Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 15.12.2010, Az.: 11 LA 495/10
Ausschluss von der Flüchtlingsanerkennung wegen Aktivitäten als Jugendlicher für die DHKP-C in der Türkei
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 15.12.2010
- Aktenzeichen
- 11 LA 495/10
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2010, 29538
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2010:1215.11LA495.10.0A
Rechtsgrundlagen
- § 3 Abs. 2 AsylVfG
- § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG
Fundstelle
- AUAS 2011, 70-72
Amtlicher Leitsatz
Zum Ausschluss von der Flüchtlingsanerkennung wegen Aktivitäten als Jugendlicher für die DHKP-C in der Türkei
Gründe
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat auch insoweit, als der Senat hierüber (hinsichtlich der Asylanerkennung) nicht bereits durch den Teilbeschluss vom 10. Dezember 2008 entschieden hat, keinen Erfolg.
Die vom Kläger hinsichtlich der noch streitigen Flüchtlingsanerkennung als grundsätzlich bedeutsam i.S.d.§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG bezeichnete Frage, ob der - hier vom Verwaltungsgericht wegen der in den Jahren 1994 und 1995 erfolgten Aktivitäten des Klägers für die DHKP-C bejahte - Ausschlussgrund des § 3 Abs. 2 AsylVfG eine Wiederholungsgefahr als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal voraussetzt, ist zu dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt des Senats durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 9. November 2010 (C- 57 und 101/09 -) geklärt (vgl. zu den Bindungswirkungen einer solchen Vorabentscheidung: Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, 1. Aufl., 2006, Rn. 299 ff., m.w.N.). Vom Ausländer muss danach keine gegenwärtige Gefahr ausgehen. Dies gilt nicht nur für die Auslegung von Art. 12 Abs. 2 Buchst. b und c der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004, sondern auch für die Auslegung des § 3 Abs. 2 (Nrn. 2 und 3) AsylVfG, der der Umsetzung der zuvor bezeichneten Bestimmungen der Richtlinie 2004/83/EG dient. Von diesem Verständnis des § 3 Abs. 2 (Nrn. 2 und 3) AsylVfG ist im Übrigen auch das Verwaltungsgericht im angegriffenen Urteil ausgegangen.
Die vom Kläger weiterhin aufgeworfene Frage, ob ein Ausschlussgrund i.S.d. § 3 Abs. 2 Nrn. 2 oder 3 AsylVfG bereits durch Anschluss des Ausländers an eine Terrororganisation erfüllt ist oder eine eigene aktive Handlung ... erfordert, stellte sich hier schon nicht entscheidungserheblich - wie dies für eine Zulassung nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG erforderlich ist (vgl. nur GK-AsylVfG, § 78, Rn. 80). Entgegen der Annahme des Klägers lässt sich nämlich dem verwaltungsgerichtlichen Urteil nicht entnehmen, das Verwaltungsgericht sei von Ersterem ausgegangen. Das Verwaltungsgericht hat insoweit keinen allgemein gültigen Obersatz gebildet, sondern lediglich einzelfallbezogen festgestellt, dass sich der Kläger einer militanten Einheit der DHKP-C angeschlossen hatte, in die Berge gegangen war, dort an Waffen und ideologisch ausgebildet worden war und bei Kampfhandlungen zwar nur in der zweiten Reihe gestanden, sich daran aber immerhin beteiligt hatte. Damit ist ein Verhalten umschrieben, das jedenfalls über den bloßen Anschluss an eine Terrororganisation hinausgeht und eigene, wenn auch ggf. untergeordnete Unterstützungsbeiträge mit einschließt. Ob diese im Einzelfall zu Recht als solche i.S.d. § 3 Abs. 2 Nrn. 2 oder 3 AsylVfG angesehen worden sind, ist für die Zulassung nach § 78 Abs. 3 AsylVfG unerheblich.
Ebenso wenig grundsätzlich bedeutsam i.S.d. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG ist die weitere Frage, ob mit der Aufnahme einer Organisation - hier der DHKP-C - in die Liste entsprechend der Verordnung EG-Nr. 2580/2001, d.h. in die Liste der "terroristischen Organisationen", zwingend auch für einen rückwirkenden Zeitraum auf den Charakter dieser Organisation geschlossen werden dürfe. Soweit sich die Aufnahme nicht selbst Rückwirkung beimisst, ist die Frage vielmehr ohne Weiteres zu verneinen. Im Übrigen ist auch das Verwaltungsgericht nicht von einem abweichenden Verständnis ausgegangen. Denn es hat - wie der Kläger nachfolgend unter Ziffer 4. seines Zulassungsantrages selbst zutreffend erwägt - weder ausdrücklich noch konkludent den ihm vom Kläger zugeschriebenen Rechtssatz aufgestellt, die Eigenschaft der DHKP-C als "Terrororganisation" auch in den Jahren 1994/1995 ergebe sich durch ihre spätere Aufnahme in die zuvor genannte EU-Liste aus dem Mai 2002. Als Begründung für die Qualifikation als "Terrororganisation" auch für den vorhergehenden, hier maßgeblichen Zeitraum hat das Verwaltungsgericht vielmehr inhaltlich argumentiert und - offenbar unter stillschweigender Übernahme der Ausführungen in dem Urteil desNordrhein- Westfälischen Oberverwaltungsgerichts vom 27. März 2007 (- 8 A 2632/06. A -), das in der zuvor übersandten Erkenntnismitteliste genannt ist - darauf verwiesen, dass die DHKP-C terroristische Methoden anwende und das Ziel verfolge, das bestehende türkische Staatssystem durch einen bewaffneten Volkskrieg zu zerschlagen, um ein sozialistisches System zu errichten.
Die diesbezügliche Gehörsrüge (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) des Klägers ist unbegründet. Die Qualifikation der DHKP-C war Gegenstand des erstinstanzlichen Schriftwechsels zwischen den Beteiligten. Dabei ist nicht nur die Beklagte, sondern mittelbar auch der Kläger selbst von einer Einstufung der DHKP-C als terroristische Organisation ausgegangen, und zwar auch bezogen auf die hier maßgeblichen Jahre 1994 und 1995. Denn er hat sich anwaltlich vertreten mit Schriftsatz vom 3. September 2007 selbst ausdrücklich auf ein als Anlage beigefügtes Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf (vom 22. März 2007 - 4 K 172/07 -) berufen. Danach handelt es sich bei der Dev-Sol um eine terroristische Vereinigung, die sowohl in der Türkei als auch in Deutschland (seit 1983) verboten ist. Die DHKP-C stellt eine (spätestens) 1994 aus der Spaltung der Dev-Sol entstandene Nachfolgeorganisation dar, die in Deutschland seit 1998 als Ersatzorganisation der 1983 verbotenen Dev-Sol gilt (vgl. dazu BVerwG, Gerichtsbescheid v. 28.10.1999 - 1 A 4/98 - sowie Urt. v. 1.2.2000 - 1 A 4/98 -, Buchholz 402.45 VereinsG Nrn. 31 und 32) und (somit) auch in Deutschland als terroristische Vereinigung eingestuft ist. Angesichts dieser - unverändert gültigen (vgl. etwa Österreichisches Bundesasylamt v. 3.11.2010, Verbotene Organisationen: Die DHKP-C), auch vom UNHCR nicht in Frage gestellten (vgl. das englischsprachige "Background Paper" v. September 2001 zu Asylgesuchen aus der Türkei, Rn. 28 f.) - Einschätzung bedurfte es des vom Kläger vermissten Hinweises bzw. der Einführung weiterer Gutachten nicht. Zudem trägt der Kläger auch nicht konkret vor, welche Erkenntnisse er andernfalls in das Verfahren eingeführt hätte, aus denen sich ungeachtet der von der DHKP-C angestrebten Ziele und der dabei angewandten Methoden, die Morde gegenüber Zivilisten und Anschläge gegenüber "Abtrünnigen" einschließen, nicht um eine terroristische Organisation handeln soll.
Schließlich kann die Berufung nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG auch nicht zur Klärung der sinngemäß aufgeworfenen Frage zugelassen werden, ob es bei der Anwendung des § 3 Abs. 2 (Nrn. 2 und 3) AsylVfG von Bedeutung ist, ob die Taten von einem (damals) Jugendlichen oder einem Erwachsenen begangen worden sind bzw. ob eine "Verantwortlichkeit im Sinne des Erwachsenenstrafrechts" erforderlich ist. Denn der Kläger legt schon nicht dar, dass die Frage nicht nur nach seinem Vorbringen, sondern auch nach den maßgeblichen (vgl. GK-AsylVfG, § 78, Rn. 153) tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts entscheidungserheblich gewesen ist. Das ist auch nicht sicher zu erkennen. Denn das Verwaltungsgericht hat zum Alter des Klägers im fraglichen Zeitraum, also in den Jahren 1994 und 1995, keine eigenen Feststellungen getroffen. Selbst wenn man aber annimmt, mit der Wiedergabe des klägerischen Vorbringens, er sei im August 1977 geboren und deshalb auch im Frühjahr 1995, als er die DHKP-C verlassen habe, noch keine 18 Jahre alt gewesen, sei dieses Vorbringen vom Verwaltungsgericht stillschweigend übernommen worden, fehlt es an der Klärungsbedürftigkeit der Frage. Denn der Europäische Gerichtshof hat in seinem o. a. Urteil entschieden, dass für das Vorliegen von Ausschlussgründen der betreffenden Person ein Teil der Verantwortung für Handlungen, die von der fraglichen Organisation im Zeitraum der Mitgliedschaft der Person in dieser Organisation begangen wurden, zuzurechnen sein muss und dass diese individuelle Verantwortung anhand sowohl objektiver als auch subjektiver Kriterien zu beurteilen ist. Dies schließt die Prüfung der altersbedingten Einsichtsfähigkeit ein, ohne dass damit generell eine Verantwortlichkeit vor Vollendung des 18. Lebensjahres ausgeschlossen ist. Hiervon wird auch in der Literatur ausgegangen (vgl. etwa Ziffer 21 der UNHCR-Richtlinien zum Internationalen Schutz vom 4. September 2003: Anwendung der Ausschlussklauseln; Hofmann/Hoffmann (Hrsg.), HK-AuslR, 1. Aufl., 2008, § 3 AsylVfG, Rn. 9; Marx, Handbuch zur Qualifikationsrichtlinie, 2009, S. 568, Rn. 130). Ob das Verwaltungsgericht diesen Vorgaben an die Feststellung eines Ausschlussgrundes i.S.d. § 3 Abs. 2 (Nrn. 2 und 3) AsylVfG im Einzelfall hinreichend entsprochen hat, ist - wie dargelegt - für die Zulassung nach § 78 Abs. 3 AsylVfG unerheblich.
Schließlich kommt auch eine Zulassung der Berufung wegen nachträglicher Divergenz (vgl. dazu GK-AsylVfG, § 78, Rn. 186, m.w.N.) nicht in Betracht. Das Verwaltungsgericht hat keinen seine Entscheidung tragenden Rechtssatz aufgestellt, der von einem (nachträglich gebildeten) Rechtssatz eines in § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG ausdrücklich bezeichneten, divergenzfähigen Gericht oder des Europäischen Gerichtshofes abweicht; ob über den Wortlaut dieser Bestimmung hinaus eine Abweichung von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes überhaupt beachtlich sein kann, muss deshalb hier nicht geklärt werden.