwägung des schwerwiegenden Verschuldens des Klägers einerseits und der Betriebsgefahr des auf Beklagtenseite unfallbeteiligten PKW andererseits erscheint es dem Gericht gerechtfertigt, im vorliegenden Fall die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeuges vollständig zurücktreten zu lassen, auch wenn es sich bei dem Kläger als Radfahrer grundsätzlich um den "schwächeren" Verkehrsteilnehmer handelte.
II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO, der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit aus § 709 ZPO.