Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 22.02.2023, Az.: 10 LA 9/23

Dublin-Rückkehrer; Dublin-Verfahren; Ketten-Abschiebungen; Push-Back; systemische Schwachstellen; Zulassung der Berufung zur Frage, ob wegen Push-Backs an der slowenischen Grenze auf das ernsthafte Risiko einer Verletzung von Art. 3 EMRK und Art. 4 GRC für Dublin-Rückkehrer geschlossen werden kann

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
22.02.2023
Aktenzeichen
10 LA 9/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 11980
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2023:0222.10LA9.23.00

Verfahrensgang

vorgehend
VG Hannover - 21.12.2022 - AZ: 15 A 2863/22

Fundstelle

  • AUAS 2023, 68-69

Amtlicher Leitsatz

Auf den Antrag der Beklagten wird die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - Einzelrichterin der 15. Kammer - vom 21. Dezember 2022 zugelassen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG hat Erfolg.

Denn die Beklagte hat den Darlegungsanforderungen nach § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG genügend, nämlich unter konkreter Auseinandersetzung mit den einzelnen Argumenten und Erkenntnismitteln des Verwaltungsgerichts, die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Hinblick auf die von ihr aufgeworfene und über den Einzelfall des Klägers hinausgehend allgemein klärungsbedürftige sowie entscheidungserhebliche Frage,

"ob bei Antragstellern, für die eine Zustimmung des Mitgliedsstaates Slowenien gem. Art. 20 Abs. 5 Dublin-III-VO vorliegt, wegen eines drohenden Verstoßes gegen den in Art. 33 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention, Art. 19 GR-Charta und Art. 3 EMRK verankerten Grundsatz der Nichtzurückweisung (Refoulement-Verbot) von einer Rück-Überstellung nach Slowenien gem. Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO abzusehen ist, da Antragsteller mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten haben, von Slowenien ohne Durchführung eines Asylverfahrens in Kette weiter abgeschoben zu werden und ihnen daher eine Verletzung ihrer Rechte aufgrund systemischer Schwachstellen des Mitgliedsstaates Slowenien aus Art. 3 EMRK und Art. 4 GRC drohe, sodass die Beklagte verpflichtet wäre, ein Asylverfahren in eigener Zuständigkeit gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Dublin-III-VO durchzuführen,"

dargelegt.

Im Rahmen der Begründung des genannten Zulassungsgrunds hat die Beklagte zu Recht darauf hingewiesen, dass das Verwaltungsgericht Hannover in dem angefochtenen Urteil vom 21. Dezember 2022 unter Bezugnahme und Wiedergabe des veröffentlichten Urteils des Verwaltungsgerichts Braunschweig vom 24. Mai 2022 (- 2 A 46/22 -, juris) die von ihr formulierte Frage fehlerhaft beurteilt hat. Denn das Verwaltungsgericht hat auf der Grundlage unzureichender tatsächlicher Erkenntnisse und vor allem unter Anwendung eines unzutreffenden rechtlichen Maßstabs angenommen, dass der Kläger als sogenannter Dublin-Rückkehrer in Slowenien der Gefahr von Ketten-Abschiebungen ausgesetzt ist und das Asylsystem in Slowenien aus diesem Grund unter systemischen Mängeln leidet, die für den Kläger mit der konkreten Gefahr einer Verletzung von Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK verbunden sein soll.

Das Bundesverwaltungsgericht hat zu dem in sogenannten Dublin-Verfahren zu beachtenden rechtlichen Maßstab und zu den erforderlichen Tatsachenfeststellungen ausgeführt (Beschlüsse vom 19.1.2022 - 1 B 83.21 -, juris Rn. 12, und vom 7.3.2022 - 1 B 21.22 -, juris Rn. 13):

"Im Zusammenhang mit der Beurteilung eines ernsthaften Risikos einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK ist stets von dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten auszugehen, der im Unionsrecht fundamentale Bedeutung hat, da er die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglicht, und der von jedem Mitgliedstaat verlangt, dass dieser, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-163/17 [ECLI:EU:C:2019:218], Jawo - Rn. 81 m.w.N. und - C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 [ECLI:EU:C:2019:219], Ibrahim u.a. - Rn. 84). Damit gilt im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems die widerlegliche Vermutung, dass die Behandlung der Personen, die internationalen Schutz beantragen, in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, der Genfer Konvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht (EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-163/17 - Rn. 82 m.w.N. und - C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 - Rn. 85). Diese Vermutung beansprucht nur dann keine Geltung, wenn systemische Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in einem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass die betreffende Person im Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren (EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-163/17 - Rn. 85 und 88 m.w.N. und - C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 - Rn. 86 f.). Verfügt das Gericht über Angaben, die der Antragsteller vorgelegt hat, um das Vorliegen eines solchen Risikos in dem betreffenden Mitgliedstaat nachzuweisen, so ist es verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen (EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-163/17 - Rn. 90 m.w.N. und - C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 - Rn. 88). Hierbei fallen nur solche Schwachstellen ins Gewicht, die eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen."

Diese Vorgaben hat das Verwaltungsgericht nicht hinreichend beachtet. Denn es hat allein aus dem Umstand, dass es zu sogenannten Push-Backs an der slowenisch-kroatischen Grenze und zu Ketten-Abschiebungen ohne die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen, von Österreich und Italien über Slowenien nach Kroatien und von dort wiederum nach Bosnien-Herzegowina oder Serbien gekommen sei, geschlussfolgert, dass "eine solche Verfahrensweise auch Dublin-Rückkehrern drohen könne und ihnen damit ihr Recht auf ein Asylverfahren in rechtswidriger Weise vorenthalten würde". Dabei stellt das Verwaltungsgericht bzw. das Verwaltungsgericht Braunschweig in der vom Verwaltungsgericht in Bezug genommenen Entscheidung fest, dass "keine spezifischen Erkenntnismittel zum Verbleib von Dublin-Rückkehrern aus Deutschland" vorlägen. Gleichwohl nimmt das Verwaltungsgericht - ebenso wie das Verwaltungsgericht Braunschweig - im Hinblick darauf, dass nur wenige Dublin-Rücküberstellungen aus Deutschland dokumentiert seien, während die slowenischen Behörden nach eigenen Angaben im selben Zeitraum über 10.000 Menschen, mehrheitlich nach Kroatien, zurückgeschoben hätten, und nur vier Aufnahmeeinrichtungen mit insgesamt 401 Aufnahmeplätzen zur Verfügung stünden, von denen im September 2021 nur 185 Plätze belegt gewesen seien, Zweifel an der Aufnahmebereitschaft Sloweniens auch hinsichtlich von Dublin-Rückkehrern an. Insoweit weist die Beklagte zu Recht darauf hin, dass die Situation von aus Deutschland rücküberstellten Dublin-Rückkehrern, zu deren Wiederaufnahme sich Slowenien - wie hier - ausdrücklich bereit erklärt hat, sich deutlich von der Situation von Asylbewerbern unterscheidet, die beispielsweise im Rahmen von informellen Übernahmen zwischen Österreich bzw. Italien und Slowenien Opfer von Kettenabschiebungen geworden sind. Vor allem aber hat das Verwaltungsgericht nicht beachtet, dass von dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens ausgehend die (widerlegliche) Vermutung besteht, dass die Behandlung der Personen, die internationalen Schutz beantragen, in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, der Genfer Konvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht, und deshalb konkrete Erkenntnisse darüber vorliegen müssen, dass der betreffende Mitgliedstaat diese Erfordernisse nicht beachtet, die hier jedoch vom Verwaltungsgericht hinsichtlich Dublin-Rückkehrern nicht angeführt worden sind.

Das Zulassungsverfahren wird als Berufungsverfahren fortgeführt. Der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht. Die Berufung ist innerhalb eines Monats zu begründen. Die Begründung ist bei dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht in Lüneburg einzureichen.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).