Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 24.11.2021, Az.: 10 LA 174/21

Beweiswürdigung; Tatsachenwürdigung; Überraschungsentscheidung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
24.11.2021
Aktenzeichen
10 LA 174/21
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2021, 71060
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 19.10.2021 - AZ: 10 A 417/19

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Eine unzutreffende gerichtliche Würdigung des Sachverhalts vermag grundsätzlich keinen Verfahrensfehler in Form der Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör zu begründen.

Tenor:

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - Einzelrichter der 10. Kammer - vom 19. Oktober 2021 wird abgelehnt.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens.

Gründe

Der Antrag der Beklagten, die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil zuzulassen, hat keinen Erfolg. Denn der von ihr geltend gemachte Zulassungsgrund eines Verfahrensfehlers (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG) in Form der Versagung rechtlichen Gehörs liegt nicht vor.

Das Verwaltungsgericht hat mit der angegriffenen Entscheidung den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) vom 29. November 2018, mit dem dieses unter anderem den Asylantrag des Klägers gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt hat, weil er bereits in Italien internationalen Schutz erhalten habe, aufgehoben. In den schriftlichen Entscheidungsgründen hat das Verwaltungsgericht festgestellt, dass dem Kläger in Italien am 2. Februar 2015 „Schutz aus humanitären Gründen („permit of stay for humanitarian reasons“)“ gewährt worden ist. Daraus hat das Verwaltungsgericht den Schluss gezogen, dass dem Kläger in Italien nicht, wie vom Bundesamt angenommen, internationaler Schutz gewährt worden ist. Die Unzulässigkeitsentscheidung sei daher zu Unrecht auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützt worden. Zur mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht, in der nach dem Protokoll die Sach- und Rechtslage erörtert worden ist, ist ein Vertreter der Beklagten nicht erschienen.

Die Beklagte begründet ihren Zulassungsantrag mit der aus ihrer Sicht gegebenen Verletzung rechtlichen Gehörs in Form einer Überraschungsentscheidung. Dem Kläger sei in Italien am 27. September 2018 der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden, was aus dem im Verwaltungsvorgang vorhandenen Schreiben der italienischen Behörden vom 28. November 2018 hervorgehe. Die Frage der Schutzform sei während des Verfahrensverlaufs zu keinem Zeitpunkt in der jetzt relevanten Form thematisiert worden. Hätte das Verwaltungsgericht den subsidiären Schutzstatus des Klägers seiner Entscheidung zugrunde gelegt, hätte es zu einem anderen Ergebnis kommen müssen.

Mit diesem Vorbringen hat die Beklagte zwar ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung dargelegt, die nicht zu den Gründen zählen, aus denen die Berufung in asylrechtlichen Streitigkeiten gem. § 78 Abs. 3 AsylG zuzulassen ist. Eine Verletzung ihres Rechts auf rechtliches Gehör folgt hieraus jedoch nicht.

Das Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, wovon grundsätzlich auszugehen ist (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 14.12.2017 – 2 BvR 1872/17 –, juris Rn. 29; BVerwG, Beschluss vom 9.1.2020 – 5 B 25.19 D –, juris Rn. 17). Die Beteiligten müssen dementsprechend Gelegenheit erhalten, sich zu allen entscheidungserheblichen Tatsachen und Rechtsfragen erklären zu können (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 1.8.2017 – 2 BvR 3068/14 –, juris Rn. 47; BVerwG, Beschluss vom 9.1.2020 – 5 B 25.19 D –, juris Rn. 17). Das Prozessgrundrecht soll sicherstellen, dass die gerichtliche Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und mangelnder Berücksichtigung des Sachvortrags eines Beteiligten haben (vgl. etwa BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 24.7.2019 – 2 BvR 686/19 –, juris Rn. 27 m.w.N.). Die Verletzung des rechtlichen Gehörs kann allerdings dann nicht mit Erfolg gerügt werden, wenn prozessuale Möglichkeiten unterlassen wurden, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen (BVerwG, Beschluss vom 12.2.2018 – 2 B 63.17 –, juris Rn. 12 m.w.N., und Urteil vom 3.7.1992 – 8 C 58.90 –, juris Rn. 9).

Das Recht auf rechtliches Gehör ist darüber hinaus verletzt, wenn ein Beteiligter durch die angegriffene Entscheidung im Rechtssinne überrascht wird, was der Fall ist, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf – selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen – nicht zu rechnen brauchte (BVerwG, Beschlüsse vom 21.7.2020 – 9 B 20.19 –, juris Rn. 23, und vom 2.5.2017 – 5 B 75.15 D –, juris Rn. 11; vgl. auch BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 15.2.2017 – 2 BvR 395/16 –, juris Rn. 6). Eine den verfassungsrechtlichen Ansprüchen genügende Gewährung rechtlichen Gehörs setzt damit auch voraus, dass die Verfahrensbeteiligten bei Anwendung der von ihnen zu verlangenden Sorgfalt zu erkennen vermögen, auf welchen Vortrag es für die Entscheidung ankommen kann (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 25.5.2021 – 2 BvR 1719/16 –, juris Rn. 13). Eine unzulässige Überraschungsentscheidung liegt hingegen nicht vor, wenn das Gericht Tatsachen, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten, in einer Weise würdigt oder aus ihnen Schlussfolgerungen zieht, die nicht den subjektiven Erwartungen eines Prozessbeteiligten entsprechen oder von ihm für unrichtig gehalten werden (BVerwG, Beschluss vom 2.5.2017 – 5 B 75.15 D –, juris Rn. 11). Die Beteiligten müssen aber, auch wenn die Rechtslage umstritten oder problematisch ist, grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und ihren Vortrag darauf einstellen (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 25.5.2021 – 2 BvR 1719/16 –, juris Rn. 13). Auch folgt aus dem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs keine umfassende Frage-, Aufklärungs- und Informationspflicht des Gerichts, insbesondere nicht im Hinblick auf dessen Rechtsansichten (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 1.8.2017 – 2 BvR 3068/14 –, juris Rn. 50). Der Anspruch auf rechtliches Gehör verpflichtet das Gericht grundsätzlich nicht, die Beteiligten vorab auf seine Rechtsauffassung oder die beabsichtigte Würdigung des Prozessstoffs hinweisen, weil sich die tatsächliche und rechtliche Würdigung regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung ergibt (BVerwG, Beschlüsse vom 11.11.2020 – 8 B 3.20 –, juris Rn. 5, und vom 21.7.2020 – 9 B 20.19 –, juris Rn. 23).

Demnach ist in der möglicherweise unzutreffenden Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass dem Kläger in Italien kein internationaler Schutz gewährt worden ist, keine den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzende Überraschungsentscheidung zu sehen. Denn dass die italienischen Behörden (zunächst) mit Schreiben vom 13. November 2018 mitgeteilt hatten, dem Kläger sei am 2. Februar 2015 Schutz aus humanitären Gründen gewährt worden, war der Beklagten bekannt (Bl. 203 VV). Ausweislich eines Vermerks in dem Verwaltungsvorgang ist die Beklagte bis zum 28. November 2018 selbst davon ausgegangen, dass der Kläger in Italien (lediglich) humanitären Schutz erhalten hat (Bl. 215 VV). Damit hat das Verwaltungsgericht nicht einen bis dahin nicht erörterten Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht und dem Rechtsstreit nicht eine Wendung gegeben, mit der die Beklagte nicht zu rechnen brauchte. Soweit das Verwaltungsgericht damit möglicherweise den Sachverhalt unzutreffend gewürdigt und festgestellt hat, ist dies keine Frage des rechtlichen Gehörs, sondern der Tatsachen- und Beweiswürdigung nach § 108 Abs. 1 VwGO (so auch OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24.6.2020 – 9 A 3758/19.A –, juris Rn. 33 m.w.N.; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 1.12.2020 – 9 BN 6.19 –, juris Rn. 12). Wenn das Gericht - wie hier -Tatsachen, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten, in einer Weise würdigt oder aus ihnen Schlussfolgerungen zieht, die nicht den subjektiven Erwartungen eines Prozessbeteiligten entsprechen oder von ihm für unrichtig gehalten werden, begründet dies - wie bereits ausgeführt - keine unzulässige Überraschungsentscheidung (Senatsbeschluss vom 4.3.2021 – 10 ME 26/21 –, juris Rn. 18). Aber auch wenn das Gericht im Zusammenhang mit der ihm obliegenden Tätigkeit der Sammlung, Feststellung und Bewertung der von den Beteiligten vorgetragenen Tatsachen zu einer unrichtigen Tatsachenfeststellung gekommen ist, ist der Anspruch auf rechtliches Gehör hierdurch nicht verletzt (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 12.10.2000 – 2 BvR 941/99 –, juris Rn. 1).

Das Verwaltungsgericht hat auch nicht dadurch das Recht der Beklagten auf rechtliches Gehör verletzt, indem es von einem eindeutig aktenwidrigen Sachverhalt ausgegangen ist (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 15.4.1997 – 8 C 20.96 –, juris Rn. 12, sowie Urteil vom 3.4.1987 – 4 C 30.85 –, juris Rn. 18; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 6.7.2021 – 6 A 31/20.A –, juris Rn. 29 ff.; Bayerischer VGH, Beschluss vom 26.3.2021 – 14 ZB 20.31824 –, juris Rn. 35; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 28.7.2020 – A 2 S 873/19 –, juris Rn. 17). Vielmehr sind in den Verwaltungsvorgängen zwei Schreiben der italienischen Behörden jeweils vom 13. November 2018 vorhanden, die dem Bundesamt am 13. November 2018 (Bl. 203 VV) bzw. am 28. November 2018 (Bl. 214 VV) übersandt wurden und unterschiedliche bzw. sich widersprechende Angaben enthalten. Das Verwaltungsgericht hat seine Entscheidung auf dasjenige der beiden Schreiben gestützt, in dem mitgeteilt wird, dass dem Kläger in Italien humanitärer Schutz gewährt worden ist. Damit entbehrt die tatsächliche Annahme des Verwaltungsgerichts nicht jeglicher tragfähigen Grundlage (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 15.4.1997 – 8 C 20.96 –, juris Rn. 13). Bei der Entscheidungsfindung hat es auch nicht den Vortrag der Beklagten, dem Kläger sei in Italien internationaler Schutz gewährt worden, außer Acht gelassen. Denn dieses Vorbringen wird in dem Tatbestand der angefochtenen Entscheidung als Teil der Begründung des angegriffenen Bescheids wiedergegeben und das Gericht geht in den Entscheidungsgründen darauf ein. Damit ist das Verwaltungsgericht lediglich zu einer möglicherweise unrichtigen Tatsachenfeststellung, dass dem Kläger in Italien kein internationaler Schutz gewährt worden ist, gekommen. Dies mag einen dem sachlichen Recht zuzuordnenden Fehler bei der Sachverhaltswürdigung begründen (vgl. dazu BVerwG, Beschluss vom 14.10.2021 – 8 B 11.21 –, juris Rn. 4), nicht jedoch einen Verfahrensfehler in Form der Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör. Das Verwaltungsgericht hat den Vortrag der Beklagten, dem Kläger sei in Italien internationaler Schutz gewährt worden, sowohl zur Kenntnis genommen als auch in Erwägung gezogen (vgl. dazu BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 7.12.2006 – 2 BvR 722/06 –, juris Rn. 23). Die Beklagte beanstandet mit ihrer Berufungszulassungsbegründung letztlich, dass das Verwaltungsgericht ihrer auf ein weiteres Schreiben der italienischen Behörden gestützten Würdigung des Sachverhalts nicht gefolgt ist, wozu es im Hinblick auf die Gewährung rechtlichen Gehörs allerdings auch nicht verpflichtet gewesen ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14.10.2021 – 8 B 11.21 –, juris Rn. 10).

Das Verwaltungsgericht war auch nicht verpflichtet, vorab auf die von ihm beabsichtigte Würdigung des Prozessstoffs hinzuweisen, weil sich die tatsächliche und rechtliche Würdigung regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung ergibt (Senatsbeschluss vom 30.12.2020 – 10 LA 275/20 –, juris Rn. 5). Zudem konnte dieser Gesichtspunkt in der mündlichen Verhandlung, die unter anderem auch der Förderung der Richtigkeit der gerichtlichen Entscheidung durch die umfassende Erörterung der Sach- und Rechtslage dient (vgl. BVerwG, Beschluss vom 16.7.2020 – 2 B 8.20 –, juris Rn. 15), gegenüber der Beklagten nicht angesprochen werden, weil ein Vertreter der Beklagten an dem Termin - entsprechend ihrer Praxis in asylrechtlichen Verwaltungsgerichtsverfahren - nicht teilgenommen hat (vgl. dazu auch Bayerischer VGH, Beschluss vom 10.1.2020 – 14 ZB 19.30242 –, juris Rn. 8). Die mündliche Verhandlung ist allerdings grundsätzlich Kernstück des verwaltungsprozessualen Verfahrens, dem die Vorstellung zu Grunde liegt, dass die gerichtliche Entscheidung grundsätzlich das Ergebnis eines dortigen diskursiven Prozesses zwischen Gericht und Beteiligten sein soll (BVerwG, Beschluss vom 20.5.2015 – 2 B 4.15 –, juris Rn. 5).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).