Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 13.12.2019, Az.: 4 LA 233/19

Berufungszulassung; ne ultra petita; Überprüfungsantrag; Untätigkeitsklage; Verfahrensmangel; Verfahrensverstoß; Versagungsgegenklage

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
13.12.2019
Aktenzeichen
4 LA 233/19
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 69931
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 19.09.2019 - AZ: 4 A 266/18

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Es verstößt gegen § 88 VwGO, wenn ein Verwaltungsgericht eine auf die Entscheidung über einen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X gerichtete Untätigkeitsklage als Versagungsgegenklage gegen einen die begehrte Sozialleistung ablehnenden Bescheid behandelt und wegen Ablaufs der Klagefrist als unzulässig abweist.

Tenor:

Auf den Antrag der Klägerin wird die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück - Einzelrichterin der 4. Kammer - vom 19. September 2019 zugelassen.

Das Berufungsverfahren wird unter dem Aktenzeichen 4 LB 288/19 fortgeführt.

Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe

Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil wegen eines Verfahrensmangels nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO hat Erfolg.

Der Antrag ist zulässig. Die Klägerin hat sowohl die Frist von einem Monat nach Zustellung des vollständigen erstinstanzlichen Urteils für die Stellung des Berufungszulassungsantrags nach § 124a Abs. 4 Satz 1 VwGO als auch die Frist von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen erstinstanzlichen Urteils für die Begründung des Antrags nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO eingehalten. Dem aus § 67 Abs. 4 Satz 1 VwGO folgenden Vertretungszwang hat sie genügt, indem sie sich vor dem Oberverwaltungsgericht durch einen Rechtsanwalt als Bevollmächtigtem im Sinne des § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO hat vertreten lassen.

Der Antrag ist auch begründet. Denn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel, auf dem die Entscheidung beruhen kann, ist den Darlegungserfordernissen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechend geltend gemacht worden und liegt auch vor (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO).

Das Verwaltungsgericht hat gegen § 88 VwGO verstoßen. Diese Vorschrift bestimmt, dass das Gericht über das Klagebegehren nicht hinausgehen darf, aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden ist. Daraus folgt, dass das Gericht nicht über etwas der Art nach anderes, als der Kläger begehrt, entscheiden darf (Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 37. EL Stand Juli 2019, § 88 Rn. 10). Dies ist vorliegend jedoch geschehen. Die Klägerin, in erster Instanz durch ihren Ehemann vertreten, hat zwar in der mündlichen Verhandlung vom 19. September 2019 gemäß der Sitzungsniederschrift beantragt, „den Bescheid der Beklagten vom 19. Januar 2018 aufzuheben und ihr Wohngeld in Höhe von 434,00 Euro monatlich für den Zeitraum ab dem 1. November 2017 zu bewilligen“. Dieser Antrag ist jedoch nicht auf die Aufhebung des Ablehnungsbescheides der Beklagten vom 19. Januar 2018 und die Bewilligung bzw. die Verpflichtung der Beklagten zur Bewilligung des beantragten Wohngeldes gerichtet gewesen. § 88 VwGO sieht ausdrücklich vor, dass das Gericht nicht an die Fassung der Anträge gebunden ist. Maßgebend für das Klagebegehren ist das aus dem gesamten Parteivorbringen, insbesondere der Klagebegründung, zu entnehmende wirkliche Rechtsschutzziel; auf die Formulierung des Klageantrags kommt es insoweit nicht entscheidend an (BVerwG, Beschl. v. 5.2.1998 - 2 B 56.97 -, juris m.w.N.). Insbesondere ist nicht davon auszugehen, dass ein nach den Umständen des jeweiligen Falles unzulässiger Antrag gestellt werden sollte (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.12.1966 - VIII C 30.66 -, BVerwGE 25, 357, 358 f.). In ihren Schriftsätzen an das Gericht hat die Klägerin von Anfang an deutlich gemacht, dass es ihr nicht um die Aufhebung des auf ihren Antrag auf Zahlung von Wohngeld ab dem 1. November 2017 hin ergangenen Ablehnungsbescheides der Beklagten vom 19. Januar 2018 gegangen ist, sondern darum, dass die Beklagte auf ihren Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X bzgl. der Ablehnung ihres Wohngeldantrags hin untätig geblieben ist. Auch die Beklagte ist, wie sich aus ihrer Klageerwiderung vom 16. Juli 2018 eindeutig ergibt, davon ausgegangen, dass es der Klägerin um ein von ihr, der Beklagten, abgelehntes Tätigwerden mit Blick auf die Überprüfung des Ablehnungsbescheides vom 19. Januar 2018 nach § 44 SGB X gegangen ist. Dies spricht dafür, dass die Klägerin keine gegen den Ablehnungsbescheid vom 19. Januar 2018 gerichtete Versagungsgegenklage, sondern eine Untätigkeitsklage gemäß § 75 VwGO erhoben hat. Dafür streitet auch, dass eine Versagungsgegenklage wegen Ablaufs der Klagefrist offensichtlich unzulässig gewesen wäre und der Klägerin, die im Übrigen nicht durch einen rechtskundigen Prozessbevollmächtigten vertreten gewesen ist, nicht unterstellt werden kann, dass sie ein unzulässiges Klagebegehren ernsthaft verfolgen wollte. Das Verwaltungsgericht hat indessen in seinem Urteil nicht über das mit einer Untätigkeitsklage im Sinne von § 75 VwGO verfolgte Begehren der Klägerin entschieden bzw. das Gerichtsverfahren den Grundsätzen des § 75 VwGO entsprechend geführt, sondern stattdessen über eine gegen den Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 19. Januar 2018 gerichtete Versagungsgegenklage geurteilt.

Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts kann auch auf dem Verstoß gegen § 88 VwGO beruhen. Denn es kann nach Aktenlage nicht davon ausgegangen werden, dass die Untätigkeitsklage der Klägerin unzulässig gewesen ist. Insbesondere war die dreimonatige Sperrfrist gemäß § 75 Satz 2 VwGO zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht, auf den es ankommt (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.1.1966 - I C 24.63 -, BVerwGE 23, 135, 136 f.), abgelaufen. Weiterhin kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass der Klägerin die auch für die Untätigkeitsklage erforderliche Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO fehlt. Dies wäre nur dann anzunehmen, wenn sie den von ihr begehrten Verwaltungsakt – hier die Entscheidung über ihren Überprüfungsantrag – offensichtlich unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt materiell begehren könnte (vgl. Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 75 Rn. 40). Hiervon ist indessen nicht auszugehen. Denn auch eine fehlende Überprüfungspflicht (vgl. hierzu: BSG Urt. v. 13.2.2014 - B 4 AS 22/13 R -, juris), von der die Beklagte vorliegend offenbar – ob zu Recht oder zu Unrecht kann hier dahingestellt bleiben – ausgeht, würde den Sozialleistungsträger nicht davon entbinden, einen entsprechenden Überprüfungsantrag bescheiden zu müssen.

Das Zulassungsverfahren wird als Berufungsverfahren fortgeführt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht (§ 124a Abs. 5 Satz 5 VwGO). Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung zu begründen. Die Begründung ist schriftlich bei dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht, Uelzener Straße 40, 21335 Lüneburg, oder Postfach 2371, 21313 Lüneburg, oder in elektronischer Form nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (ERVV) einzureichen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung unzulässig (§ 124a Abs. 3 Sätze 3 bis 5 und Abs. 6 VwGO).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).