Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 20.12.2019, Az.: 10 LA 192/19

circular letters; Dublin; Dublin III; Dublin-Rückkehrer; Garantieerklärung; Rundschreiben

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
20.12.2019
Aktenzeichen
10 LA 192/19
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 69923
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 20.08.2019 - AZ: 10 A 1712/18

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Bei einer Rückkehr von Familien mit minderjährigen Kindern im Rahmen eines so genannten Dublin-III-Verfahrens nach Italien bedarf es derzeit einer konkret-individuellen Zusicherung der Gewährleistung ihrer aus Art. 4 GRC folgenden Rechte durch die dortigen Behörden

Tenor:

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover – Einzelrichterin der 10. Kammer – vom 20. August 2019 wird abgelehnt.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens.

Gründe

I.

Die Kläger sind nach ihren Angaben nigerianische Staatsangehörige. Sie sind verheiratet und seit Mai 2018 Eltern eines gemeinsamen Kindes.

Vor ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland im Dezember 2017 wurden die Kläger bereits in Italien erkennungsdienstlich behandelt. Der Kläger zu 1.) gab dazu an, dass er in Italien einen Asylantrag gestellt habe, der abgelehnt worden sei. Am 21. Dezember 2017 richtete die Beklagte daraufhin ein Aufnahmeersuchen nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatenangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrag auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin-III-Verordnung) an Italien, auf das die zuständigen italienischen Behörden nicht innerhalb der Fristen der Art. 22 Abs. 1 (Klägerin zu 2.) bzw. Art. 25 Abs. 1 (Kläger zu 1.) Dublin-III-Verordnung reagierten.

Die Beklagte lehnte den Asylantrag der Kläger mit Bescheid vom 22. Februar 2018 gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG als unzulässig ab (Ziff. 1), da Italien auf Grund des dort bereits gestellten Asylantrags des Klägers zu 1.) gemäß Art. 13 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung und auf Grund der illegalen Einreise in den Geltungsbereich der Dublin-Verordnung gemäß Art. 18 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung der Klägerin zu 2.) in der Verbindung mit der fiktiven Zustimmung für die Behandlung der Asylanträge der Kläger zuständig sei. Weiter wird mit dem Bescheid festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen (Ziff. 2) und die Kläger, unter Setzung einer Ausreisefrist von 30 Tagen ab Bekanntgabe des Bescheides bzw. dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens und Androhung ihrer Abschiebung nach Italien, aufgefordert, das Gebiet der Beklagten zu verlassen (Ziff. 3). Unter Ziff. 4 des Bescheides wird das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 6 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.

Gegen diesen Bescheid haben die Kläger am 28. Februar 2018 Klage erhoben.

Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 20. August 2019 den Bescheid der Beklagten vom 22. Februar 2018 aufgehoben und zur Begründung ausgeführt, eine Zuständigkeit der Beklagten ergebe sich im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts aus dem so genannten Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung, da vorliegend außergewöhnliche humanitäre Gründe gegeben seien, die nach der Maßgabe der Werteordnung der Grundrechte einen Selbsteintritt der Bundesrepublik erforderten. Zwar beständen nach der Rechtsprechung des Senats keine systemischen Mängel im Asylverfahren und in den Aufnahmebedingungen in Italien, welche die Zuständigkeit der Beklagten begründeten, die Kläger gehörten jedoch als Familie mit Kleinkind zu dem besonders schutzbedürftigen Personenkreis, bei dem nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 4. November 2014 vor einer Abschiebung Garantien der italienischen Behörden einzuholen seien. Soweit die italienischen Behörden eine allgemeine Zusicherung zur altersgerechten Unterbringung von Familien mit minderjährigen Kindern abgegeben hätten, reiche dies nicht aus. Denn diese sei nicht individualisiert und bezeichne auch keine konkrete Einrichtung, in der die jeweiligen Antragsteller nach ihrer Überstellung nach Italien untergebracht würden, so dass eine Prüfung, ob die Unterbringungsverhältnisse für die jeweiligen Antragsteller eine Gefährdung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK ausschließen würden, auf dieser Grundlage nicht möglich sei.

Gegen das der Beklagten am 22. August 2019 zugestellte Urteil hat sie am 11. September 2019 die Zulassung der Berufung beantragt.

II.

Der Antrag der Beklagten, die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil zuzulassen, hat keinen Erfolg. Denn der von ihr allein geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) ist von ihr nicht hinreichend dargelegt worden.

Eine Rechtssache ist nur dann im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG grundsätzlich bedeutsam, wenn sie eine höchstrichterlich noch nicht geklärte Rechtsfrage oder eine obergerichtlich bislang noch nicht beantwortete Tatsachenfrage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die im Rechtsmittelverfahren entscheidungserheblich und einer abstrakten Klärung zugänglich ist, im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer fallübergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf, nicht schon geklärt ist und (im Falle einer Rechtsfrage) nicht bereits anhand des Gesetzeswortlauts und der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung sowie auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens beantwortet werden kann (BVerwG, Beschluss vom 08.08.2018 - 1 B 25.18 -, juris Rn. 5, zu § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO; ferner: GK-AsylG, Stand: Juni 2019, § 78 AsylG Rn. 88 ff. m.w.N.; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: April 2019, § 78 AsylG Rn. 21 ff. m.w.N).

Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG verlangt daher nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (u. a. Senatsbeschluss vom 13.09.2018 - 10 LA 349/18 -, juris Rn. 2 ff.):

1. dass eine bestimmte Tatsachen- oder Rechtsfrage konkret und eindeutig bezeichnet,

2. ferner erläutert wird, warum sie im angestrebten Berufungsverfahren entscheidungserheblich und klärungsbedürftig wäre und

3. schließlich dargetan wird, aus welchen Gründen ihre Beantwortung über den konkreten Einzelfall hinaus dazu beitrüge, die Rechtsfortbildung zu fördern oder die Rechtseinheit zu wahren.

Die Darlegung der Entscheidungserheblichkeit und Klärungsbedürftigkeit der bezeichneten Frage im Berufungsverfahren (2.) setzt voraus, dass substantiiert dargetan wird, warum sie im Berufungsverfahren anders als im angefochtenen Urteil zu entscheiden sein könnte und - im Falle einer Tatsachenfrage - welche (neueren) Erkenntnismittel eine anderslautende Entscheidung nahelegen (ständige Rechtsprechung des Senats: u. a. Senatsbeschluss vom 18.02.2019 - 10 LA 27/19 -; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 25.07.2017 - 9 LA 70/17 - m.w.N.). Die Begründungspflicht verlangt daher, dass sich der Zulassungsantrag mit den Erwägungen des angefochtenen Urteils substantiiert auseinandersetzt (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.06.2019 - 5 BN 4.18 -, zu den Anforderungen an die Darlegung einer grundsätzlichen Bedeutung gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Die Darlegung einer Tatsachenfrage setzt außerdem eine intensive, fallbezogene Auseinandersetzung mit den von dem Verwaltungsgericht herangezogenen und bewerteten Erkenntnismitteln voraus (Senatsbeschluss vom 18.02.2019 - 10 LA 27/19 -; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 13.01.2009 - 11 LA 471/08 -, juris Rn. 5), weil eine Frage nicht entscheidungserheblich und klärungsbedürftig ist, die sich schon hinreichend klar aufgrund der vom Verwaltungsgericht berücksichtigten Erkenntnismittel beantworten lässt (GK-AsylG, a.a.O., § 78 AsylG Rn. 609 m.w.N; vgl. auch BVerwG, Beschlüsse vom 30.01.2014 - 5 B 44.13 -, juris Rn. 2, und vom 17.02.2015 - 1 B 3.15 -, juris Rn. 3, zu den Anforderungen an die Darlegung einer grundsätzlichen Bedeutung gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Erforderlich ist daher über den ergebnisbezogenen Hinweis, dass der Bewertung der Situation in dem betreffenden Land zu der als klärungsbedürftig bezeichneten Tatsachenfrage durch das Verwaltungsgericht im Ergebnis nicht gefolgt werde, hinaus, dass in Auseinandersetzung mit den Argumenten des Verwaltungsgerichts und den von ihm herangezogenen Erkenntnismitteln dargetan wird, aus welchen Gründen dieser Bewertung im Berufungsverfahren nicht zu folgen sein wird (GK-AsylG, a.a.O., § 78 AsylG Rn. 610 m.w.N). Dabei ist es Aufgabe des Zulassungsantragstellers, durch die Benennung von Anhaltspunkten für eine andere Tatsacheneinschätzung, also insbesondere durch das Anführen bestimmter (neuerer) Erkenntnisquellen, darzutun, dass hierfür zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht (GK-AsylG, a.a.O., § 78 AsylG Rn. 610 f. m.w.N). Es reicht deshalb nicht, wenn der Zulassungsantragsteller sich lediglich gegen die Würdigung seines Vorbringens durch das Verwaltungsgericht wendet und eine bloße Neubewertung der vom Verwaltungsgericht berücksichtigten Erkenntnismittel verlangt (GK-AsylG, a.a.O., § 78 AsylG Rn. 609 m.w.N, Hailbronner, a.a.O., § 78 AsylG Rn. 28).

Diesen Anforderungen genügt der Zulassungsantrag der Beklagten nicht.

Sie hat zur Begründung des Zulassungsgrunds der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache die folgenden Fragen aufgeworfen:

„welche Mindestanforderungen eine solche Zusicherung erfüllen muss

und
ob die durch Italien in Reaktion auf das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache „E.“ versandten Rundschreiben an die Dublin-Einheiten der Mitgliederstaaten (sog. „circular letters“, zum Wortlaut einer derartigen Erklärung siehe im Übrigen EGMR vom 28. Juni 2016 – Nr. 15636/16, N.A. / Dänemark – HUDOC Rn. 11) diese Mindestanforderungen erfüllen.“

Die Beklagte hat zur Begründung ihres Zulassungsantrags im Wesentlichen ausgeführt, dass zu den aufgeworfenen Fragen unterschiedliche Auffassungen vertreten würden und zahlreiche Obergerichte zu dem Ergebnis kämen, dass die von Italien versandten „circular letters“ als ausreichende Garantieerklärung anzusehen seien. Auch nach der Rechtsprechung des EGMR seien bei funktionierenden Rechtsstaaten der Europäischen Union keine überhöhten Anforderungen an die abgegebene Garantieerklärung zu stellen, zumal wenn kein Grund zu der Annahme bestehe, dass die Behörden des Mitgliedstaates bei eventuell auftretenden Schwierigkeiten nicht angemessen helfen würden. Unter Berücksichtigung dieser Entscheidung sowie des Prinzips des gegenseitigen Vertrauens seien die Bemühungen der italienischen Regierung zur Verbesserung der Aufnahme- und Unterbringungssituation in den SPRAR-Zentren, sowie die bereits zu den Umständen in Italien im Jahr 2017 getroffene Entscheidung des Senats zur Frage systemischer Mängel in die Bewertung der allgemeinen Zusicherung in Form der „circular letters“ einzubeziehen. Demnach müsse die verbindliche Aufstellung Italiens, die in ihrer Abfassung das Bewusstsein der staatlichen Stellen um deren besondere Fürsorgepflichten gegenüber besonders schutzbedürftigen Personen erkennen lasse, über die Unterbringungsplätze vulnerabler Personengruppen im Einzelnen, namentlich und nach Kapazitäten benannt, eine ausreichende Zusicherung darstellen, zumal die Geeignetheit der dort genannten Unterbringungsmöglichkeiten als solche einer Prüfung zugänglich sei und die Ansprüche von Familien mit Kleinkindern ohne einzelfallspezifische Risikofaktoren - wie hier - nicht individueller Art seien und somit auch nicht die Zuordnung zu einer bestimmten Einrichtung unter gleichgeeigneten Unterbringungsmöglichkeiten bedürften.

Damit hat die Beklagte die Entscheidungserheblichkeit und Klärungsbedürftigkeit der von ihr aufgeworfenen Frage im Berufungsverfahren nicht dargelegt, da sie nicht substantiiert dargetan hat, weshalb die Frage im Berufungsverfahren anders als im angefochtenen Urteil zu entscheiden sein könnte.

Zwar hat sich das Verwaltungsgericht mit der aktuellen Situation für Asylsuchende in Italien unter Berücksichtigung aktueller Erkenntnismittel nicht auseinandergesetzt, jedoch hat die Beklagte mit ihrem Vorbringen in ihrer Berufungszulassungsbegründung nicht dargetan, aus welchen Gründen der Einschätzung des Verwaltungsgerichts im Ergebnis nicht zu folgen sein würde. Denn sie hat keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vorgebracht, dass mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass es zum Ausschluss der Gefahr einer Verletzung von Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC bei einer Rückkehr von asylsuchenden Familien mit Kleinkindern nach Italien entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts keiner individuellen Zusicherung der Gewährleistung ihrer Rechte unter Berücksichtigung ihrer erhöhten Bedürfnisse bedarf. Vielmehr ergibt sich schon aus den von der Beklagten selbst vorgetragenen tatsächlichen Annahmen zu der Aufnahme- und Unterbringungssituation in den SPRAR-Zentren sowie unter Berücksichtigung der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs das Gegenteil.

Art. 4 GRC verbietet ausnahmslos jede Form unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und hat mit seiner fundamentalen Bedeutung allgemeinen und absoluten Charakter (EuGH, Urteil vom 19.03.2019 – C-163/17 –, juris Rn. 78). Daher ist hinsichtlich in einem Mitgliedsstaat schutzsuchender Personen für die Anwendung von Art. 4 GRC irrelevant, wann diese bei ihrer Rücküberstellung in den für ihr Asylverfahren zuständigen Mitgliedsstaat bzw. den Mitgliedsstaat, der ihnen bereits internationalen Schutz gewährt hat, einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wären, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren. Die Gewährleistung von Art. 4 GRC gilt auch nach dem Abschluss des Asylverfahrens, insbesondere auch im Fall der Zuerkennung internationalen Schutzes (EuGH, Urteil vom 19.03.2019 – C-163/17 –, juris Rn. 88 f.; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 07.10.2019 – 2 BvR 721/19 –, juris Rn. 19 f.). Hat ein Schutzsuchender oder eine als schutzberechtigt anerkannte Person hinreichend dargelegt, dass tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass ihm nach einer Rücküberstellung in den zuständigen Mitgliedsstaat eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht, ist das mit der Rechtssache befasste Gericht - wie auch zuvor die mit der Sache befassten Behörden - verpflichtet, die aktuelle Sachlage aufzuklären und die deutschen Behörden haben gegebenenfalls Zusicherungen der Behörden des zuständigen Mitgliedsstaates einzuholen (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 –, juris 15 f. und 18 f.). Das Gericht hat auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen (EuGH, Urteil vom 19.03.2019 – C-163/17 –, juris Rn. 90). Solche Schwachstellen erreichen allerdings erst dann die für Art. 4 GRC bzw. für den ihm entsprechenden Art. 3 EMRK besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, Urteil vom 19.03.2019 – C-163/17 –, juris Rn. 91 f.). Dies ist im Allgemeinen insbesondere der Fall, wenn die rückzuüberstellende Person in dem zuständigen Mitgliedsstaat ihren existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basis- bzw. Notbehandlung erhalten würde (vgl. BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 – 1 C 45.18 –, juris Rn. 12). Bei Familien mit Kindern kann sich eine Gefährdung der durch Art. 4 GRC geschützten Rechte auch daraus ergeben, dass der bzw. die Betroffene(n) nicht zugleich die eigene Existenz und die seiner bzw. ihrer Familie sichern können würden (BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 – 1 C 45.18 –, juris Rn. 25 bis 28).

Die Beklagte hat nicht hinreichend dargetan, weshalb die Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass eine unmenschliche oder entwürdigende Behandlung im Sinne des Art. 4 GRC im Falle einer Rückkehr der Kläger als Familie mit einem Kleinkind nach Italien - ohne eine entsprechende Zusicherung der italienischen Behörden - nicht auszuschließen sei (vgl. VG des Saarlandes, Urteil vom 07.10.2019 – 3 K 2156/18 –, S. 9; VG Berlin, Gerichtsbescheid vom 03.06.2019 – 34 K 1487.17 A –, juris Rn. 23 ff.; vgl. dazu auch BVerfG, Beschluss vom 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 –, juris Rn. 18 bis 20; a.A. Bayerischer VGH, Beschluss vom 09.09.2019 – 10 ZB 19.50024 –, juris Rn. 6), im Berufungsverfahren anders zu entscheiden sein könnte.

Soweit sich die Beklagte auf die Bemühungen der italienischen Regierung zur Verbesserung der Aufnahme- und Unterbringungssituation in den SPRAR-Zentren beruft, verkennt sie, dass die Kläger von derartigen möglichen Verbesserungen nicht profitieren können. Denn sie erhalten als Dublin-Rückkehrer - anders als Schutzberechtigte - von vornherein keinen Zugang zu den SPRAR- bzw. (nunmehr) SIPROIMI-Einrichtungen. Die italienische Dublin-Einheit hat in dem undatierten Rundschreiben aus dem Januar 2019 (vgl. Antwort des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge an das Verwaltungsgericht Magdeburg, dort eingegangen am 05.02.2019), das die Beklagte in dem Parallelverfahren zum Aktenzeichen 10 LA 64/19 vorgelegt hat, mitgeteilt, dass im Anschluss an das italienische Rundschreiben vom 8. Juni 2015 zur Unterbringung von Familien, die gemäß der Dublin-Verordnung zurückgeführt werden, weitere Informationen in Übereinstimmung mit dem neuen italienischen Gesetz Nr. 132/2018, das 2018 in Kraft getreten sei, übermittelt würden. Weiter heißt es dort: „Im Hinblick auf die Aufnahme von Asylbewerbern (einschließlich Personen, die dem Dublin-Verfahren unterliegen) und Flüchtlingen werden mit der neuen Verordnung die Bestimmungen hinsichtlich des SPRAR-Systems, das in System für den Schutz von Personen mit internationalem Schutzstatus und unbegleiteten ausländischen Minderjährigen (SIPROIMI) umbenannt wurde, dahingehend geändert, dass die Aufnahme in den Einrichtungen ausschließlich folgenden Personen vorbehalten wird: 1. Personen, die internationalen Schutz genießen (subsidiärer Schutz und Flüchtlingsstatus), 2. unbegleiteten ausländischen Minderjährigen, 3. Inhaber “neuer“ Aufenthaltstitel humanitärer Art. Folglich werden alle Dublin-Rückkehrer, die dem Dublin-Verfahren unterliegen, in anderen Zentren untergebracht, die im Gesetzesdekret Nr. 142/2015 genannt sind. Unter Berücksichtigung der Bemühungen der italienischen Regierung, die Migrantenströme deutlich zu verringern, sind diese Zentren für die Unterbringung aller möglichen Begünstigen geeignet, so dass der Schutz der Grundrechte, insbesondere die Einheit der Familie und der Schutz von Minderjährigen, sichergestellt sind.“

Zudem ist diese pauschale Versicherung der Gewährleistung der Grundrechte (auch von Familien mit minderjährigen Kindern) sowie der Wahrung der Familieneinheit und der Schutz von Minderjährigen für alle Unterbringungsplätze in den italienischen CDA-, CARA- und CAS-Einrichtungen (vgl. SFH, Aktuelle Situation für Asylsuchende in Italien, vom 08.05.2019, S. 6) in dem Rundschreiben 01.2019 nicht schlüssig und nicht überzeugend (vgl. dazu auch BVerfG, Beschluss vom 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 –, juris Rn. 23). Schutzsuchende, die - wie die Kläger - nicht unter die Gruppe der unbegleiteten Minderjährigen und der anerkannten Schutzberechtigten fallen, sollen nach der Umgestaltung des italienischen Unterbringungssystems in großen, staatlich verwalteten Auffangzentren untergebracht werden (https://www.sueddeutsche.de/politik/italien-hart-aber-fraglich-1.4144303; https://www.welt.de/politik/ausland/article181649304/Neues-Sicherheitsdekret-Italien-verschaerft-sein-Asylrecht.html; vgl. auch Senatsbeschluss vom 21.12.2018 – 10 LB 201/18 –, juris Rn. 40). Zur Schaffung dieser Zentren sollen die CAS und CARA-Einrichtungen durch Erstaufnahmeeinrichtungen ersetzt werden, in denen auch die Dublin-Rückkehrer untergebracht werden sollen (Länderinformationsblatt 02/2019, S. 6). Dabei sollen Vulnerabilität und Familieneinheit berücksichtigt und Kernleistungen nicht gekürzt oder gestrichen und besondere Plätze für Familien oder Alleinreisende mit Kindern vorgesehen werden (Länderinformationsblatt 02/2019, S. 7). Soweit bereits vor der mit dem Erlass des „Salvini-Dekrets“ verbundenen Änderung des Unterbringungssystems der weit überwiegende Teil der Schutzsuchenden in den Erstaufnahme- und Notfalleinrichtungen (wie den CAS) untergebracht war und deren Aufnahmebedingungen für alleinstehende arbeitsfähige Personen grundsätzlich keine Rechtsverletzung nach Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC begründeten (vgl. Senatsurteil vom 04.04.2018 – 10 LB 96/17 –, juris; zur grundlegenden Versorgung mit Nahrung, Kleidung und Medizin vgl. SFH, Aktuelle Situation für Asylsuchende in Italien, vom 08.05.2019, S. 20 f.), erschließt sich dem Senat allerdings nicht, weshalb in diesen Einrichtungen nunmehr auch die an die Unterbringung von Minderjährigen bzw. Familien mit Minderjährigen zu stellenden erhöhten Anforderungen gewährleistet sein sollten (so auch VG Berlin, Gerichtsbescheid vom 03.06.2019 – 34 K 1487.17 A –, juris Rn. 35). Die italienische Regierung hatte im Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte selbst noch erklärt, dass Familien mit Kindern als besonders verwundbar angesehen und deshalb normalerweise gerade in SPRAR-Einrichtungen untergebracht würden (EGMR, Urteil vom 04.11.2014 - 29217/12 (E. /Schweiz) -, NVwZ 2015, 127 ff. Rn. 121). Dass sich die Verhältnisse in den CDA-, CARA- und CAS-Einrichtungen zwischenzeitlich bereits in einer solchen Weise verbessert hätten, dass dort generell auch eine Unterbringung von Familien mit minderjährigen Kindern entsprechend ihrer erhöhten Bedürfnisse in einer ihrer Rechte aus Art. 4 GRC wahrenden Weise möglich wäre, ist nicht ersichtlich, zumal konkrete positive Veränderungen in diesen Einrichtungen nicht bekannt sind (so auch VG Lüneburg, Beschluss vom 03.04.2019 – 8 B 65/19 –, juris Rn. 51). Angesichts dessen, dass in dem Rundschreiben vom 4. Juli 2018 an die Dublin Einheiten das italienische Innenministerium lediglich 79 Plätze in SPRAR-Einrichtungen mitgeteilt hatte, die die Rechte von Familien mit minderjährigen Kindern aus Art. 4 GRC gewährleisten würden, erscheint es nicht nachvollziehbar, dass zwischenzeitlich in allen Einrichtungen des Erstaufnahmesystems (mit mehr als 100.000 Plätzen) eine entsprechende Verbesserung der Unterbringungsbedingungen eingetreten ist, die eine drohende Verletzung von Art. 4 GRC bei Familien mit Kindern ausschließen würde. Auch die dem Senat vorliegenden Erkenntnismittel geben hierfür nichts her, sondern gehen angesichts der Kostensenkung und Personalreduzierung vielmehr von einer Verschlechterung der bisherigen Bedingungen aus (vgl. etwa SFH, Aktuelle Situation für Asylsuchende in Italien, vom 08.05.2019, S. 6, 8 ff.; borderline-europe 05/2019, S. 5 ff.; VG Berlin, Gerichtsbescheid vom 03.06.2019 – 34 K 1487.17 A –, juris Rn. 31). Selbst in Fällen, in denen die italienischen Behörden - vor dem „Salvini-Dekret“ - individuelle Garantien bezüglich der Aufnahmebedingungen von Familien entsprechend der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 4. November 2014 (E. /Schweiz) abgegeben hatten, wurden die überstellten Asylsuchenden nicht immer entsprechend den erklärten Garantien aufgenommen (SFH, Aktuelle Situation für Asylsuchende in Italien, vom 08.05.2019, S. 13).