Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 22.07.2003, Az.: 7 ME 104/03

aufschiebende Wirkung; Aussetzungsbeschluss; Bindungswirkung; Rechtskraft; Sofortvollzug; Streitgegenstand; Verwaltungsakt

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
22.07.2003
Aktenzeichen
7 ME 104/03
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 48440
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 15.05.2003 - AZ: 2 B 743/03

Gründe

I.

1

Unter dem 17. Juli 2002 erteilte der Antragsgegner dem Beigeladenen die immissionsschutzrechtliche Genehmigung zum Neubau (u. a.) eines Ferkelaufzuchtsstalls mit 2.880 Plätzen sowie eines Güllebehälters in H. (I.) und ordnete am 22. Juli 2002 die sofortige Vollziehung an. Mit Beschlüssen vom 3. März 2003 - 2 B 1680/02 - (Antragstellerin zu 5.) und 4. März 2003 - 2 B 1572/02 - (übrige Antragsteller) stellte das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der gegen die Genehmigung erhobenen Widersprüche wieder her. Zur Begründung führte es im wesentlichen aus, die durch die neue Anlage und insbesondere den Güllebehälter zu erwartenden zusätzlichen Geruchsbeeinträchtigungen für die Nachbarschaft seien nicht hinreichend ermittelt und entsprechende Schutzmaßnahmen nicht Genehmigungsinhalt geworden, so dass die Widersprüche voraussichtlich Erfolg haben würden.

2

Mit Bescheid vom 18. März 2003 erteilte der Antragsgegner dem Beigeladenen antragsgemäß erneut die Genehmigung für den (bereits errichteten) Ferkelaufzuchtsstall, eine Biofilteranlage sowie einen Güllerundbehälter und ordnete unter dem 21. März 2003 die sofortige Vollziehung auch dieser Genehmigung an.

3

Dem Begehren der Antragsteller, die aufschiebende Wirkung der auch dagegen erhobenen Widersprüche wiederherzustellen, hat das Verwaltungsgericht mit dem im Tenor bezeichneten Beschluss in der Weise entsprochen, dass es die Fortdauer der mit Beschlüssen vom 3. und 4. März 2003 angeordneten aufschiebenden Wirkung der gegen die Genehmigung des Vorhabens vom 17. Juli 2002 erhobenen Widersprüche festgestellt hat. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung vom 21. März 2003 durch den Antragsgegner gehe ins Leere, weil dieser nicht befugt gewesen sei, die gerichtlich wiederhergestellte aufschiebende Wirkung der Widersprüche von sich aus zu beseitigen. Denn das mit Bescheid vom 18. März 2003 genehmigte Vorhaben sei im Kern mit dem bereits am 17. Juli 2002 genehmigten identisch. Dem stehe nicht entgegen, dass der Antragsgegner in den Auflagen unter Berücksichtigung der in den gerichtlichen Aussetzungsbeschlüssen gerügten Defizite Schutzvorkehrungen für die Antragsteller angeordnet habe, die vorher noch nicht oder nicht ausdrücklich vorgesehen gewesen seien. Der vom Beigeladenen formal erklärte Verzicht auf die vormalige Genehmigung, deren Neuerteilung und die erneute Sofortvollzugsanordnung des Antragsgegners führten zu einer rechtswidrigen Umgehung der Bindungswirkung der verwaltungsgerichtlichen Aussetzungsentscheidung. Dem sei mit der ausgesprochenen Feststellung zu begegnen, wie sie in Fällen faktischer Vollziehung anerkannt sei.

4

Mit seiner fristgerecht erhobenen Beschwerde macht der Beigeladene geltend, das von ihm und dem Antragsgegner gewählte neue Verfahren sei entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts - auf welche dieses vorher nicht hingewiesen habe - deshalb statthaft gewesen, weil Genehmigungsgegenstand nunmehr ein wesentlich verändertes Vorhaben sei. Der neue Genehmigungsbescheid beinhalte nämlich gerade solche Schutzauflagen zugunsten der Antragsteller, deren Fehlen ihrem Antrag im vormaligen Aussetzungsverfahren zum Erfolg verholfen habe.

5

Der Antragsgegner teilt die Auffassung des Beigeladenen, während die Antragsteller die Gründen des angefochtenen Beschlusses für zutreffend halten. Durch das gewählte Verfahren seien sie trotz ihres zuvor errungenen gerichtlichen Erfolges gezwungen gewesen, erneut ein Aussetzungsverfahren anzustrengen. Im übrigen verletze sie auch der geänderte Genehmigungsbescheid in ihren Rechten, weil nach wie vor mit unzumutbaren Geruchsbeeinträchtigungen zu rechnen sei.

II.

6

Die vom Beigeladenen in seiner Beschwerde dargelegten Gründe rechtfertigen keine den angefochtenen Beschluss abändernde Entscheidung, § 146 Abs. 4 S. 3, S. 6 VwGO.

7

Die verwaltungsgerichtlichen Beschlüsse vom 3. und 4. März 2003, mit denen die Genehmigung für die Errichtung des Ferkelaufzuchtsstalls und des Güllebehälters vom 17. Juli 2002 außer Vollzug gesetzt worden ist, entfalten entspr. § 121 Nr. 1 VwGO Rechtskraftwirkung (Kopp/Schenke, VwGO, 13. A., Rn. 4 zu § 121 m.w.N.). Sie binden die Beteiligten, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Streitgegenstand war der Sofortvollzug der Errichtungsgenehmigung für die zuvor genannten Einrichtungen in H., Gemarkung I., Flur 6, Flurstücke 26/6 und 35/3. Die sofortige Vollziehung einer Genehmigung exakt dieses Inhalts ist unter dem 21. März 2003 erneut angeordnet worden. Das war, wie das Verwaltungsgericht zutreffend erkannt hat, unzulässig.

8

Zu Unrecht wendet der Beigeladene dagegen ein, die Bindungswirkung habe nicht bestanden, weil nicht die Genehmigung vom 17. Juli 2002, sondern die neu erteilte Genehmigung vom 18. März 2003 für sofort vollziehbar erklärt worden sei und sich diese mit ihren nachbarschützenden Auflagen wesentlich von der vormaligen Genehmigung unterscheide.

9

Es trifft zwar zu, dass insbesondere die jetzigen Auflagen 1 bis 3 für die Geruchssituation in der Nachbarschaft bedeutsame Fragen neu regeln und in diesem Sinne durchaus "wesentlich" sind. Für die Rechtskraftwirkung entscheidend sind jedoch nicht die Nebenbestimmungen zu einem Verwaltungsakt, wie Auflagen sie nach § 36 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG darstellen. Abzustellen ist vielmehr auf den Genehmigungsgegenstand selbst (OVG Lüneburg, Beschl. v. 22.12.1994 - 1 M 7516/94 -, NVwZ-RR 1995, 376, 377). Ist das - neu oder ergänzend - genehmigte Vorhaben im Kern unverändert, ist dieser Gegenstand gleichgeblieben. Das ist hier der Fall, weil das jetzige Vorhaben "Ferkelaufzuchtsstall mit Güllebehälter" bereits durch die ursprünglich erteilte Genehmigung gedeckt war (vgl. zu diesem Kriterium OVG Münster, Beschl. v. 8.9.1992 - 11 B 3495/92 -, NVwZ 1993, 383, 384). Das Verwaltungsgericht hat darüber hinaus an Hand untersuchter Einzelmerkmale (Gebäude bereits errichtet, unveränderte Statik, gleiche Funktion des Güllebehälters, Biofilter und Abdeckung bereits ursprünglich vorgesehen) bestätigt gefunden, dass und weshalb das neu genehmigte Vorhaben mit dem vormals genehmigten tatsächlich "wesensgleich" ist. Da der Beigeladene das im Detail nicht angegriffen hat, brauchen diese - im übrigen offenkundig zutreffenden Tatsachen - hier nicht weiter nachvollzogen zu werden.

10

Mangels speziell dagegen gerichteter Darlegungen hat der Senat auch keinen Anlass, Überlegungen zur prozessualen Richtigkeit der vom Verwaltungsgericht vorgenommenen inzidenten Deutung des jetzigen Aussetzungsantrags als auf die seinerzeitigen Widersprüche bezogenes Feststellungsbegehren anzustellen. Eine derartige analoge Anwendung des § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO ähnlich wie in Fällen faktischer Vollziehung erscheint im übrigen ohne weiteres sachgerecht (vgl. OVG Lüneburg, aaO, 376).

11

Die Bindungswirkung der verwaltungsgerichtlichen Aussetzungsbeschlüsse vom 3. und 4. März 2003 bedeutet nicht, dass der Antragsgegner gehindert war, die Genehmigung selbst zu ändern oder, wie geschehen, inhaltlich im wesentlichen identisch neu zu erlassen. Denn diese ist nicht rechtskräftig aufgehoben worden. Sofern Antragsgegner und Beigeladener die Voraussetzungen einer sofortigen Vollziehung (nunmehr) für gegeben halten, weil nach ihrer Auffassung die vom Verwaltungsgericht in seinen Beschlüssen aufgezeigten Hinderungsgründe entfallen sind, ist es aber nicht der Antragsgegner, sondern das Verwaltungsgericht, das nach § 80 Abs. 7 VwGO darüber zu entscheiden hätte. Das Gesetz sieht gerade für solche Fälle nach § 80 Abs. 7 S. 2 VwGO ein Abänderungsverfahren vor. Keines der vom Beigeladenen und vom Antragsgegner angeführten Judikate und keine der angegebenen Kommentarstellen besagt etwas anderes.