Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 10.12.2019, Az.: 13 ME 344/19

Eine Fortbestandsfiktion vermittelt weder eine ordnungsgemäße Beschäftigung noch einen ordnungsgemäßen Aufenthalt; Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis und Erteilung einer Niederlassungserlaubnis; Anwendung der ARB 1/80 auf türkische Staatsangehörige

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
10.12.2019
Aktenzeichen
13 ME 344/19
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 46355
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG Hannover - 19.09.2019

Fundstellen

  • AUAS 2020, 14-15
  • InfAuslR 2020, 99-100

Amtlicher Leitsatz

Eine Fortbestandsfiktion nach § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG vermittelt weder eine ordnungsgemäße Beschäftigung im Sinne des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 noch einen ordnungsgemäßen Aufenthalt im Sinne des Art. 13 ARB 1/80.

Tenor:

Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - 19. Kammer - vom 19. September 2019 geändert.

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 EUR festgesetzt.

Gründe

Die zulässige Beschwerde der Beklagten hat Erfolg.

Zu Unrecht hat das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 30. Oktober 2018 (19 A 6952/18) gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 19. Oktober 2018 angeordnet.

Zutreffend hat das Verwaltungsgericht zunächst einen Anspruch des Antragstellers auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis und Erteilung einer Niederlassungserlaubnis verneint. Auf die entsprechenden Ausführungen unter A. des angefochtenen Beschlusses (S. 5 - 10 des Beschlussabdrucks) wird verwiesen. Insbesondere ergibt sich kein Aufenthaltsrecht aus Art. 6 Abs. 1, 1. Spiegelstrich ARB 1/80.

Zu Recht ist das Verwaltungsgericht in diesem Zusammenhang nicht von einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung des Antragstellers ausgegangen. Der Zeitraum, während dessen der Antragsteller sich auf der Grundlage der Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG im Bundesgebiet aufgehalten und hier gearbeitet hat, kann bei der "ordnungsgemäßen Beschäftigung" im Sinne des Art. 6 Abs. 1 Spiegelstrich 1 ARB 1/80 nicht berücksichtigt werden. Die Ordnungsmäßigkeit der Beschäftigung im Sinne dieser Bestimmung setzt nach der Rechtsprechung des EuGH eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position des Betroffenen auf dem Arbeitsmarkt und damit ein nicht bestrittenes Aufenthaltsrecht voraus (vgl. Urt. v. 20.9.1990, C-192/89, juris Rn. 30; Urt. v. 24.1.2008, C-294/06-, juris Rn. 30). Die Ausübung einer Beschäftigung im Rahmen einer Erlaubnis zum vorläufigen Aufenthalt, die nur bis zur endgültigen Entscheidung über das Aufenthaltsrecht gilt, kann hingegen nicht als "ordnungsgemäß" eingestuft werden (EuGH, Urt. v. 7.11.2013, C-225/12, juris Rn. 47). Ein solcher unbestrittener Aufenthaltsstatus liegt auch gerade dann nicht vor, wenn der bisherige Aufenthaltstitel gemäß § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG lediglich bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als fortbestehend gilt und der Verlängerungsantrag - wie hier - letztlich abgelehnt wird. Während des Verfahrens der behördlichen Prüfung des Verlängerungsantrags hat der Ausländer kein unbestrittenes Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet, weil die Frage des Fortbestehens des Aufenthaltsrechts gerade erst geklärt werden soll. Die Regelung des § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG vermittelt nur eine verfahrensrechtliche, keine materielle Position. Der betreffende Ausländer ist von vornherein mit dem Risiko einer nur vorläufigen Position auf dem Arbeitsmarkt seines Aufenthaltsstaates bis zur endgültigen Entscheidung über seinen Antrag belastet (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.5.2013 - 1 C 16.12 -, juris Rn. 18; Urt. v. 30.3.2010 - 1 C 6.09 -, juris Rn. 22; Beschl. v. 10.5.1995 - 1 B 72.95 -, juris Rn. 3; Senatsbeschl. v. 18.12.2018 - 13 ME 495/18, V.n.b., Umdruck S. 3; Bay. VGH, Beschl. v. 18.8.2014 - 10 CS 14.1324 -, juris Rn. 8; Hess. VGH, Beschl. v. 15.10.2008 - 11 B 2104/08 -, juris Rn. 3; OVG LSA, Beschl. v. 7.7.2014 - 2 M 29/14 -, juris Rn. 14; OVG Sachsen, Beschl. v. 1.8.2014 - 3 B 104/14 -, juris Rn. 9; Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, ARB 1/80, Art. 6, Rn. 44 f.; jew. m.w.N.).

Dieses Ergebnis wird entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts auch nicht durch die jüngere Rechtsprechung des EuGH zu Art. 13 ARB 1/80 in Frage gestellt.

Nach Art. 13 ARB 1/80 dürfen die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die Türkei für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Der EuGH hat entschieden, dass diese Stillhalteklausel und diejenige in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls (BGBl. II, 1972, S. 386) zum Assoziationsabkommen zwischen der EWG und der Türkei vom 12. September 1963 ungeachtet des unterschiedlichen Wortlauts gleichartig seien und beide Klauseln dasselbe Ziel verfolgten (vgl. EuGH, Urt. v. 21.10.2003 - C-317/01 und C-369/01 -, juris Rn. 68 ff.; Urt. v. 17.9.2009 - C-242-06 -, juris Rn. 65, m.w.N.), nämlich durch günstige Bedingungen für die schrittweise Verwirklichung der Freizügigkeit für Arbeitnehmer (Art. 13 ARB 1/80), des Niederlassungsrechts und des freien Dienstleistungsverkehrs (Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls) zu schaffen. Aus diesem Grunde ist es den innerstaatlichen Stellen verboten, neue Hindernisse für diese Freiheiten einzuführen, um die schrittweise Herstellung dieser Freiheiten zwischen den Mitgliedstaaten und der Türkei nicht zu erschweren. Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls und Art. 13 ARB 1/80 ergänzen sich mithin gegenseitig in ihrem jeweiligen Regelungsbereich.

Gleichzeitig hat der EuGH aber festgestellt, dass der ARB 1/80 zwar nicht nur auf bereits in den Arbeitsmarkt eines Mitgliedsstaats integrierte türkische Staatsangehörige Anwendung finde, sich aber doch nur auf Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen beziehe, deren Aufenthalt und Beschäftigung in seinem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sei (vgl. Urt. v. 21.10.2003 - C-317/01 und C-369/01 -, juris Rn. 84). Er hat dies in seiner Entscheidung vom 7. November 2013 (C-225/12, juris Rn. 48) dahingehend präzisiert, dass sich der Begriff "ordnungsgemäß" im Sinne des Art. 13 ARB 1/80 auf eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position im Hoheitsgebiet des Mitgliedsstaats beziehe, die ein nicht bestrittenes Aufenthaltsrecht voraussetze. Daher könnten die Aufenthalts- und gegebenenfalls Beschäftigungszeiten eines türkischen Staatsangehörigen im Rahmen einer vorläufigen Aufenthaltserlaubnis, die nur bis zur endgültigen Entscheidung über sein Aufenthaltsrecht gelte, nicht als ordnungsgemäß im Sinne dieses Artikels eingestuft werden. Genau dies trifft auf die Fortbestandsfiktion des § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG zu (vgl. Bergmann/Dienelt, a. a. O., Art. 13, Rn. 25). Insgesamt behandelt der EuGH Art. 13 ARB 1/80 und Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls nur hinsichtlich des Ziels und der Auslegung des Begriffs "neue Beschränkungen" (vgl. dazu auch: OVG Niedersachsen, Urt. v. 15.3.2011 - 11 ME 59/11 -, juris Rn. 9: Deutschkenntnisse) gleich, nicht aber hinsichtlich der tatbestandlichen Voraussetzungen der beiden Vorschriften. Während Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls für die Berufung auf die Stillhalteklausel der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit keinen ordnungsgemäßen Aufenthalt verlangt, ist dies nach dem klaren Wortlaut des Art. 13 ARB 1/80 im Hinblick auf die Freizügigkeit für Arbeitnehmer demgegenüber der Fall (missverständlich: Bergmann/Dienelt, a.a.O., Rn. 26).

Da sich der Antragsteller mithin nicht auf die Stillstandsklausel des Art. 13 ARB 1/80 berufen kann, ist die Versagung der Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis bzw. der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis auch ohne aufwendigen Vergleich der seinerzeitigen und heutigen Rechtslage nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Überprüfung als rechtmäßig anzusehen und der Antrag insgesamt abzulehnen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Es entspricht nicht der Billigkeit, die Kosten der Beigeladenen nach § 162 Abs. 3 VwGO für erstattungsfähig zu erklären, da die Beigeladene mangels Antragstellung kein eigenes Kostenrisiko eingegangen ist (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO).

Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG und Nr. 8.1 sowie Nr. 1.5 Satz 1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NordÖR 2014, 11).