Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 13.12.2013, Az.: 11 LA 262/13

Eigenverantwortliche Überprüfung des Ablaufs von Fristen durch einen prozessbevollmächtigten Rechtsanwalt

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
13.12.2013
Aktenzeichen
11 LA 262/13
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2013, 51566
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2013:1213.11LA262.13.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Osnabrück - 30.08.2013 - AZ: 6 A 185/11

Fundstellen

  • DÖV 2014, 312
  • NordÖR 2014, 100

Amtlicher Leitsatz

Ein prozessbevollmächtigter Rechtsanwalt hat auch dann, wenn er die Berechnung, Notierung und Überwachung der üblichen und in seiner Praxis häufig vorkommenden Fristen in zulässiger Weise seinem zuverlässigen Büropersonal überlässt in jedem Fall den Ablauf von Fristen eigenverantwortlich zu überprüfen, wenn die Handakten ihm im normalen Kanzleibetrieb zugänglich werden.

[Gründe]

Der Antrag des Klägers auf

Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück,

mit dem seine Klage gegen den Kostenbescheid der Beklagten vom 14. Juli 2011 wegen Verfristung als unzulässig abgewiesen worden ist, hat keinen Erfolg, da die von dem Kläger vorgetragenen Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (dazu 1.) und des Vorliegens eines Verfahrensmangels im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO (dazu 2.) nicht gegeben sind.

1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind zu bejahen, wenn aufgrund der Begründung des Zulassungsantrages und der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts gewichtige, gegen die Richtigkeit der Entscheidung sprechende Gründe zutage treten. Das ist der Fall, wenn ein tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird (BVerfG, Beschl. v. 23.6.2000 - 1 BvR 830/00 -, NVwZ 2000, 1163). Die Richtigkeitszweifel müssen sich dabei auch auf das Ergebnis der Entscheidung beziehen; es muss also mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein, dass die Berufung zu einer Änderung der angefochtenen Entscheidung führen wird (BVerwG, Beschl. v. 10.3.2004 - BVerwG 7 AV 4.03 -, NVwZ-RR 2004, 542).

Das Verwaltungsgericht hat die Klage als unzulässig angesehen, weil der Kläger die einmonatige Klagefrist des § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO versäumt habe. Der angefochtene Bescheid sei ihm am 16. Juli 2011 zugestellt worden, sodass die Klagefrist am 16. August 2011, einem Dienstag, abgelaufen sei. Die erst am 17. August 2011 erhobene Klage sei mithin verfristet. Dem Kläger könne eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 60 VwGO nicht gewährt werden, weil seine Prozessbevollmächtigten die Klagefrist nicht ohne Verschulden versäumt hätten; dieses Verschulden müsse er sich zurechnen lassen. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht zum einen darauf abgestellt, den Prozessbevollmächtigten des Klägers sei ein Organisationsverschulden dahingehend anzulasten, dass sie die Einhaltung der von ihrem Büropersonal notierten Klagefrist nicht in der erforderlichen Weise eigenverantwortlich überwacht hätten. Diese Überwachung hätten sie nicht auf ihr Büropersonal delegieren dürfen, weil es sich bei der Prozessvertretung in dieser verwaltungsrechtlichen Sache angesichts ihres überwiegend steuerrechtlich ausgerichteten Betätigungsfeldes nicht um eine häufig auftretende Rechtsbehelfssache handele. Von dieser sie selbst betreffenden Verpflichtung seien sie nicht deshalb entbunden, weil in ihrer Kanzlei ein speziell für die Rechtsmitteleinlegung erarbeitetes Computer-Programm eingesetzt werde. Zum anderen liege ungeachtet dessen ein eigenes Verschulden der Prozessbevollmächtigten des Klägers deshalb vor, weil dem sachbearbeitenden Prozessbevollmächtigten die Handakte noch vor Ablauf der Klagefrist zur weiteren Bearbeitung, nämlich zur Fertigung des an die Beklagte gerichteten Schreibens vom 12. August 2011 vorgelegt worden sei, sodass dieser spätestens zu diesem Zeitpunkt verpflichtet und in der Lage gewesen wäre, die von dem Büropersonal eingetragene Klagefrist eigenverantwortlich auf ihre Richtigkeit zu prüfen.

Die Einwände des Klägers in der Begründung seines Zulassungsantrages, die den Prüfungsumfang des Senats bestimmen (vgl. hierzu Seibert, in: Sodan/Ziekow, 3. Aufl. 2010, § 124a, Rdnr. 184, 186 m. w. N.), rechtfertigen ein anderes Ergebnis nicht.

Es kann dahinstehen, ob der Kläger durch sein Antragsvorbringen die Richtigkeit der Ausführungen des Verwaltungsgerichts zu dem ersteren Begründungsstrang des Organisationsverschuldens und zu der Frage, ob seine Prozessbevollmächtigten die Notierung, Berechnung und Kontrolle der Rechtsbehelfsfristen in verwaltungsgerichtlichen Verfahren zu Recht an ihr Büropersonal delegiert haben, ernstlich in Zweifel gezogen hat. Denn durchgreifende Einwände gegen den zweiten, die Klageabweisung selbständig tragenden Begründungsstrang des Verwaltungsgerichts ergeben sich aus dem Antragsvorbringen des Klägers nicht. Dies ergibt sich aus Folgendem:

Den Prozessbevollmächtigten des Klägers ist deshalb ein eigenes Verschulden, das dem Kläger gemäß §§ 173 VwGO, 85 Abs. 2 ZPO zugerechnet wird, anzulasten, weil die Handakte dem seinerzeit verantwortlich sachbearbeitenden Rechtsanwalt B. noch vor Ablauf der Rechtsbehelfsfrist zur weiteren Bearbeitung vorgelegt worden ist, ohne dass dieser die von der Rechtsanwaltsfachangestellten C. notierte Klagefrist eigenverantwortlich auf ihre Richtigkeit überprüft hätte. Nach dem Vorbringen des Klägers in der Begründung seines Zulassungsantrages ist nach Anlegung der Handakte und (fehlerhafter) Notierung der Klagefrist (17.8.2011) durch die Angestellte C. mittels DATEV-Programm am 19. Juli 2011 die Handakte Rechtsanwalt B. sofort vorgelegt worden, der unter dem Datum des 22. Juli 2011 einen Bearbeitungsvermerk gefertigt und diesen Vermerk mit der Handakte an die ihm zuarbeitende und in der Kanzlei als juristische Mitarbeiterin tätige Angestellte D., eine Volljuristin, zur weiteren Bearbeitung zugeleitet habe. Selbst für den Fall, dass ein Rechtsanwalt - wie hier von dem Kläger geltend gemacht - die Berechnung, Notierung und Überwachung der üblichen und in seiner Praxis häufig vorkommenden Fristen in zulässiger Weise seinem zuverlässigen Büropersonal überlässt, hat er in jedem Fall den Ablauf von Fristen dann eigenverantwortlich zu überprüfen, wenn die Handakten ihm im normalen Kanzleibetrieb zugänglich werden. Von dieser Verpflichtung können auch generelle oder konkrete Anweisungen an das Büropersonal bezüglich der Fristwahrung nicht befreien (vgl. hierzu Nds. OVG, Beschl. v. 20.1.2010 - 2 NB 400/09 u. a. -, NJW 2010, 1391, [...], Rdnr. 8; Beschl. v. 25.8.2003 - 2 LA 52/02 -, NJW 2003, 3362, [...], Rdnr. 6, jeweils m. w. N. zur Rechtsprechung des BVerwG und des BGH). Diese selbständige Verpflichtung zur eigenverantwortlichen Prüfung des Ablaufs der Klagefrist bei Vorlage der Handakte hat der sachbearbeitende Prozessbevollmächtigte des Klägers weder ausreichend wahrgenommen, als ihm der Vorgang am 19. Juli 2011 vorgelegt worden war, noch als dieser am 22. Juli 2011 seinen Bearbeitungsvermerk gefertigt hatte, und auch nicht, als das an die Beklagte gerichtete Schreiben vom 12. August 2011 gefertigt worden war. Wenn er die gebotene Fristenkontrolle zu diesen Zeitpunkten durchgeführt hätte, so hätte er noch vor Ablauf der Klagefrist ohne Weiteres erkennen können, dass die Klagefrist bereits am 16. August 2011 ablief und daher falsch notiert war. Bei der gebotenen Überprüfung hätte die Klage noch fristgerecht eingelegt werden können.

2. Ein Verfahrensfehler im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO, den der Kläger darin sieht, dass das Verwaltungsgericht gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, §§ 108 Abs. 2, 86 Abs. 3 VwGO) verstoßen und eine unzulässige "Überraschungsentscheidung" getroffen habe, ist nicht gegeben.

a) Soweit der Kläger in diesem Zusammenhang bemängelt, das Verwaltungsgericht habe sich insbesondere darauf gestützt, dass er keine Ausführungen zu den organisatorischen Vorkehrungen in der Kanzlei seiner Prozessbevollmächtigten gemacht habe, ohne ihm zuvor einen richterlichen Hinweis zu geben und ihm Gelegenheit zu weiterem hierauf bezogenen Vortrag zu gewähren, kann er nicht durchdringen. Dieser Einwand bezieht sich ausschließlich auf die erstgenannten Erwägungen des Verwaltungsgerichts zum Organisationsverschulden seiner Prozessbevollmächtigten, während die Klageabweisung selbständig tragend (auch) auf die zweitgenannten Erwägungen des Verwaltungsgerichts zu dem daneben gegebenen eigenständigen Verschulden seines sachbearbeitenden Prozessbevollmächtigten gestützt ist. Hierzu verhält sich der Kläger in der Begründung seines Zulassungsantrages nicht. Ein etwaiger Verfahrensmangel in dem aufgezeigten Sinn war mithin für das Verwaltungsgericht nicht entscheidungserheblich.

Ungeachtet dessen kann das Verwaltungsgericht grundsätzlich davon ausgehen, dass der eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand begehrende Beteiligte seiner sich aus § 60 Abs. 2 VwGO ergebenden Verpflichtung zur vollständigen Angabe der die Wiedereinsetzung begründenden Tatsachen nachgekommen ist (vgl. zum sachgleichen § 236 Abs. 2 ZPOBGH, Beschl. v. 5.6.2013 - XII ZB 47/10 -, NJW-RR 2013, 1393, 1394, [...], Rn. 14). Dass dem Verwaltungsgericht gleichwohl ausnahmsweise eine Hinweis- und Aufklärungspflicht mit der Möglichkeit der Ergänzung erkennbar unklarer oder ungenauer Angaben oblegen hätte, wird aus dem Antragsvorbringen nicht ersichtlich.

b) Soweit der Kläger "unabhängig von der Frage der Verletzung des rechtlichen Gehörs" die Verpflichtung des Verwaltungsgerichts, ihn als Prozessbeteiligten rechtzeitig vor der Entscheidungsfindung auf seine, des Gerichts, vorläufige Rechtsauffassung hinzuweisen, als verletzt ansieht, begründet dieser Einwand ebenfalls nicht die Zulassung der Berufung wegen eines Verfahrensfehlers im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO.

Richtig ist zwar der Ausgangspunkt des Klägers, dass die Beteiligten eines verwaltungsgerichtlichen Rechtsstreits hinreichend deutlich erkennen müssen, worauf es nach Ansicht des Verwaltungsgerichts in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht ankommt. Diesem Erfordernis ist dann nicht genügt, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit - unter Verletzung seiner ihm obliegenden Hinweis- und Erörterungspflicht - dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten. Die gerichtliche Entscheidung verstößt daher gegen § 108 Abs. 2 VwGO und Art. 103 Abs. 1 GG mit der Folge eines Verfahrensfehlers im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO, wenn der fragliche Gesichtspunkt weder im Verwaltungs- noch im Gerichtsverfahren behandelt wurde. Dieses Verbot der unzulässigen Überraschungsentscheidung gilt auch, wenn im Einverständnis der Beteiligten - wie hier - gemäß § 101 Abs. 2 VwGO über die Klage ohne mündliche Verhandlung entschieden wird (vgl. hierzu Höfling, in: Sodan/Ziekow, a. a. O., § 108, Rdnr. 197; Seibert, in: ebenda, a. a. O., § 124, Rdnr. 195, jeweils m. w. N.).

Entgegen der Ansicht des Klägers ist diesen Erfordernissen vorliegend Genüge getan. Die Fragen der Verfristung und der Voraussetzungen des Antrages auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sind vom Kläger selbst bereits in der Klageschrift vom 17. August 2011 thematisiert worden. Das Verwaltungsgericht ist nicht verpflichtet, die Beteiligten vor seiner Entscheidung auf seine Rechtsauffassung und das voraussichtliche Ergebnis hinzuweisen (Schmidt, in: Eyermann, VwGO, 13. Aufl. 2010, § 108, Rdnr. 24 m. w. N.).