Landgericht Hannover
Urt. v. 24.02.2023, Az.: 17 S 26/22

Geltendmachung von Ansprüchen aus Gesamtschuldnerinnenausgleich zweier Versicherungen im Rahmen eines Verkehrsunfalls

Bibliographie

Gericht
LG Hannover
Datum
24.02.2023
Aktenzeichen
17 S 26/22
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2023, 50484
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LGHANNO:2023:0224.17S26.22.00

Verfahrensgang

vorgehend
AG Hannover - 05.07.2022 - AZ: 552 C 884/22

In dem Rechtsstreit
xxx
- Beklagte und Berufungsklägerin -
Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen xxx
gegen
xxx
- Klägerin und Berufungsbeklagte -
Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen xxx
hat das Landgericht Hannover - 17. Zivilkammer - durch die Vorsitzende Richterin am Landgericht xxx, die Richterin am Landgericht xxx und den Richter am Landgericht xxx auf die mündliche Verhandlung vom 03.02.2023 für Recht erkannt:

Tenor:

  1. 1.

    Auf die Berufung der Beklagten wird das am 05.07.2022 verkündete Urteil des Amtsgerichts Hannover (552 C 884/22) wie folgt abgeändert:

    Die Klage wird abgewiesen.

  2. 2.

    Die Kosten des Verfahrens I. und II. Instanz trägt die Klägerin und Berufungsbeklagte.

  3. 3.

    Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

    Die Klägerin und Berufungsbeklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die jeweils andere Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120 % des zu vollstreckbaren Betrages leistet.

  4. 4.

    Die Revision wird zugelassen.

  5. 5.

    Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 465,- € festgesetzt.

Gründe

I.

Gemäß § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO wird auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil Bezug genommen.

Die Parteien streiten um einen Gesamtschuldnerinnenausgleich.

Die Klägerin ist die Versicherung eines an einem Unfall beteiligten Kraftfahrzeuges. Die Beklagte ist die Versicherung eines vom Zugfahrzeug gezogenen und ebenfalls am Unfall beteiligten Anhängers. Der Unfall ist beim rückwärts Rangieren mit dem Anhänger entstanden. Der Schaden beträgt 930,- €. Die Klägerin begehrt von der Beklagten Erstattung des hälftigen Schadensbetrages.

Das Amtsgericht hat der Klage stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Regelvermutung aus § 19 Abs. 4 S. 2 StVG nicht gelte, soweit mit dem Anhänger rückwärts rangiert werde. Insoweit sei vielmehr von einer Gefahrerhöhung auszugehen, weil die rückwärtige Sicht durch einen Anhänger eingeschränkt sei und auch die Gefahr einer Verkantung bestehe, was eine anhängerspezifische Gefahr darstelle, die eine entsprechende Mithaftung begründe.

Gegen dieses Urteil, das am 11.07.2022 zugestellt worden ist, hat die Beklagte mit einem am 23.07.2022 eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese mit einem am 31.08.2022 eingegangenen Schriftsatz begründet.

Die Beklagte ist der Ansicht, dass das Amtsgericht rechtsfehlerhaft dem Rückwärtsfahren und Rangieren mit einem Anhänger eine gegenüber dem reinen Vorwärtsfahren erhöhe Gefahr beigemessen hat, die zu einer Mithaftung des Anhängerhalters führe.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Amtsgerichts Hannover vom 05.07.2022 (552 C 884/22) dahingehend abzuändern, dass die Klage abgewiesen wird.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil unter Wiederholung und Vertiefung ihrer erstinstanzlichen Argumentation.

II.

Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte, Berufung hat auch in der Sache Erfolg.

Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Zahlung von 465,- € aus § 78 Abs. 3 VVG i.V.m. § 19 Abs. 4 StVG und § 426 BGB.

1.

Zutreffend geht das Amtsgericht davon aus, dass hinsichtlich des Unfalls am 25.11.2021 die geänderte Gesetzeslage zur Haftungsverteilung von Zugfahrzeug und Anhänger zur Anwendung kommt und dass hinsichtlich des Gespanns auch eine Mehrfachversicherung i.S.v. § 78 Abs. 1 VVG vorliegt.

2.

Nach Ansicht der Kammer hat sich in dem Unfall jedoch keine anhängerspezifische Gefahr verwirklicht, die eine Abweichung von der Regelvermutung gemäß § 19 Abs. 4 S. 2 StVG rechtfertigen würde.

a.)

Der Gesetzgeber hat in der Neuregelung der Innenhaftung bei Gespannunfällen eine klare Abstufung vorgenommen. Danach soll im Innenverhältnis die alleinige Verantwortlichkeit gemäß § 19 Abs. 4 S. 2 StVG grundsätzlich beim Halter des Zugfahrzeuges liegen. Danach ist die Klägerin zur alleinigen Tragung des Schadens im Innenverhältnis verpflichtet.

Diese Regel gilt gemäß § 19 Abs. 4 S. 3 StVG jedoch nicht, soweit sich durch den Anhänger eine höhere Gefahr verwirklicht hat als durch das Zugfahrzeug allein.

In § 19 Abs. 4 S. 4 StVG hat der Gesetzgeber als weitere Regelvermutung aufgenommen, dass das Ziehen eines Anhängers allein keine höhere Gefahr i.S.v. § 19 Abs. 4 S. 3 StVG verwirklicht.

b.)

Nach Ansicht der Kammer stellt auch das rückwärts Rangieren mit einem Anhänger ein Ziehen im Sinne von § 19 Abs. 4 S. 4 StVG dar, was regelmäßig keine Gefahrerhöhung bewirkt.

Zwar könnte man mit der Klägerin argumentieren, dass das Wort "Ziehen" im natürlichen Sinne nur eine Bewegung nach vorne umfasst, und somit gemäß § 19 Abs. 4 S. 4 StVG eine Gefahrerhöhung nur dann zu verneinen wäre, wenn sich das Gespann nach vorne und nicht rückwärts bewegt.

Gegen ein solches Verständnis spricht jedoch die Systematik und der Wille des Gesetzgebers.

aa.)

In systematischer Hinsicht ist zu berücksichtigen, dass das StVG auch in seiner Legaldefinition in § 19 Abs. 1 S. 1 StVG ausschließlich vom Zugfahrzeug spricht. Damit ist jedoch nach allgemeiner Meinung nicht gemeint, dass ein PKW mit einem Anhänger lediglich in Vorwärtsbewegung fahren kann und darf. Wollte man das Wortlautargument daher entsprechend eng verstehen, müsste das Gesetz insgesamt zwischen Zug- und Schubfahrzeug differenzieren.

bb.)

Auch der in den Gesetzgebungsmaterialien verkörperte Wille des Gesetzgebers lässt auf ein weites Verständnis des Begriffes Ziehen schließen. Der Gesetzgeber hat zur Begründung der Regelvermutung in § 19 Abs. 4 S. 2 StVG folgendes ausgeführt:

"Die Verantwortlichkeit muss daher auch beim ziehenden Fahrzeug liegen. Denn regelmäßig ist nur das Zugfahrzeug motorgetrieben und selbständig lenkbar. Und regelmäßig ist es daher sein Halter, der - vermittelt durch den Führer - mit dem Betrieb des Zugfahrzeugs die schadensursächliche Gefahr gesetzt hat und nicht der Halter des Anhängers mit dem Betrieb seines nur vom Zugfahrzeug gezogenen und insoweit unselbständigen Fahrzeugs" (BTDruckss. 19/17964 S. 16f.).

Allein diese Erwägungen sprechen nach Ansicht der Kammer dafür, dass eine jede wie auch immer geartete Fortbewegung des Anhängers durch das motorgetriebene verkuppelte Fahrzeug, sei es vorwärts oder rückwärts als Ziehen im Sinne von § 19 Abs. 4 S. 4 StVG zu verstehen sein muss. Denn egal in welche Richtung sich das Gespann bewegt, es tut dieses regelmäßig nur, weil dies vom motorgetriebenen und lenkbaren Zugfahrzeug veranlasst wird.

Dabei hat der Gesetzgeber selbst ausgeführt, dass die Regelung des § 19 Abs. 4 S. 4 StVG nur dann durchbrochen werden kann, wenn dies aufgrund der außergewöhnlichen Beschaffenheit des Anhängers gerechtfertigt sei.

Aus zweierlei Gründen dürfte eine Berücksichtigung des rückwärts Rangierens im Rahmen von § 19 Abs. 4 S. 3 StVG danach gegen den Willen des Gesetzgebers vorstoßen.

(1)

Der Gesetzgeber hat ausdrücklich nur auf die außergewöhnliche Beschaffenheit abgestellt und auch nur hierfür Beispiele in die Gesetzesbegründung aufgenommen. Beschaffenheiten sind Zustände, die einer Sache anhaften und ihre Eigenart prägen. Zieht man einen Begriffsvergleich zu § 434 BGB, so ist dort die Beschaffenheit als ein Merkmal der Sache, dass der Sache selbst anhaften oder sich aus ihrer Beziehung zur Umwelt ergibt, zu verstehen (RegE, BT-Druckss. 19/27424, S. 23).

Die Kammer vermag nicht zu erkennen, dass das Rangieren als Beschaffenheit zu verstehen sein könnte. Beim rückwärts Rangieren handelt es sich nicht um einen Zustand in der Natur des Anhängers, sondern um einen Vorgang, der vom Zugfahrzeug herbeigeführt wird. Es prägt weder die Eigenart des Anhängers noch haftet es das Sache selbst an oder es ergeben sich insoweit Beziehungen zur Umwelt.

(2)

Aufgrund der zusätzlichen Einschränkung des Gesetzgebers auf außergewöhnliche Beschaffenheiten müsste, damit das rückwärts Rangieren mit dem Anhänger überhaupt in diesem Sinne verstanden werden könnte, dieses einen jedenfalls außergewöhnlichen Vorgang darstellen, der mit den vom Gesetzgeber beispielhaft aufgezählten Beschaffenheiten, wie Überbreite, Überlänge und Schwertransport, in seiner Ausprägung vergleichbar wäre.

Dies vermag die Kammer nicht zu erkennen. Das Rangieren mit einem Anhänger gehört zu den gängigen Fahrmanövern. Die Verwendung des Adjektivs außergewöhnlich durch den Gesetzgeber impliziert nach seinem natürlichen Wortsinn aber schon, dass es sich um Umstände handeln muss, die regelmäßig nicht vorkommen. Dies wird verdeutlicht durch die vom Gesetzgeber gewählten Beispiele. Überbreite, Überlänge und Schwertransporte stellen alles Situationen dar, die regelmäßig gerade nicht vorkommen.

Darüber hinaus ist das Rückwärtswenden mit einem Anhänger verpflichtender Prüfungsbestandteil zur Erlangung der Führerscheinklasse BE (vgl. Anlage 7 Teil 2 2.1.4.4 FeV). Da der Prüfling im Rahmen der praktischen Fahrprüfung gemäß § 17 Abs. 1 S. 1 FeV "nachzuweisen (hat), dass er über die zur sicheren Führung eines Kraftfahrzeugs, gegebenenfalls mit Anhänger, im Verkehr erforderlichen technischen Kenntnisse und über ausreichende Kenntnisse einer umweltbewussten und energiesparenden Fahrweise verfügt sowie zu ihrer praktischen Anwendung fähig ist", folgt daraus für die Kammer, dass das Rangieren mit Anhänger für den Gesetzgeber ein so regelmäßig vorkommendes Basiselement war, dass er es zum verpflichtenden Prüfungsstoff erhoben hat. Demgegenüber fällt weder das Fahren mit Überlänge, Überbreite oder einem Schwertransport in den Prüfungsstoff.

cc.)

Auch ist mit der Rückwärtsfahrt mit einem Anhänger nicht automatisch eine höhere Gefahr verbunden. Soweit das Amtsgericht darauf abgestellt hat, dass bei Anhängern aufgrund der sich ggf. gegensätzlich bewegenden Fahrzeugteile die Sicht versperrt sein könnte, was zu einer Erhöhung der Gefahr führe, so folgt die Kammer dieser Argumentation nicht. Zum einen trifft dies bauartbedingt nicht auf sämtliche Anhänger zu, sondern nur auf solche, welche über Aufbauten verfügen, die die Sichtachse überhaupt beeinträchtigen können.

Zum anderen wird dabei verkannt, dass das StVG für Fälle, in denen die rückwärtige Sicht erschwert ist, unabhängig von der Fahrzeugbauart in § 9 Abs. 5 StVG vorsieht, dass sich der Fahrzeugführer einweisen lassen muss. Dieses Einweisen ist dazu geeignet, sämtliche Gefahren, die aus einer mangelnden Übersicht herrühren, zu beseitigen.

c.)

Anhaltspunkte, welche im Einzelfall eine Abweichung von der Regelvermutung des § 19 Abs. 4 S. 4 StVG rechtfertigen könnten, sind weder vorgetragen noch augenscheinlich gegeben.

3.

Die Wertung aus § 19 Abs. 4 StVG ist als andere Bestimmung i.S.v. § 426 Abs. 1 S. 1 2. Hs. BGB zu verstehen, sodass hieraus ebenfalls keine Ansprüche hergeleitet werden können. Es verbleibt danach im Innenverhältnis bei der alleinigen Haftung der Klägerin als Versicherung des Zugfahrzeuges.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Die Revision war gemäß § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO zuzulassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat.