Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 20.12.2019, Az.: 1 ME 134/19

geschlossene Bauweise; Grenzabstand; seitliche Grundstücksgrenze

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
20.12.2019
Aktenzeichen
1 ME 134/19
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 69916
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 04.10.2019 - AZ: 2 B 15/19

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Bei Eckgrundstücken ist im Regelfall für die Beurteilung einer Grundstücksgrenze als "seitliche" die Sichtweise von allen an das Grundstück angrenzenden öffentlichen Verkehrsflächen maßgeblich; anderes gilt lediglich dann, wenn der Bebauungsplan deutliche Indizien für das Gegenteil enthält.

Der Erschließungsfunktion der Verkehrsanlagen kommt dabei eine eher geringe Indizwirkung zu.

Tenor:

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Osnabrück - 2. Kammer - vom 4. Oktober 2019 geändert.

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind erstattungsfähig.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 7.500 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Der Antragsteller wendet sich gegen eine dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung, durch die er Grenzabstände zu seinem dem Vorhaben benachbarten Wohngrundstück und das Gebot der Rücksichtnahme verletzt sieht.

Das Grundstück des Antragstellers F. G. und das Vorhabengrundstück F. H. liegen in der Innenstadt von A-Stadt an der Nordseite der F.. Östlich des Vorhabengrundstücks führt ein stark ansteigender, teils als Treppe angelegter Fußweg – die I. – zur nördlichen Parallelstraße der F., der Straße J.. Das Vorhabengrundstück war ursprünglich in seinem südlichen Teil mit einem Wohn- und Geschäftshaus bebaut; ein an der breitesten Stelle gut 4 m breiter Streifen im Norden war unbebaut. Das ebenfalls an der Südseite bebaute Grundstück des Antragstellers reicht etwas weiter nach Norden als das Vorhabengrundstück und umschließt dessen Nordgrenze mit einem etwa 2 m breiten, an die I. heranreichenden Zwickel. Entlang seiner Nordgrenze grenzt eine Terrassenstufe das Antragstellergrundstück von seinem höhergelegenen nördlichen Nachbargrundstück J. K. ab.

Beide Grundstücke liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. L. „J.“ der Stadt A-Stadt, der dort ein Kerngebiet mit einer Grundflächenzahl (GFZ) von 1,0, einer Geschossflächenzahl von 1,6 und geschlossener Bauweise festsetzt. Ein Baufenster wird auf beiden Grundstücken sowie den westlichen Nachbargrundstücken durch Baulinien entlang der F. und I. und durch Baugrenzen im Norden und Westen gebildet; diese Grenze verläuft in ihrem Osten etwa einen Meter nördlich der Nordgrenze des Vorhabengrundstücks. Zur Erschließungssituation heißt es in der Planbegründung:

„Die Erschließung der Grundstücke erfolgt über die M. und F., der Gebäude N.. K. bis O. über das Grundstück des Eigentümers dieser Gebäude […]

Im Plangebiet sind folgende Stiegen als Fußwegquerverbindungen vorhanden:

[…]
12.2 I. (Verbindung P. –F.)“

Unter dem 19. September 2017 erteilte der Antragsgegner der Beigeladenen die – am 8. November 2018 um eine hier nicht relevante Nachtragsgenehmigung ergänzte – Baugenehmigung zum Umbau und zur Nutzungsänderung des Vorhabens; in dem Gebäude soll eine Pizzeria betrieben werden. Der bestehende Gebäudekubus soll im Norden um einen bis an die nördliche Grundstücksgrenze reichenden Anbau ergänzt werden, dessen Obergeschoss aufgrund der Hanglage an dieser Stelle ebenerdig begehbar ist. Die Nordwand von Ober- und Dachgeschoss soll vollständig verglast werden.

Am 21. März 2019 hat der Antragsteller Widerspruch gegen die ihm nicht bekanntgegebene Baugenehmigung erhoben und am 10. Mai 2019 beim Verwaltungsgericht die Anordnung der aufschiebenden Wirkung beantragt. Mit dem hier angegriffenen Beschluss hat das Verwaltungsgericht dem Antrag stattgegeben und zur Begründung ausgeführt: Der Antrag sei zulässig. Die Ablehnung seines behördlichen Aussetzungsantrags habe der Antragsteller nicht abwarten müssen, da der Antragsgegner diesen nicht in angemessener Zeit beschieden habe. Die weitgehende Fertigstellung des Rohbaus lasse sein Rechtsschutzbedürfnis nicht entfallen, da er sich auch auf Beeinträchtigungen (unzumutbare Einsichtnahmemöglichkeiten) berufe, die erst mit der Nutzung des Vorhabens verbunden seien. Das Widerspruchsrecht des Antragstellers sei nicht verfristet oder verwirkt. Der Antrag sei auch begründet, da sich die angegriffene Baugenehmigung voraussichtlich als rechtswidrig erweisen werde. Das Vorhaben halte den Grenzabstand nach § 5 Abs. 1 Satz 1 NBauO zur nördlichen Grundstücksgrenze nicht ein. Die geschlossene Bauweise rechtfertige hier keine Unterschreitung des Grenzabstandes nach § 5 Abs. 5 Satz 1 NBauO, da sie nach § 22 Abs. 3 BauNVO nur ein Bauen ohne seitliche Grenzabstände fordere. Welche Grundstücksgrenzen die seitlichen seien, sei durch Auslegung des Bebauungsplans zu ermitteln; im Zweifel sei der Blick von der Erschließungsstraße maßgeblich. Erschließungsstraße sei nach der Planbegründung allein die Wilhelmstraße. Zudem beziehe sich die Festsetzung der geschlossenen Bauweise ersichtlich nicht auf die Abfolge der Gebäude entlang der I.; Denn für die übrigen Gebäude an diesem Weg, namentlich das Grundstück J. K. sei eine offene Bauweise festgesetzt. Ob die I. den Anforderungen des § 4 NBauO an eine hinreichende Grundstückserschließung genüge, sei unerheblich.

II.

Die dagegen gerichtete Beschwerde, auf deren fristgerecht vorgetragene Gründe sich die Prüfung des Senats gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt, hat Erfolg. Ob die gegen die Zulässigkeit des Eilantrags gerichteten Beschwerdegründe durchgreifen, kann dahinstehen, denn jedenfalls ist dieser unbegründet. Die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung erforderlichen überwiegenden Erfolgsaussichten des Widerspruchs des Antragstellers vermag der Senat nicht zu erkennen.

Die Errichtung des Vorhabens ohne Grenzabstand zur rückwärtigen Grundstücksgrenze verstößt voraussichtlich nicht gegen § 5 Abs. 1 Satz 1 NBauO, da auch diese Grundstücksgrenze eine „seitliche“ i.S.d. § 22 Abs. 3 BauNVO sein dürfte, mit der Folge, dass die Festsetzung der geschlossenen Bauweise von der Einhaltung des Grenzabstandes entbindet (§ 5 Abs. 5 Satz 1 NBauO). Zutreffend hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, dass die Frage, ob eine Grundstücksgrenze eine rückwärtige oder eine „seitliche“ i.S.d. § 22 Abs. 3 BauNVO ist, durch Auslegung des Bebauungsplans, in dem die geschlossene Bauweise festgesetzt ist, zu beantworten ist. Eine allgemeingültige Regel dahingehend, dass bei Eckgrundstücken ausschließlich der Blick von der Straße aus maßgeblich ist, der nach der Intention des Plangebers oder auch nach Bauordnungsrecht eine Erschließungsfunktion zukommt, gibt es nicht. Die vom Verwaltungsgericht zitierten Kommentarstellen und Entscheidungen beziehen sich überwiegend (Fickert/Fieseler, BauNVO, 12. Aufl., § 22 Rn. 9; Blechschmidt, in: EZBK, § 22 BauNVO Rn. 8; OVG Bremen, Beschl. v. 1.3.1989 - 1 B 5/89 -, BRS 49 Nr. 191) auf den hier nicht vorliegenden Fall eines an keine öffentliche Verkehrsfläche direkt angrenzenden Hinterliegergrundstücks und sehen selbst in diesem Fall lediglich eine Faust- bzw. Zweifelsfallregel vor. Soweit ersichtlich, hat lediglich der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in seinem Beschluss vom 4. Oktober 2007 (- 8 S 1447/07 -, BRS 71 Nr. 71 = juris Rn. 5) bei einem an zwei öffentliche Verkehrsflächen angrenzenden Grundstück die Einstufung der Grundstücksgrenzen als vordere bzw. seitliche ausschließlich von der das Grundstück erschließenden öffentlichen Verkehrsfläche aus vorgenommen. Auch er hat im Rahmen der Subsumtion aber nicht auf die fehlende Erschließungsfunktion der zweiten öffentlichen Verkehrsfläche abgestellt, sondern darauf, dass „sich die Festsetzung der offenen Bauweise ersichtlich nicht auf die Abfolge der Gebäude entlang dieses Weges“ beziehe. Nach Auffassung des Senats ist bei Eckgrundstücken im Regelfall davon auszugehen, dass für die Beurteilung, welche Grundstücksgrenzen aus Sicht des Plangebers als „seitliche“ gelten, die Sichtweise von allen an das Grundstück angrenzenden öffentlichen Verkehrsflächen maßgeblich ist. Anderes gilt lediglich, wenn der Bebauungsplan – wie offenbar im Fall des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (a.a.O.) – deutliche Indizien für das Gegenteil enthält. Der (fehlenden) Erschließungsfunktion einer der Straßen kommt in diesem Zusammenhang lediglich das Gewicht eines Indizes unter mehreren zu; dieses ist zudem nicht überzubewerten, da die Festsetzung der offenen oder geschlossenen Bauweise in erster Linie stadtgestalterische Motive und nur geringen Bezug zur Grundstückserschließung hat.

Der Regelannahme, dass die geschlossene Bauweise entlang aller an das Grundstück angrenzenden öffentlichen Verkehrsflächen gelten soll, treten hier zudem weitere von den Beschwerdeführern fristgerecht vorgetragene Indizien zur Seite, die aus Sicht des Senats dafür sprechen, dass der Rat der Antragsgegnerin die Festsetzung der geschlossenen Bauweise auch für die Blickrichtung von der I. aus gewollt hat. Denn auch wenn er diesem Weg keine maßgebliche Erschließungsfunktion beigemessen haben mag, wird doch deutlich, dass der Plangeber diese Straße nicht als bloße Zäsur rückwärtiger Grundstücksbereiche, sondern als einen städtebaulich relevanten Blickpunkt behandelt hat. So wird auf S. 5 der Planbegründung ein Modernisierungsbedarf gerade für die Nordfassade des Vorgängerbaus des Vorhabens „aus dem Blickwinkel der I.“ betont. Indiz für einen planungsrechtlich relevanten baugestalterischen Eigenwert des Blicks von der I. ist aber vor allem der Umstand, dass entlang der Grenze dieses Weges zum Vorhabengrundstück auf ganzer Länge – und nicht nur, wie vom Verwaltungsgericht angenommen, im vorderen, bereits bebauten Bereich – eine Baulinie festgesetzt ist, während der Plangeber sich im Übrigen für die seitlichen und rückwärtigen Grenzen von Baufenstern mit der Festsetzung von Baugrenzen begnügt hat. Die Festsetzung einer Baulinie entlang des bislang unbebauten Bereichs des Vorhabengrundstücks spricht auch deshalb gegen die Annahme, der Plangeber habe die Einhaltung eines Grenzabstands von mindestens 3 m zur Nordgrenze des Vorhabengrundstücks gewollt, weil sie in diesem Fall leerliefe. Gleiches gilt für die Festsetzung einer Grundflächenzahl von 1,0 für das Vorhabengrundstück sowie den Umstand, dass das Grundstück, anders als seine zur Einhaltung eines „rückwärtigen“ Grenzabstandes verpflichteten westlichen Nachbarn, vollständig in einem Baufenster liegt. Dass diese Festsetzungen, wie der Antragsteller vorträgt, nicht zwingend ausgenutzt werden müssen, trifft zwar zu. Es ist aber – und das entscheidet – unwahrscheinlich, dass der Plangeber eine Auslegung seiner Festsetzungen gewollt hat, die eine Ausnutzung von vornherein unmöglich macht bzw. auf den Fall einer Veränderung von Grundstücksgrenzen oder der Einräumung einer Abstandsbaulast beschränkt. Hinzu kommt im Übrigen, dass die Einhaltung eines Grenzabstandes zum nordöstlichen Ausläufer des Antragstellergrundstücks, der aufgrund seiner Breite von nur rd. 2 m selbst ohne Grenzabstand kaum, mit Grenzabstandspflicht überhaupt nicht bebaubar ist, die typischen Zwecke des Bauwichs – Sicherstellung von Belichtung und Belüftung von Nachbargebäuden – nicht erfüllen kann.

Diese Indizien dafür, bei der Regelvermutung zu bleiben, dass die geschlossene Bauweise bei Eckgrundstücken entlang aller an das Grundstück grenzenden öffentlichen Verkehrsflächen gilt, sind in der Gesamtschau auch gewichtiger als der vom Verwaltungsgericht betonte Umstand, dass sich die Festsetzung der geschlossenen Bauweise nicht auf dem Grundstück J. K. fortsetzt. Dies gilt umso mehr, als diesem Umstand nur begrenzte Bedeutung zukommt. Die Herstellung einer durchgehenden Gebäudefront entlang der Westseite der gesamten I. dürfte als planerisches Ziel bereits deshalb ausscheiden, weil der Süden des Grundstücks „J. K.“ durch den aus den oben genannten Gründen kaum sinnvoll bebaubaren Ausläufer des Antragstellergrundstücks vom Vorhabengrundstück getrennt ist und weil das vorhandene Gebäude J. K. unter Denkmalschutz steht. Das schließt aber nicht aus, dass der Plangeber das Vorhabengrundstück deshalb von der Einhaltung eines Grenzabstandes an der Nordgrenze befreien wollte, weil er dem Grundstück die Möglichkeit einer kerngebietstypischen, die planerischen Verheißungen einer GRZ von 1,0 ausschöpfenden Nachverdichtung eröffnen wollte (vgl. auch S. 9, letzter Absatz der Planbegründung: „Sie [die Baulinien und Baugrenzen] lassen in unempfindlichen Bereichen Freiraum für notwendig werdende Erweiterungsbauten“).

Die für eine Geltung der geschlossenen Bauweise auch entlang der I. sprechenden Gründe sind auch gewichtiger als der – im Ansatz allerdings berechtigte – Einwand des Antragstellers, dass auf S. 5 der Planbegründung die Nordfassade des Vorgängerbaus des Vorhabens als „rückwärtige Fassade“ bezeichnet wird.

Ein Verstoß gegen das in § 15 Abs. 1 BauNVO enthaltene bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme ist fernliegend. Mit Blick auf die Lage des Vorhabens im Nordosten des Antragstellergebäudes kann eine nennenswerte Verschattungswirkung nicht eintreten; im Übrigen wäre diese bereits im Bebauungsplan, namentlich in der dort festgesetzten geschlossenen Bauweise, angelegt. Unzumutbare Einsichtnahmemöglichkeiten entstehen auch unter Berücksichtigung der an der Nordseite des Anbaus zweistöckig vorgesehenen Verglasung nicht. Das Wohnhaus des Antragstellers ist von dort nicht einsehbar, der hinter diesem Wohnhaus gelegene unbebaute Teil des Antragstellergrundstücks allenfalls für den, der direkt an die Glasscheibe tritt und zur Seite blickt. Der zwischen dem Vorhaben und der Terrassenmauer des Grundstücks J. K. eingezwängte nordöstliche Grundstückszipfel eignet sich schon aufgrund dieser Lage kaum als Außenwohnbereich und wird nach den vorliegenden Lichtbildern (etwa GA Bl. 130, 218) auch nicht als solcher genutzt. Die zum Grundstück des Antragstellers weisende Westwand des Anbaus ist nicht verglast und weist nicht einmal Fenster auf.

Die vorstehenden Erwägungen enthalten gegenüber dem Beschwerdevorbringen und dem Vortrag der Beteiligten im erstinstanzlichen Verfahren keine grundlegend neuen Gesichtspunkte. Die vom Antragsteller mit Schriftsatz vom 13.Dezember 2019 angeregte Erteilung eines rechtlichen Hinweises, sollte das Gericht Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung hegen, war daher nicht angezeigt, zumal bereits in der Mediationsanfrage des Berichterstatters vom 11. Dezember 2019 entsprechende Zweifel angesprochen worden sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1, 47 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).