Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 10.02.2011, Az.: 11 LA 491/10

Flüchtlingsanerkennung eines wegen seiner jahrelangen PKK-Mitgliedschaft eine politische Verfolgung befürchtenden Türken

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
10.02.2011
Aktenzeichen
11 LA 491/10
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2011, 10458
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2011:0210.11LA491.10.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Oldenburg - 08.10.2007 - AZ: 5 A 739/05

Fundstellen

  • AUAS 2011, 129-131
  • NVwZ 2011, 572-574

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Ein unter Berufung auf eine Frage grundsätzlicher Bedeutung i.S.d. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG eingelegtes Rechtsmittel kann bei zwischenzeitlicher Klärung der (zuvor tatsächlich grundsätzlich klärungsbedürftigen) Frage wegen sog. nachträglicher Divergenz zugelassen werden.

  2. 2.

    Der Europäische Gerichtshof gehört nicht zu den in § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG ausdrücklich genannten divergenzfähigen Gerichten.

  3. 3.

    Die unionsrechtliche Frage, ob der Ausschluss von der Flüchtlingsanerkennung gemäß Art. 12 Abs. 2 (b oder c) der Richtlinie 2004/83/EG voraussetzt, dass von der betreffenden Person eine gegenwärtige Gefahr ausgeht, ist durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 9. November 2010 geklärt; denn in dem Urteil wird die so lautende Vorlagefrage ausdrücklich verneint.

  4. 4.

    § 3 Abs. 2 (Nr. 2 und 3) AsylVfG dient der Umsetzung des Art. 12 Abs. 2 (b und c) der Richtlinie 2004/83/EG. Anhaltspunkte dafür, dass § 3 Abs. 2 AsylVfG ungeachtet dessen hinsichtlich der Frage nach einer Wiederholungsgefahr bei der Flüchtlingsanerkennung abweichend von dem vorgenannten Verständnis des Art. 12 Abs. 2 (b und c) der Richtlinie 2004/83/EG auszulegen ist, bestehen nicht.

Gründe

1

Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte mit Urteil vom 8. Oktober 2007 verpflichtet, den 1974 geborenen Kläger als Flüchtling (§ 60 Abs. 1 AufenthG) anzuerkennen. Der Kläger müsse bei einer Rückkehr in sein Heimatland Türkei wegen seiner jahrelangen (herausgehobenen) Tätigkeit für die PKK mit politischer Verfolgung rechnen. Der Ausschlussgrund des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG stehe der Anerkennung nicht entgegen. Der Ausschlussgrund sei "gemeinschafts- und verfassungskonform" eng auszulegen und erfordere deshalb eine Wiederholungsgefahr, an der es hier mangele. Die Beklagte hat gegen das Urteil fristgerecht einen Zulassungsantrag gestellt und die grundsätzliche Bedeutung der Frage geltend gemacht, ob für die Anwendbarkeit von § 3 Abs. 2 AsylVfG von dem betroffenen Ausländer weiterhin Gefahren ausgehen müssen und es somit einer Prüfung der Wiederholungsgefahr bedarf. Im Hinblick auf den Vorlagebeschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. Oktober 2008 (- 10 C 48/07 -, [...]) zur Klärung der Voraussetzungen für den Ausschluss von der Flüchtlingsanerkennung wegen terroristischer Aktivitäten hat der Senat das Zulassungsverfahren mit Beschluss vom 8. Dezember 2008 ausgesetzt. Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 9. November 2010 (C- 57 und 101/09-, InfAuslR 2011, 40 ff. [EuGH 09.11.2010 - Rs. C-57/09; Rs. C-101/09]), das auf den vorgenannten und einen weiteren Vorlagebeschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. November 2008 ( - 10 C 46/07 -, [...]) ergangen ist, ist das Zulassungsverfahren wiederaufgenommen worden. Der Beklagte macht nunmehr geltend, dass seiner o. a. Frage auch nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 9. November 2010 weiterhin grundsätzliche Bedeutung zukomme, und regt im Übrigen an, eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, etwa in den den Vorlagebeschlüssen zu Grunde liegenden Ausgangsverfahren, zu der aufgeworfenen Frage abzuwarten.

2

Die Berufung ist zwar nicht nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 (1), aber in entsprechender Anwendung von § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG zuzulassen (2).

3

1.

Nicht mehr grundsätzlich klärungsbedürftig i.S.d. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG ist eine vom Europäischen Gerichtshof geklärte Frage zur Auslegung von Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht (vgl. Kraft, in: Eyermann, VwGO, 13. Aufl., § 132, Rn. 18). Die unionsrechtliche Frage, ob der Ausschluss von der Flüchtlingsanerkennung gemäß Art. 12 Abs. 2 (b oder c) der Richtlinie 2004/83/EG voraussetzt, dass von der betreffenden Person eine gegenwärtige Gefahr ausgeht, ist damit durch das o. a. Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 9. November 2010 geklärt; denn in dem Urteil wird die so lautende Vorlagefrage 2 ausdrücklich verneint. § 3 Abs. 2 (Nr. 2 und 3) AsylVfG dient der Umsetzung des Art. 12 Abs. 2 (b und c) der Richtlinie 2004/83/EG (vgl. nur BVerwG, Beschl. v. 14.10.2008, a.a.O., Rn. 16). Anhaltspunkte dafür, dass § 3 Abs. 2 AsylVfG ungeachtet dessen hinsichtlich der hier maßgeblichen Frage nach einer Wiederholungsgefahr bei der Flüchtlingsanerkennung abweichend von dem vorgenannten Verständnis des Art. 12 Abs. 2 (b und c) der Richtlinie 2004/83/EG auszulegen ist, bestehen nicht und sind insbesondere auch vom Bundesverwaltungsgericht in dessen Vorlagebeschlüssen vom 14. Oktober und 25. November 2008 nicht aufgezeigt worden (vgl. etwa Beschl. v. 14.10.2008, a.a.O., Rn. 28 f.), zumal eine weitergehende Schutzgewährung nach nationalem Recht, d.h. eine Asylanerkennung, nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist (vgl. die Antwort des Europäischen Gerichtshofes auf die fünfte Vorlagefrage des Bundesverwaltungsgerichts). Damit ist durch das vorgenannte Urteil des Europäischen Gerichtshofes auch die vom Beklagten in seinem Zulassungsantrag aufgeworfene Frage zur Auslegung des § 3 Abs. 2 AsylVfG geklärt (so bereits Senatsbeschl. v. 15.12.2010 - 11 LA 495/10 -, [...], Rn. 2).

4

2.

In der Rechtsprechung ist allerdings anerkannt, dass ein unter Berufung auf eine Frage grundsätzlicher Bedeutung i.S.d. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG eingelegtes Rechtsmittel bei zwischenzeitlicher Klärung der (zuvor - wie hier - tatsächlich grundsätzlich klärungsbedürftigen) Frage wegen sog. nachträglicher Divergenz zugelassen werden kann (vgl. nur BVerfG, Beschl. v. 21.1.2000 - 2 BvR 2125/97 -, DVBl. 2000, 407 f.; BVerwG, Beschl. v. 21.2.2000 - 9 B 57/00 -, [...], m.w.N.).

5

a)

Ungeachtet dessen kommt hier eine unmittelbare Anwendung des § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG wegen nachträglicher Divergenz nicht in Betracht. Denn der Europäische Gerichtshof gehört nicht zu den in § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG ausdrücklich genannten divergenzfähigen Gerichten (vgl. zu § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO nur: BVerwG, Beschl. v. 18.8.2009 - 8 B 60/09 - und v. 23.1.2001 - 6 B 35/00 -, [...]). Vom Bundesverwaltungsgericht als divergenzfähigem Gericht fehlt wiederum bislang eine divergenzfähige Entscheidung zu der hier maßgeblichen Frage. Weder die in den o. a. Vorlagebeschlüssen hierzu vertretene Rechtansicht noch die Hinweise in seinem zurückverweisenden Urteil vom 24. November 2009 (- 10 C 24/08 -, [...], Rn. 46; vgl. auch Urt. v. 16.2.2010 - 10 C 7/09 -, [...], Rn. 50) enthalten insoweit bindende und damit divergenzfähige Rechtssätze (vgl. BVerwG, Beschl. v. 12.10.2010 - 7 B 22/10 -, [...], Rn. 7; GK-AsylVfG, § 78, Rn. 163 f.).

6

b)

Jedenfalls in der vorliegenden Fallgestaltung hält der Senat zur Wahrung effektiven Rechtsschutzes aber eine entsprechende Anwendung des§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG für geboten (vgl. zur analogen Divergenzzulassung: bejahend Czybulka, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl., § 132, Rn. 72 ff.; ablehnend BVerwG, Beschl. v. 26.1.2010 - 9 B 40/09 -, [...], Rn. 2).

7

Dabei kann offen bleiben, ob nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I S. 1970) - Richtlinienumsetzungsgesetz - eine planwidrige Regelungslücke bereits allgemein gegeben ist, soweit eine Abweichung von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes dem Wortlaut des § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG nach weiterhin unerheblich ist. Jedenfalls ist eine planwidrige Lücke in der vorliegenden Sondersituation zu bejahen, in der eine zuvor zu Recht aufgeworfene Frage von grundsätzlicher Bedeutung durch eine zwischenzeitliche Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes geklärt wird, ohne dass es dazu noch weiterer Rechtsprechung eines divergenzfähigen Gerichts bedarf. Denn es ist nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber bei Erlass des § 78 Abs. 3 AsylVfG an diese Sondersituation gedacht hat. Die damit bestehende Lücke ist zur Wahrung effektiven Rechtsschutzes interessengerecht dadurch zu schließen, dass dann ausnahmsweise (vorübergehend) auch eine Abweichung von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zur Divergenzzulassung führt; ob insoweit der Europäische Gerichtshof den ausdrücklich genannten Gerichten gleichzustellen oder wegen der Bindungswirkung seines Urteils im Vorlageverfahren (vgl. dazu Dörr, in: Sodan/Ziekow, a.a.O., Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 140 ff. m.w.N.) von einer gleichsam antizipierten Abweichung von der späteren Rechtsprechung insbesondere des Bundesverwaltungsgerichts als divergenzfähigem Gericht auszugehen ist (vgl. insoweit ablehnend zu § 132 VwGOBVerwG, Beschl. v. 13.8.1990 - 9 B 49/90 -, [...], Rn. 7), bleibt offen.

8

Hieran gemessen ist die Berufung vorliegend in entsprechender Anwendung von § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG zuzulassen. Denn der Beklagte hatte fristgerecht und mit hinreichender Begründung die im Zeitpunkt der Antragstellung zu bejahende grundsätzliche Bedeutung der o. a. Frage dargelegt. Diese Frage ist zu dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt des Senats durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 9. November 2010 geklärt. Von dieser Rechtsprechung ist das Verwaltungsgericht hinsichtlich der umstrittenen Flüchtlingsanerkennung tragend abgewichen. Denn es hat ausdrücklich eine Wiederholungsgefahr für erforderlich erachtet, beim Kläger verneint und ihn als Flüchtling anerkannt. Schließlich kann im Zulassungsverfahren auch nicht festgestellt werden, dass sich das angegriffene Urteil hinsichtlich der Flüchtlingsanerkennung des Klägers jedenfalls aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig erweist. Die nach dem wiederholt zitierten Urteil des Europäischen Gerichtshofes (Antwort auf die Vorlagefrage 1) zur Feststellung des streitigen Ausschlussgrundes nach § 3 Abs. 2 AsylVfG erforderliche Beurteilung der genauen Umstände des Einzelfalles ist vielmehr dem Berufungsverfahren vorbehalten.

9

Das Antragsverfahren wird deshalb als Berufungsverfahren unter dem neuen Aktenzeichen

10

11 LB 49/11

11

fortgeführt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht (§ 78 Abs. 5 Satz 3 AsylVfG).

12

Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung zu begründen. Die Begründung ist bei dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht. Uelzener Straße 40, 21335 Lüneburg, oder Postfach 2371, 21313 Lüneburg, einzureichen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden des 11. Senats verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung unzulässig (§ 124a Abs. 3 VwGO).

13

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).