Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 17.12.2013, Az.: 13 LA 179/13

Zurechnung des Vertretenmüssens bei Inanspruchnahme von Leistungen durch einen erwerbsunfähigen Einbürgerungsbewerber

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
17.12.2013
Aktenzeichen
13 LA 179/13
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2013, 51012
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2013:1217.13LA179.13.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Göttingen - 16.08.2013 - AZ: 4 A 89/11

Fundstellen

  • AUAS 2014, 59
  • DÖV 2014, 311
  • InfAuslR 2014, 111-113
  • NVwZ-RR 2014, 285
  • ZAR 2014, 6
  • ZAR 2014, 170

Amtlicher Leitsatz

Mangels Zurechnungsnorm hat ein erwerbsunfähiger Einbürgerungsbewerber die Inanspruchnahme von Leistungen nach dem SGB XII nicht im Sinne des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 2. HS. StAG deshalb zu vertreten, weil sein ihm unterhaltspflichtiger Ehegatte zumutbare Erwerbsbemühungen unterlässt; das fremde Vertretenmüssen wird dem Einbürgerungsbewerber nicht anspruchshindernd als eigenes zugerechnet.

[Gründe]

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.

Die Zulassung der Berufung setzt nach § 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO voraus, dass einer der in § 124 Abs. 2 VwGO genannten Zulassungsgründe dargelegt ist und vorliegt. Eine hinreichende Darlegung nach § 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 VwGO erfordert, dass in der Begründung des Zulassungsantrags im Einzelnen unter konkreter Auseinandersetzung mit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung ausgeführt wird, weshalb der benannte Zulassungsgrund erfüllt sein soll. Zwar ist bei den Darlegungserfordernissen zu beachten, dass sie nicht in einer Weise ausgelegt und angewendet werden, welche die Beschreitung des eröffneten Rechtswegs in einer unzumutbaren, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschwert (BVerfG, 2. Kammer des 2. Senats, Beschl. v. 12. März 2008 - 2 BvR 378/05 -; BVerfG, 2. Kammer des 1. Senats, Beschl. v. 24. Januar 2007 - 1 BvR 382/05 -; BVerfG, 1. Kammer des 2. Senats, Beschl. v. 21. Januar 2000 - 2 BvR 2125/97 -, jeweils zit. nach [...]). Erforderlich sind aber qualifizierte, ins Einzelne gehende, fallbezogene und aus sich heraus verständliche, auf den jeweiligen Zulassungsgrund bezogene und geordnete Ausführungen, die sich mit der angefochtenen Entscheidung auf der Grundlage einer eigenständigen Sichtung und Durchdringung des Prozessstoffes auseinandersetzen.

1. Der von der Beklagten geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) ist nicht hinreichend dargelegt bzw. liegt nicht vor. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils setzen voraus, dass gegen dessen Richtigkeit gewichtige Gründe sprechen. Das ist regelmäßig der Fall, wenn ein die Entscheidung tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23. Juni 2000 - 1 BvR 830/00 -; BVerwG, Beschl. v. 10. März 2004 - 7 AV 4.03 -, jeweils zit. nach [...]). Da das Erfordernis der ernstlichen Zweifel auch auf die Ergebnisrichtigkeit abstellt, dürfen sich die Zweifel indessen nicht ausschließlich auf die vom Verwaltungsgericht gegebene Begründung beziehen, sondern es ist zusätzlich das Ergebnis, zu dem das Verwaltungsgericht gelangt ist, mit in den Blick zu nehmen. Für die Zulassung der Berufung wegen des Vorliegens ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils muss also mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein, dass die Berufung zu einer Änderung der angefochtenen Entscheidung führen wird. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegen hingegen nicht vor, wenn zwar einzelne Rechtssätze oder tatsächliche Feststellungen, welche das Urteil tragen, zu Zweifeln Anlass bieten, das Urteil aber im Ergebnis aus anderen Gründen offensichtlich richtig ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 10. März 2004 - 7 AV 4.03 -, a.a.O.). Ist das Urteil auf mehrere selbständig tragende Begründungen gestützt, müssen hinsichtlich aller Begründungen Zulassungsgründe dargelegt werden (Bader, in: ders./Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, 5. Aufl. 2011, § 124a Rdnr. 82). Daraus folgt für den Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils, dass sämtliche tragenden Begründungen erschüttert werden müssen. Dies ist vorliegend nicht gelungen.

a) Die Beklagte hat die das Urteil selbständig tragende Auffassung des Verwaltungsgerichts, der 1930 geborene, schwerbehinderte und pflegebedürftige Kläger habe den Bezug von Leistungen nach dem SGB XII auch nicht mit der Begründung zu vertreten, dass ihm die fehlenden Erwerbsbemühungen seiner (wesentlich jüngeren) Ehefrau zugerechnet werden könnten, nicht mit durchgreifenden Argumenten in Zweifel zu ziehen vermocht.

aa) Der Zulassungsantrag macht nicht anhand des Gesetzes und der Rechtsprechung plausibel, aufgrund welcher Rechtsgrundlage eine solche Zurechnung fremden Unterlassens an den Einbürgerungsbewerber in Betracht kommen soll. Aus dem von der Beklagten zitierten Beschluss des Senats vom 28. Juli 2010 - 13 PA 104/10 -, S. 2 des Beschlussabdrucks, folgt für diese Frage nichts. Soweit die Beklagte inhaltlich eine Rechtsprechung anderer Gerichte wiedergibt, welche die Zurechnung fehlender Erwerbsbemühungen unterhaltsberechtigter Familienangehöriger an den Einbürgerungsbewerber verneint (vgl. etwa die vom Verwaltungsgericht angeführten Urteile d. VG Aachen v. 28. Oktober 2009 - 5 K 758/08 -, [...] Rdnr. 27, und d. VG Sigmaringen v. 25. Januar 2006 - 5 K 1868/04 -, [...] Rdnr. 32; ebenso VG Ansbach, Urt. v. 9. Januar 2008 - AN 15 K 07.02994 -, [...] Rdnr. 28), ist nicht nachvollziehbar, wie die Beklagte darauf gestützt zu dem gegenteiligen Schluss für das Verhältnis eines unterhaltsverpflichteten Familienangehörigen zum Einbürgerungsbewerber gelangt.

Der Wortlaut des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 2. HS. StAG stellt, wenn der Lebensunterhalt des Einbürgerungsbewerbers und seiner unterhaltsberechtigten Familienangehörigen wie hier nicht ohne Inanspruchnahme von Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII gesichert ist, nur darauf ab, ob "er" (d.h. der Einbürgerungsbewerber in eigener Person) die Inanspruchnahme zu vertreten hat. Für ein Vertretenmüssen ist es erforderlich, aber auch ausreichend, dass der Ausländer durch ein ihm zurechenbares Handeln oder Unterlassen adäquat-kausal die Ursache für den - fortdauernden - Leistungsbezug gesetzt hat. Der Begriff des zu vertretenden Grundes ist im öffentlichen Recht wertneutral auszulegen und setzt kein pflichtwidriges, schuldhaftes Verhalten voraus; das Ergebnis muss lediglich auf Umständen beruhen, die dem Verantwortungsbereich der handelnden Person zuzurechnen sind (vgl. Urt. d. Senats v. 13. November 2013 - 13 LB 99/12 -, [...] Rdnr. 34; im Anschluss an BVerwG, Urt. v. 19. Februar 2009 - 5 C 22.08 -, BVerwGE 133, 153, 160 f., [...] Rdnr. 23; Berlit, in: Fritz/Vormeier [Hrsg.], GK-StAR, Stand: 27. EL Juli 2013, § 10 StAG Rdnrn. 251, 253; Hailbronner, in: ders./Renner/Maaßen, Staatsangehörigkeitsrecht, 5. Aufl. 2010, § 10 StAG Rdnr. 39, jew. m.w.N.). Im Verantwortungsbereich eines jeden Menschen liegt grundsätzlich nur eigenes Verhalten. In Abwesenheit einer Zurechnungsnorm schließt dies ein Vertretenmüssen des Einbürgerungsbewerbers allein aufgrund der Zurechnung fremden Handelns oder Unterlassens von Familienangehörigen aus, seien diese gegenüber dem Einbürgerungsbewerber unterhaltsberechtigt oder -verpflichtet.

bb) Erheblich kann daher im vorliegenden Fall nur ein eigenes Unterlassen des Klägers sein, aufgrund dessen adäquat-kausal und zurechenbar eine zumindest teilweise eigenständige Sicherung des Lebensunterhalts (vgl. Urt. d. Senats v. 13. November 2013, a.a.O., Rdnr. 39; im Anschluss an BVerwG, Urt. v. 19. Februar 2009, a.a.O., S. 157 bzw. [...] Rdnr. 15) unterbleibt. Dafür hat die Beklagte nichts Substantielles dargetan.

Das von ihr gebildete Beispiel, dass ein Einbürgerungsbewerber die Geltendmachung eines Unterhaltsanspruchs gegenüber "gut situierten" unterhaltsverpflichteten Kindern unterlässt, ist im vorliegenden Fall ersichtlich nicht einschlägig. Die Beklagte behauptet auch im zweiten Rechtszug nicht, dass ein notfalls gerichtlich durchsetzbarer Unterhaltsanspruch des Klägers gegen seine Ehefrau aus § 1360 BGB bestünde. Insoweit folgt aus ihrem Verweis darauf, dass der Lebensunterhalt ohne Inanspruchnahme einbürgerungsschädlicher Sozialleistungen im Sinne des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 1. HS. StAG (zugunsten des Einbürgerungsbewerbers) positiv als gesichert gilt, wenn dieser ihn aus Mitteln Dritter (z.B. Familienangehöriger) bestreiten kann, für den hier vorliegenden negativen Fall, dass der Einbürgerungsbewerber derartige Mittel weder bezieht noch erlangen kann, für ein Vertretenmüssen nichts.

Soweit die Beklagte in ihrer Zulassungsbegründung zu einem vom Kläger aktuell unterlassenen Verhalten allein ausführt, dem Kläger obliege es, "auf zwischenmenschlichem Wege seine Ehefrau dazu [zu] veranlass[en], jedenfalls durch Teilzeitarbeit auch seinen Sozialleistungsbedarf zu mindern", so stellt diese Rüge ein tragendes Begründungselement des angefochtenen Urteils nicht substantiiert in Frage. Denn auch das Verwaltungsgericht hat eine derartige Bitte als die dem Kläger verbleibende Möglichkeit angesehen. Allerdings ist es offenbar von der Fruchtlosigkeit einer solchen Bitte ausgegangen. Die Beklagte macht keine näheren Ausführungen dazu, weshalb diese Annahme unrichtig sein könnte. Weitere (rechtlich zulässige und zumutbare) Maßnahmen, die der Kläger gegenüber seiner Ehefrau ergreifen soll und die erfolgversprechend sein könnten, zeigt die Zulassungsbegründung ebenfalls nicht auf.

Schließlich trägt das Vorbringen der Beklagten, der Kläger habe sich seit seiner Einreise im Alter von 52 (zutreffend: 55) Jahren niemals um die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bemüht, nichts aus. Ein derartiges vom Kläger in der Vergangenheit unterlassenes Handeln kann unter dem Gesichtspunkt einer darauf beruhenden unzureichenden Altersvorsorge nur bis zum Erreichen der Altersgrenze von (höchstens) 65 Jahren relevant gewesen sein. Dem nunmehr 83 Jahre alten Kläger können jedoch frühere Unterlassungen, deren Folgen unabänderlich geworden sind, nach der Rechtsprechung (vgl. BVerwG, Urt. v. 19. Februar 2009 - 5 C 22.08 -, BVerwGE 133, 153, 163 f., [...] Rdnr. 28) höchstens für die Dauer von acht zurückliegenden Jahren zugerechnet werden.

b) Vor diesem Hintergrund kommt es auf die weitere Rüge der Beklagten, die gegen die (möglicherweise) selbständig tragende Begründung des Urteils gerichtet ist, aufgrund eines langjährigen nachgiebigen aufenthaltsrechtlichen Umgangs mit der Regel-Erteilungsvoraussetzung "Sicherung des Lebensunterhalts" (§§ 5 Abs. 1 Nr. 1, 2 Abs. 3 AufenthG) verliere im vorliegenden Einzelfall des Klägers auch die Einbürgerungsvoraussetzung der Unterhaltsfähigkeit (§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG) an Bedeutung, nicht mehr an.

2. Der von der Beklagten weiterhin geltend gemachte Berufungszulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) wird ebenfalls nicht in einer den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO genügenden Weise dargelegt bzw. liegt nicht vor. Eine Rechtssache ist nur dann grundsätzlich bedeutsam, wenn sie eine höchstrichterlich oder obergerichtlich bislang noch nicht beantwortete Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die im Rechtsmittelverfahren entscheidungserheblich wäre und die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer fallübergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf. Die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache ist nur dann im Sinne des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegt, wenn eine derartige Frage konkret bezeichnet und darüber hinaus erläutert worden ist, warum die Frage im angestrebten Berufungsverfahren entscheidungserheblich und klärungsbedürftig wäre und aus welchen Gründen ihre Beantwortung über den konkreten Einzelfall hinaus dazu beitrüge, die Rechtsfortbildung zu fördern oder die Rechtseinheit zu wahren.

Die von der Beklagten für klärungsbedürftig gehaltene Frage, "ob einem Einbürgerungsbewerber eine fehlende Erwerbstätigkeit ihm gegenüber grds. unterhaltsverpflichteter Familienangehöriger bzw. deren fehlende Bemühungen um eine Arbeitsstelle anspruchshindernd zugerechnet werden kann" (Hervorhebung im Original), hat keine grundsätzliche Bedeutung. Sie bedarf keiner allgemeinen Klärung. Der bloße Verweis der Beklagten darauf, das Nds. Oberverwaltungsgericht habe sich mit dieser Frage noch nicht auseinandergesetzt, reicht nicht aus. Ihre verneinende Beantwortung ergibt sich bereits unmissverständlich aus dem Gesetz (§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 2. HS. StAG). Insoweit kann auf die obigen Ausführungen verwiesen werden.

Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).