Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 03.07.2003, Az.: 11 LB 1/03

armenischer Christ; Asyl; Grüne Karte; Istanbul; Krankheit; Türkeit: Krankheit

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
03.07.2003
Aktenzeichen
11 LB 1/03
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 48130
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

nachfolgend
BVerwG - 12.07.2004 - AZ: BVerwG 1 PKH 80.03 (1 B 247.03)

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Armenisch-orthodoxe Christen aus Istanbul unterliegen weiterhin keiner unmittelbaren oder mittelbaren Gruppenverfolgung (im Anschluss an das Urteil des Senats vom 28.11.1991 - 11 OVG 135/87 - )

Tatbestand:

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Die Kläger begehren ihre Anerkennung als Asylberechtigte.

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Die miteinander verheirateten Kläger zu 1 (geb. 1929) und zu 2 (geb. 1938) sind türkische Staatsangehörige und armenische Christen aus Istanbul. Sie reisten im Juni 1993 über den Flughafen Hannover in das Bundesgebiet ein und begehrten ihre Anerkennung als Asylberechtigte. Vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) trugen sie bei der Anhörung am 19. Juli 1993 im Wesentlichen vor: Sie hätten vor ihrer Ausreise 40 Jahre in Istanbul gelebt. Ihr Sohn C., geb. 1955, sei bereits 1979 als Asylbewerber nach Deutschland gekommen. In der Türkei hätten sie keine weiteren nahen Angehörigen. Sie hätten sehr viel Besitz, also viel Geld, da sie 40 Jahre lang gearbeitet hätten. Der Kläger zu 1) habe seit zwei Jahren allerdings nicht mehr das volle Gehalt bekommen. Er sei als Bauarbeiter tätig gewesen. Wenn er Häuser „verkauft“ habe, habe er immer weniger Geld von den Kunden erhalten. Er sei in dem Betrieb der einzige Armenier gewesen. Der Kläger zu 1) wurde nach den christlichen Geboten und den Hintergründe von Ostern und Weihnachten gefragt, konnte hierzu jedoch keine konkreten Antworten geben. Er führte weiter aus, Schwierigkeiten mit der Polizei oder mit anderen staatlichen Behörden habe er nicht gehabt, er sei jedoch von der Polizei verachtet worden. Die Moslems ließen sie nicht in Ruhe. Später konkretisierte er, sein eigener Besitz sei doch nicht so groß gewesen.

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Die Klägerin zu 2) erklärte bei ihrer Anhörung ergänzend, man habe sie geschlagen,

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überfallen und die Arbeit weggenommen. Der Krieg in Armenien sei Anlass für die Übergriffe auf die armenischen Christen in Istanbul gewesen. Vor ca. einem Jahr sei ihr Mann geschlagen worden. Sie hätten im Karakol um Hilfe nachgesucht, seien jedoch – nachdem sie ihre Namen genannt hätten – wieder weggeschickt worden. Bei Kirchgängen hätten Kinder sie mit Steinen beworfen, ohne dass deren Eltern etwas unternommen hätten. Sie seien nicht früher ausgereist, weil ihre Lage finanziell bedenklich gewesen sei. Ihr Mann habe Schwierigkeiten gehabt, die Ausreise zu organisieren. Überall sei man ihnen gefolgt. Man habe gesagt, er würde Geld und Waffen nach Armenien schmuggeln. Sie seien von „Leuten und Zivilpolizisten“ verfolgt worden.

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Mit Bescheid vom 20. Juli 1993 lehnte das Bundesamt das Asylbegehren ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen der §§ 51, 53 AuslG nicht vorliegen. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus: Allein die armenische Volkszugehörigkeit der Kläger begründe keine politische Verfolgung. Zwar gebe es Anfeindungen bis zu Angriffen gegenüber Christen, diese  Handlungen seien jedoch nur selten den türkischen Behörden zuzurechnen. Nach den Erkenntnismitteln habe sich auch der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan nicht auf die Situation der armenischen Christen in der Türkei ausgewirkt. Die von den Klägern geschilderte berufliche Beeinträchtigung wegen ihrer Zugehörigkeit zu den armenischen Christen stelle noch keine Existenzbedrohung dar und sei daher

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ebenfalls nicht als politische Verfolgung zu qualifizieren. Dass die Kläger sich subjektiv durch die Anfeindungen ihnen gegenüber belastet fühlten, rechtfertige nicht die Annahme einer politischen Verfolgung. Auch die im Bundesgebiet erfolgte Asylantragstellung führe bei Rückkehr in die Türkei nicht zu einer beachtlichen Verfolgungsgefahr.

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Der Bescheid war an die ZAST Langenhagen adressiert und kam von dort mit dem Vermerk zurück, dass die Kläger die Aufnahmeeinrichtung verlassen hätten und ihr Aufenthaltsort gegenwärtig nicht bekannt sei. Die Kläger sind in der folgenden Zeit unbekannten Aufenthalts gewesen. Wie sich nachträglich herausstellte, hatten sie sich vorübergehend bei ihrem Sohn C. in Braunschweig aufgehalten.

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Mit Eingang vom 9. Februar 1994 haben die Kläger Klage erhoben. Sie haben im Wesentlichen vorgetragen: Der Bescheid sei ihnen nicht wirksam zugestellt worden. Als Christen aus der Türkei seien sie als politisch verfolgt anzusehen.

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Die Kläger haben beantragt,

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den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 20. Juli 1993 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Kläger als

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Asylberechtigte anzuerkennen sowie festzustellen, dass in ihrer Person jeweils die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG vorliegen.

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Die Beklagte hat beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Das Verwaltungsgericht Braunschweig hat mit Urteil vom 22. August 1995 die Beklagte verpflichtet, die Kläger als Asylberechtigte anzuerkennen und festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Klage sei zulässig. Die Zustellungsfiktion des § 10 AsylVfG sei nicht ausgelöst worden, weil die Kläger im vorliegenden Verfahren nicht in ihrer Heimatsprache ausdrücklich auf diese Zustellungsfiktion hingewiesen worden seien. Greife aber die Zustellungsfiktion des § 10 AsylVfG nicht, sei auch der Lauf der Klagefrist nicht ausgelöst worden. Die Klage sei auch begründet. Allerdings könnten die Kläger ihr Asylbegehren nicht aus einem individuell erlittenen oder drohenden Verfolgungsschicksal herleiten. Die von ihnen geschilderten Vorkommnisse erreichten nicht die Grenze der Asylerheblichkeit. Es sei auch nicht davon auszugehen, dass die in der Türkei lebenden Armenier einer unmittelbaren Gruppenverfolgung durch den Staat ausgesetzt seien. Zwar werde in allen Quellen von Diskriminierungen der armenischen Volksgruppen auch durch staatliche Organe berichtet, jedoch erreichten diese Diskriminierungen noch nicht die Schwelle der Asylerheblichkeit. Von einer Vernichtung der religiösen Identität der armenischen Volksgruppe könne nicht gesprochen werden. Die Kläger unterlägen jedoch bei ihrer Rückkehr in die Türkei einer mittelbaren Gruppenverfolgung. Die allgemeine Situation in der Türkei sei von einer ständig wachsenden Bedeutung des Islam geprägt. Auch die Auseinandersetzungen in Aserbaidschan/Armenien einerseits und in Bosnien andererseits, wo jeweils – jedenfalls nach verbreiteter türkischer Einschätzung – Glaubenskonflikte eine Rolle spielten, wirke sich zu Lasten der armenischen Christen in der Türkei aus. Das Misstrauen gegen die Armenier werde von staatlichen Stellen gezielt geschürt, so z. B. durch die verbreitete Behauptung, Öcalan selbst sei Armenier und in der PKK kämpften Armenier. Unterschwellig werde damit gedroht, das Armenierpogrom von 1915 zu wiederholen. Auf administrativer Ebene werde ein geregeltes Gemeindeleben zunehmend erschwert. Diese allgemein angespannte Lage werde durch den kontinuierlichen Zuzug von Kurden aus dem Südosten der Türkei weiter verstärkt. Die Armenier lebten als Minderheit in einem Klima allgemeiner moralischer, religiöser und gesellschaftlicher Verachtung. Dieses reiche für die Annahme einer den Armeniern drohenden mittelbaren Gruppenverfolgung aus. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass die Armenier diese Gefahr wegen der von ihnen insbesondere 1915 erlittenen Verfolgung besonders stark empfänden.

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Dagegen richtet sich die vom Senat zugelassene Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten. Er trägt im Wesentlichen vor, die Prüfung einer mittelbaren Gruppenverfolgung setze voraus, dass Intensität und Anzahl aller Verfolgungshandlungen zur Größe der in Rede stehenden Gruppe in Beziehung gesetzt werde. Auf das Vorliegen dieser Referenz- oder Vergleichsfälle könne allenfalls bei Prüfung einer unmittelbaren Gruppenverfolgung, nicht jedoch im Rahmen der vom Verwaltungsgericht angenommenen mittelbaren Gruppenverfolgung verzichtet werden. Auch habe das Verwaltungsgericht den subjektiven Vorstellungen der betroffenen armenischen Christen einen zu hohen Stellenwert beigemessen, denn ein unmittelbarer ursächlicher Zusammenhang zwischen den früheren Pogromen und der 1993 erfolgten Ausreise der Kläger bestehe nicht. Ein bloßer psychologischer Zusammenhang zwischen Verfolgung und Ausreise stelle dagegen in der Regel keine tragende Kausalverbindung dar.

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Der Bundesbeauftragte beantragt sinngemäß,

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das erstinstanzliche Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.

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Die Kläger beantragen,

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die Berufung zurückzuweisen.

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Sie ergänzen, ihr Sohn C. sei nicht als Asylberechtigter anerkannt. Er lebe aber nach wie vor im Bundesgebiet. Eine Tochter lebe in den USA.

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Mit Schriftsatz vom 13. Juni 2003 haben die Kläger ärztliche Atteste übersandt. Danach leidet der Kläger zu  1) u.a. an Herzbeschwerden, Hypertonie,  kompensierter Niereninsuffizienz und Prostata-Adenom im Stadium II und muss ständig medikamentös  behandelt werden. Eine Bypass-Operation ist erfolgt. Die Klägerin zu 2) leidet ebenfalls u.a. an Herzbeschwerden, Diabetes Typ II, degenerative Wirbelsäulenveränderung , Glaukom, Tinnitus links. Eine Bypass-Operation sollte am 13.6.2003 erfolgen. Sie hat zudem wenige Tage vor der mündlichen Verhandlung einen Schlaganfall erlitten.

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Die Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat den angefochtenen Bescheid verteidigt, aber keinen Antrag gestellt.

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Die in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel ergeben sich aus den Anlagen zu den Schreiben vom 5. und 17. Juni 2003.

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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten hat Erfolg. Die Kläger haben keinen Anspruch auf die Anerkennung als Asylberechtigte nach Art. 16 a GG oder auf die Zuerkennung von Abschiebungsschutz nach §§ 51, 53 AuslG. Das entgegenstehende Urteil des Verwaltungsgerichts war daher aufzuheben und die Klage abzuweisen.

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A) Auf das Individualgrundrecht des Art. 16 a Abs. 1 GG kann sich nur berufen, wer selbst politische Verfolgung erlitten oder zu befürchten hat. Voraussetzung ist, dass dem Asylbewerber in seinem Heimatland gezielt Rechtsverletzungen von beachtlicher Intensität in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale zugefügt wurden oder solche ihm drohten, d.h. aus Gründen, die in seiner politischen oder religiösen Grundüberzeugung, seiner Volkszugehörigkeit oder in anderen Merkmalen liegen, welche sein Anderssein prägen (BVerfG, Beschl. v. 10.7.1989 – 2 BvR 502/86 u. a. –, BVerfGE 80, 315, 335).

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Ist eine politische Verfolgung zu bejahen, besteht gleichwohl kein Asylanspruch, wenn der Asylsuchende Schutz vor politischer Verfolgung in anderen Regionen des eigenen Landes finden kann (inländische Fluchtalternative). Eine derartige inländische Fluchtalternative besteht in anderen Landesteilen dann, wenn der Betroffene dort vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist (herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab) und wenn ihm dort auch keine anderen Nachteile und Gefahren mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (normaler Maßstab) drohen, die nach ihrer Intensität oder Schwere einer asylerheblichen Rechtsbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen, sofern diese existenzielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht bestünde (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.7.1989

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– 2 BvR 502/86 u. a. -, BVerfGE 80, 315, 343 ff.; Urt. v. 10.11.1989 - 2 BvR 403/84 u. a. -, BVerfGE 81, 58, 65 ff.).

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Ergibt sich die Gefahr eigener politischer Verfolgung des Asylbewerbers nicht aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen des Verfolgerstaates, so kann sie sich auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet. Zu unterscheiden ist dabei zwischen einer unmittelbaren staatlichen Verfolgung, bei der staatliche Ziele durch staatliche oder staatlich autorisierte Organe durchgesetzt werden und einer zwar von privater Seite ausgehenden, dem Staat jedoch nach allgemeinen Grundsätzen zurechenbaren und deshalb mittelbaren staatlichen Verfolgung.

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Die Annahme einer mittelbaren Gruppenverfolgung setzt jedenfalls voraus, dass Gruppenmitglieder Rechtsgutbeeinträchtigungen erfahren, aus deren Intensität und Häufigkeit jedes einzelne Gruppenmitglied die begründete Furcht herleiten kann, selbst alsbald Opfer solcher Verfolgungsmaßnahmen zu werden. Das wird vor allem bei gruppengerichteten Massenausschreitungen der Fall sein, die das ganze Land oder große Teile des Landes erfassen. Allerdings ist nicht erforderlich, dass die Gruppenverfolgung stets ein ganzes Land flächendeckend erfasst. Die einer Verfolgung zugrunde liegenden ethnischen, religiösen, kulturellen oder sozialen Gegensätze können nämlich in einzelnen Landesteilen unterschiedlich ausgeprägt sein. Eine mittelbare Gruppenverfolgung liegt auch vor, wenn unbedeutende oder kleine Minderheiten mit solcher Härte, Ausdauer und Unnachsichtigkeit verfolgt werden, dass jeder Angehörige dieser Minderheit sich ständig der Gefährdung an Leben, Leib und persönlicher Freiheit ausgesetzt sieht (BVerfG, Beschl. v. 23. 1. 1991 – 2 BvR 902/85 u. a.; BVerfGE 83, 216; BVerwG, Urt. v. 5. 7. 1994 – 9 C 158.94BVerwGE 96, 200). Eine vergleichbare quantitative und qualitative Verfolgungsdichte muss auch dann bestehen, wenn es sich im Randgebiet eines Staates nicht um eruptive Ereignisse, sondern um lang andauernde stille Differenzen, gegenseitige Animositäten und Streitigkeiten zwischen verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen von Menschen handelt. Ein in einer solchen Gegend bestehendes feindliches Klima einschließlich möglicher Diskriminierungen oder Benachteiligungen der Bevölkerungsminderheit durch die Bevölkerungsmehrheit oder aber die allmähliche Assimilation ethnischer oder religiöser Minderheiten begründet dagegen allein noch keine politische Gruppenverfolgung (BVerwG, Urt. v. 24. 7. 1990 – 9 C 78.89 -, NVwZ 1990, 1177).

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Für eine unmittelbare staatliche Gruppenverfolgung gelten demgegenüber geringere Voraussetzungen im Hinblick auf die prinzipielle Überlegenheit staatlicher Machtmittel sowie deshalb, weil hier eigene staatliche Ziele von staatlichen Organen oder durch eigens vom Staat berufene oder autorisierte Kräfte durchgesetzt werden. Im Unterschied zur mittelbaren Gruppenverfolgung kann eine unmittelbare staatliche Gruppenverfolgung schon dann anzunehmen sein, wenn zwar Referenz- oder Vergleichsfälle durchgeführter Verfolgungsmaßnahmen zum Nachweis einer jedem Gruppenmitglied drohenden Gefahr nicht in erforderlichem Umfang oder überhaupt nicht festgestellt werden können, aber hinreichend sichere Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm vorliegen, dessen Umsetzung bereits eingeleitet ist oder alsbald bevorsteht. Das kann etwa der Fall sein, wenn festgestellt werden kann, dass der Heimatstaat religiöse Minderheiten physisch vernichten und ausrotten oder aus seinem Staatsgebiet vertreiben will. In derartigen extremen Situationen bedarf es nicht erst der Feststellung einzelner Vernichtungs- oder Vertreibungsschläge, um die beachtliche Wahrscheinlichkeit drohender Verfolgungsmaßnahmen darzutun. Die allgemeinen Anforderungen an eine hinreichend verlässliche Prognose müssen allerdings auch dann erfüllt sein. Referenzfälle politischer Verfolgung sowie ein Klima allgemeiner moralischer, religiöser oder gesellschaftlicher Verachtung sind auch dabei gewichtige Indizien für eine gegenwärtige Gefahr politischer Verfolgung (BVerwG, Urt. v. 5. 7. 1994 – 9 C 158.94BVerwGE 96, 200).

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Zu unterscheiden ist weiter zwischen „regionaler“ Gruppenverfolgung einerseits und „örtlich begrenzter“ Gruppenverfolgung andererseits. Kennzeichen einer „regionalen“ Gruppenverfolgung ist, dass der unmittelbar oder mittelbar verfolgende Staat die gesamte durch ein oder mehrere Merkmale/Umstände verbundene Gruppe im Blick hat, sie aber z.B. aus Gründen politischer Opportunität nicht oder jedenfalls nicht landesweit verfolgt. Da eine derartige Regionalisierung des Verfolgungsgeschehens unter gewissen Bedingungen in eine landesweite Verfolgung umschlagen kann, sind auch die außerhalb dieser Region lebenden Gruppenmitglieder von der Gruppenverfolgung mit betroffen. Ihre potenzielle Gefährdung macht sie zwar nicht zu Verfolgten, rechtfertigt aber die Anwendung eines herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes, wenn die regionale Gefahr als objektiver Nachfluchtgrund auftritt. Eine Rückkehr in das Verfolgerland ist daher nur unter den o.a. Voraussetzungen einer inländischen Fluchtalternative zumutbar. Andere als durch die politische Verfolgung bedingte Nachteile und Gefahren, die an dem verfolgungssicheren Ort drohen, schließen diesen Ort als inländische Fluchtalternative mithin nur dann aus, wenn eine gleichartige existenzielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht bestünde (BVerwG, Beschl. v. 22.4.1996, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 186). Soweit Herkunftsort und Ort einer inländischen Fluchtalternative identisch sind, erübrigt sich demnach eine Prüfung der Frage der Existenzmöglichkeit (BVerwG, Urteile v. 9.9.1997 – 9 C 43.96 -, DVBl. 1998, 274, u. – 9 C 40.96 -).

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Von einer „örtlich begrenzten“ Verfolgung ist dagegen auszugehen, wenn sich die Verfolgungsmaßnahmen nicht gegen alle durch übergreifende Merkmale wie z.B. Volkszugehörigkeit oder Religion verbundene Personen richten, sondern nur gegen solche, die ein weiteres Merkmal aufweisen, z.B. aus einem bestimmten Gebiet stammen, Grundbesitz oder ein bestimmtes Alter haben. Dann besteht schon die Gruppe, die der Verfolger im Blick hat, lediglich aus solchen Personen, die alle Kriterien erfüllen. Asylbewerber, die nicht gleichzeitig auch die weiteren die Gruppe konstituierenden Merkmale (z.B. Grundsbesitz, Gebietsansässigkeit, Alter etc.) in eigener Person aufweisen, sind von der Verfolgung von vornherein nicht betroffen. Ihnen ist als unverfolgt Ausgereiste die Rückkehr in die Heimat mithin zumutbar, soweit ihnen dort nicht nach dem allgemeinen Prognosemaßstab mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.4.1996 - 9 C 17.95 -, BVerwGE 101, 134; v. 9.9.1997 – 9 C 43.96 -, DVBl. 1998, 274).

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Gemessen an diesen Grundsätzen steht den Klägern ein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte nicht zu.

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1. Bei den Klägern handelt es sich zur Überzeugung des Gerichts um armenische Christen aus der Türkei, und zwar aus Istanbul. Die Kläger haben sich im Laufe des Verfahrens stets als armenische Christen bezeichnet. Auch enthalten die in den Verwaltungsvorgängen befindlichen Ausweise der Kläger einen Hinweis auf ihre christliche Religionszugehörigkeit.

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2. Bei ihrer Ausreise (1993) waren die Kläger keiner landesweiten Verfolgung ausgesetzt.

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a) Von einer individuellen Verfolgungssituation ist nicht auszugehen. Ihr Vortrag vor dem Bundesamt lässt eine derartige individuelle Verfolgung nicht erkennen. Ihre Ausführungen, die Polizei habe sie verachtet, die Leute bzw. die Moslems würden sie nicht in Frieden lassen, der Kläger zu 1) sei verdächtigt worden, Geld und Waffen nach Armenien zu schmuggeln, sind im Vagen geblieben. Die Schläge gegenüber dem Kläger zu 1) haben ein Jahr vor der Ausreise stattgefunden, so dass es schon an der notwendigen Kausalität zwischen Verfolgung und Flucht (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26. 11. 1986 – 2 BvR 1058/85 – BVerfGE 74, 51) fehlt. Im übrigen kann diesen nicht näher beschriebenen Schlägen auch kein asylerhebliches Gewicht zugemessen werden. Der Vortrag, sie seien von Kindern wegen ihrer armenischen Volks- und christlichen Religionszugehörigkeit mit Steinen beworfen und von Dritten mit Schimpfwörtern belegt worden, erreicht ebenfalls nicht die

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asylerhebliche Schwelle. Außerdem kann dieses Verhalten nicht ohne weiteres dem türkischen Staat zugerechnet werden. Schließlich ist auch nicht ersichtlich, dass die Kläger in der Türkei ihren christlichen Glauben intensiv ausgeübt haben; denn vor dem Bundesamt hat der Kläger zu 1) auf die Nachfrage nach den 10 Geboten lediglich erklärt, er wisse nur, dass er nicht lügen und nicht töten solle und Fragen nach dem Hintergrund von Ostern und Weihnachten nicht beantworten können.

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b) Auf eine etwaige Gruppenverfolgung der Christen können sich die Kläger für den Zeitpunkt ihrer Ausreise nicht berufen.

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Da die Kläger vor ihrer Ausreise seit Langem in Istanbul gelebt haben, ist maßgeblich auf die dortigen Verhältnisse abzustellen.

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aa) Der Senat hat für den Zeitraum bis Ende 1991 mit Urteil vom 28. November 1991 (11 OVG A 135/87) dargelegt, dass von einer Gruppenverfolgung armenischer Christen in Istanbul nicht auszugehen ist. Auf dieses in das Verfahren eingeführte Urteil verweist der Senat, um Wiederholungen zu vermeiden.

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bb) Für den folgenden Zeitraum bis Anfang 1999 hat der Senat in mehreren in Zulassungsverfahren ergangenen Beschlüssen an dieser Einschätzung festgehalten (Beschl. v. 11.11.1903 – 11 L 1906/93 -; v. 28.4.1995 – 11 L 2230/95 -; v. 12.9.1996 – 11 L 1423/96 -; v. 12.3.1998 – 11 L 4847/97 – sowie v. 14.1.1999 – 11 L 205/99 -). Auch für das vorliegende Verfahren bleibt der Senat bei seiner Auffassung, dass für den Ausreisezeitraum der Kläger nicht von einer unmittelbaren oder mittelbaren Gruppenverfolgung der armenischen Christen auszugehen ist. Der von den Klägern geltend gemachte Eingriff in ihre Religionsfreiheit erreicht noch nicht die für die Zuerkennung von Asyl erforderliche Intensität. Sonstige asylrechtlich bedeutsame Übergriffe auf armenische Christen sind den Erkenntnismitteln ebenfalls nicht zu entnehmen.

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Das historische Siedlungsgebiet des armenischen Volkes ist bis 1915 das armenische Hochland zwischen den Hochebenen des Iran und Anatolien sowie dem Kaukasus gewesen. Nach armenischer Kirchenüberlieferung wurde das Christentum bereits im Jahre 301 zur Staatsreligion erhoben. Ein eigenständiges armenisches Königreich existierte allerdings nur bis ca. 390. Dann wurde Armenien zwischen Persien und Griechenland aufgeteilt. Im Osmanischen Reich vor dem 1. Weltkrieg belief sich die Zahl der armenischen Bevölkerung auf 2,5 bis 3 Mio. Der Prozentsatz der gesamten christlichen Bevölkerung im osmanischen Reich betrug etwa 20 % (Tessa Hofmann, Sommer/Oktober 2002, S. 4). Dieses ist darauf zurückzuführen, dass im 16. Jahrhundert das Osmanische Milletsystem gegründet wurde, in dem Armenier (sowie Griechen und Juden) durch ein offizielles Dokument des Sultans eine Anerkennung erhielten, die deren Oberhäupter zur Leistung von Abgaben verpflichtete und im Gegenzug berechtigte, ihre internen Angelegenheiten nach eigenem religiösen Recht zu regeln. Armenische (sowie griechische und jüdische) Einrichtungen existieren mithin seit Jahrhunderten u. a. in Istanbul (AA, Lagebericht v. 22.6.2002; Tessa Hofmann, Sommer/Oktober 2002, S. 6). Das Christentum hat die armenische Geschichte und Kultur nachhaltig geprägt, so dass das Christentum einen integralen Bestandteil armenischer Identität bildet (Tessa Hofmann, Sommer/Oktober 2002), ähnlich also der Bedeutung, die der Islam in einigen Ländern hat. Als Antwort auf die Freiheitsbestrebungen der Griechen, Balkanslawen und Arabern bildete sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein türkischer Nationalismus, der von der Überlegung ausging, dass der territoriale Bestand des Osmanischen Reiches die Türkisierung des multiethnischen und multireligiösen Landes erfordere. Infolgedessen kam es ca. 1915 u. a. zur Vertreibung von Armeniern. Mit dem Friedensvertrag von Sevres (August 1920) erkannte die faktisch entmachtete osmanische Regierung u. a. Armenien als unabhängigen freien Staat an. Die Umsetzung dieses Friedensvertrages scheiterte am politischen bewaffneten Widerstand der von Mustafa Kemal begründeten Gegenbewegung. Ab dem 20. November 1922 kam es in Lausanne zu einer internationalen Friedenskonferenz. Im Lausanner Vertrag vom 24. Juli 1923 werden Armenier nicht mehr ausdrücklich erwähnt, sondern es werden nur generell die Rechte der „Nichtmuslime“ garantiert (Tessa Hofmann, Sommer/Oktober 2002, S. 9).

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Dieser im Lausanner Vertrag festgelegte Minderheitenschutz wurde/wird von der Türkei nur sehr restriktiv gewährt. Zum einen interpretiert die Türkei den Begriff „nicht-muslimische Minderheit“ entgegen dem weiter gefassten Wortlaut (vgl. Oehring, St. v. 13. 4. 1995) dahin, dass darunter nur die griechisch-orthodoxen, armenisch-orthodoxen und jüdischen Religionsgemeinschaften gefasst werden. Zum anderen werden die in dem Vertragswerk geregelten Rechte der Minderheiten an diese nur sehr eingeschränkt weitergegeben. So bestimmt  der Lausanner Vertrag, dass den in der Türkei befindlichen Stiftungen und religiösen Einrichtungen der Minderheiten jegliche Erleichterungen und Genehmigungen zu gewähren sind und dass die türkische Regierung bei Neugründung ebenfalls die notwendigen Erleichterungen wie auch bei anderen privaten Einrichtungen gewährt. Tatsächlich wird jedoch auf christliche Stiftungen das Stiftungsgesetz aus dem Jahre 1936 angewandt, wonach Stiftungen nicht verkaufen, keine Erbschaften oder Geschenke annehmen dürfen und selbst Renovierungsarbeiten stets einer vorherigen Genehmigung bedürfen, im Unterschied zu muslimischen Stiftungen, die derartigen Restriktionen nicht unterliegen (Tessa Hofmann, St. v. 23.4.1996; AA, Lagebericht v. 20.3.2002).

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Der Lausanner Vertrag gewährt den nicht-muslimischen Minderheiten zudem u. a. das Recht, religiöse und soziale Einrichtungen, Schulen und anderes zu errichten und zu betreiben. Nach türkischer Interpretation betrifft diese Garantie jedoch allein Einrichtungen, die 1923 bereits bestanden haben. Seit 1923 untersagen die türkischen Behörden es mithin allen nicht-muslimischen Glaubensgemeinschaften, in der Türkei neue Kirchengebäude zu errichten. Baugenehmigungen werden grundsätzlich nicht erteilt. Das Priesterseminar der griechisch-orthodoxen Kirche in Istanbul (in dem - soweit ersichtlich - früher auch die Ausbildung der armenischen Priester stattfand), ist als letzte Einrichtung dieser Art in der Türkei bereits seit 30 Jahren geschlossen. Da nach den gültigen türkischen Vorschriften der Priesternachwuchs (die türkische Staatsangehörigkeit besitzen und) seine Ausbildung in der Türkei absolviert haben muss, droht ein langsames Aussterben der christlichen Minderheiten in der Türkei. Auch ist es in der Praxis so gut wie unmöglich, ausländische Theologen in die Türkei zu holen, da Priestern keine längerfristigen Aufenthaltsgenehmigungen/Arbeitserlaubnisse erteilt werden. Andererseits bleiben türkische Geistliche nach ihrem Studium oft im Ausland (AA, Lagericht v. 20.3.2002).

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Mitte der 90er Jahre stellten die Christen in der Türkei mit ca. 100.000 bis 150.000 Menschen (Christen verschiedener Konfessionen) eine äußerst kleine Minderheit an der gesamten Bevölkerung von ca. 60 Mio. (EPD-Dokumentation Nr. 49/79 S. 5) und damit weniger als 0,25 % der Bevölkerung. Die armenischen Christen bilden die stärkste christliche Minderheit (neben z. B. syrisch-orthodoxen, arabisch-orthodoxen Christen und Chaldäern). Im Zeitpunkt der Ausreise der Kläger gab es ca. 60.000 bis 80.000 armenische Christen, von denen ca. 7.000 in Restgemeinden außerhalb Istanbuls wohnten (z. B. in Kayseri, Diyarbakir, Mardin, Iskenderum, Kirikhan – Wießner, St. v. 8.9.1995; Tessa Hofmann, St. v. 25.1.1995; AA, St. v. 2. 3. 1995 und v. 28. 6. 1995 – 514/516/20031). Die christliche Minderheit der Armenier in der Türkei ist nach wie vor in drei Glaubensrichtungen organisiert, nämlich der armenisch-orthodoxen (gregorianischen oder armenisch-apostolischen) Gemeinde, der die Kläger angehören, mit einem Patriarchen in Istanbul (z. Z. Mesrob Mutafyan, zuvor Karekin Kazanciyan – Tessa Hofmann, St. v. 25.1.1995, S. 12; AA, St. v. 2. 3. 1995), der relativ kleinen armenisch-katholischen Gemeinde (ca. 200 in Ankara) und der zahlenmäßig noch unbedeutenderen armenisch-protestantischen Kirche (ca. 100 in Ankara, vgl. AA, Lagebericht v. 7. 9. 1999).

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(1) Von einer unmittelbaren staatlichen Gruppenverfolgung der armenischen Christen ist im Zeitpunkt der Ausreise der Kläger nicht auszugehen.

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Eine aus Gründen der Religion stattfindende Verfolgung ist nur dann asylerheblich, wenn die Beeinträchtigungen der Freiheit der religiösen Betätigung nach Intensität und Schwere die Menschenwürde verletzen. Es muss sich um Maßnahmen handeln, die den Gläubigen als religiös geprägte Persönlichkeit ähnlich schwer treffen wie bei Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit oder die physische Freiheit (BVerwG, Urt. v. 18.2.1986 – 9 C 16.85 –, BVerwGE 74, 31), indem sie ihn physisch vernichten, mit vergleichbar schweren Sanktionen bedrohen, seiner religiösen Identität berauben oder daran hindern, seinen Glauben im privaten Bereich durch Gebete und Gottesdienste zu bekennen (BVerfG, Beschl. v. 1.7.1987 – 2 BvR 478/86 u. a. – BVerfGE 76, 143, 158; Beschl. v. 10.11.1989 – 2 BvR 403/84 u. a. – BVerfGE 81, 58).

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Aus den eingeführten Erkenntnismitteln ergeben sich für den Zeitraum der Ausreise der Kläger keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür, dass der türkische Staat die armenischen Christen aus religiösen oder sonstigen Gründen unmittelbar verfolgt hat.

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Um 1993 gab es noch ca. 33 armenisch-orthodoxe Kirchen in Istanbul (AA, St. v. 28. 6. 1995 – 514-516/20031) und 8 Kirchen der armenisch-katholischen Kirche (Wießner, St. v. 8.9.1995; Oehring, St. v. 13.4.1995, S. 33). Mangels einer ausreichenden Anzahl von Priestern konnten allerdings nicht in allen Kirchen Gottesdienste abgehalten werden (Tessa Hofmann, St. v. 25.1.1995, S. 11). Insgesamt gab es damals ca. 29 Geistliche in der armenisch-orthodoxen Kirche (Patriarch, 2 Bischöfe, 2 Mönche, 5 Priester, 19 Liturgen – AA, St. v. 2. 3. 1995 u. v. 28. 6. 1995 – 514-516/20031). Die armenische Kirchengemeinde verfügte über insgesamt 17 armenische Friedhöfe (Oehring, St. v. 30.4.1995, S. 33) und über ca. 19 Schulen (Tessa Hofmann, St. v. 25.1.1995, S. 11). Darüber hinaus gab es zwei armenische Krankenhäuser (Oehring, St. v.13. 4.1995, S. 32; das AA, St. v. 2. 3. 1995 u. v. 28. 6. 1995, erwähnt ein Krankenhaus). 

51

Soweit in den in den Erkenntnismitteln erwähnten Gutachten auf die vielfältigen administrativen Erschwernisse in Zusammenhang mit dem (bislang nicht möglichen) Neubau und der Erhaltung/Renovierung von Kirchengebäuden eingegangen wird, gab es derartige Beschränkungen auch schon in früherer Zeit, ohne dass dieses in der Rechtsprechung Anlass gegeben hat, von einer unmittelbaren Gruppenverfolgung auszugehen. Trotz der nicht unerheblichen administrativen Einschränkungen war dieses nicht mit einer politischen Verfolgung gleich zu setzen, da den Armeniern die Ausübung ihres Glaubens dem Grunde nach möglich blieb (vgl. hierzu z. B. Urt. d. Sen. v. 28. 11. 1991 – 11 OVG A 135/87 -). Hieran ist auch weiterhin festzuhalten.      

52

Auch soweit die immer schon vorhandenen Beeinträchtigungen des Betriebes von armenischen Schulen durch türkische Behörden erwähnt werden, ergeben sich nach wie vor keine Anhaltspunkte dafür, dass diese staatlichen Maßnahmen geeignet sind, die Existenz der Schulen auf Dauer zu gefährden. Allerdings wurde im Oktober 1993 bezüglich der armenischen privaten Schulen angeordnet, dass der Unterricht generell auf Türkisch erfolgen solle mit Ausnahme des Unterrichtsfaches „Armenische Sprache“. Diese Vorgabe ist allerdings aufgrund von Elternprotesten schon im Dezember 1993 wieder zurückgezogen worden. Es dürfen daher nunmehr alle Fächer in armenischer Sprache unterrichtet werden, außer den Fächern „Türkische Sprache, Türkische Literatur, Geschichte und Staatsbürgerkunde“ (Oehring, St. v. 13.4.1995 S. 28; Tessa Hofmann, St. v. 25.1.1995, S. 14). Dass die türkischen Behörden armenischen Schuldirektoren von armenischen Schulen schon seit langem jeweils einen türkischen stellvertretenden Schuldirektor zugeordnet haben, der aus Sicht des Staates faktisch wie der eigentliche Schuldirektor behandelt wird, stellt ebenfalls noch keine asylerhebliche Beeinträchtigung dar, da die Existenz der Schule als solche dadurch nicht in Frage gestellt wird. Dass das Niveau der armenischen Priester ständig abnimmt, da es in der Türkei selbst keine Priesterausbildungsmöglichkeiten gibt (das AA spricht in seiner St. v. 28.6.1995 – 514-516/20031 - noch von einer „bescheidenen Priesterausbildung“), und dass auch das Niveau der armenischen Lehrer sinkt, weil es keine eigene armenische Lehrerausbildung gibt, sondern die Ausbildung über die türkischen Lehrerausbildungsanstalten erfolgen muss (Tessa Hofmann, St. v. 23.4.1996; Oehring, St. v. 13.4.1995, S. 29), reicht ebenfalls nicht zur Annahme politischer Verfolgung aus.

53

Dass die armenischen Christen aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit faktisch keinen Zugang für die Justiz-, Lehrer-, Polizei- und Offizierslaufbahn haben (Oehring, St. v. 13.4.1995, S. 25; AA, St. v. 28. 6. 1995 – 514-516/20031), ist nicht mit einer politischen Verfolgung gleichzusetzen. Da die Türkei zu mehr als 90 % von Muslimen bewohnt wird, kann die Zielrichtung der politischen Gremien, für das Funktionieren des Staates wesentliche Berufsfelder nur mit  Muslimen zu besetzen, unter asylrechtlichen Gesichtspunkten nicht beanstandet werden. Die Armenier hatten und haben in der Türkei insbesondere in Istanbul gleichwohl ihr wirtschaftliches Auskommen. Sie sind in der Regel in der unteren bis oberen Mittelschicht anzutreffen, werden auch in privaten Industriezweigen eingestellt, da hierfür nicht die Religion, sondern das berufliche Können ausschlaggebend ist (Oehring, St. v. 13.4.1995 S. 23), und zählen zumindest teilweise zu den wohlhabenderen Schichten (AA, St. v. 2. 3. 1995 u. v. 28. 6. 1995 – 514-516/20031-, Lagebericht v. 22.6.2000 –; vgl. zu den soeben aufgezählten Beeinträchtigungen insgesamt auch Urt. d. Sen. v. 28.1.1991 – 11 OVG A 135/87 -).

54

Es ist allerdings festzuhalten, dass sich die administrativen Schwierigkeiten und Drangsalierungen, denen die armenischen Christen in der Türkei ausgesetzt waren, in dem Zeitraum ab 1993 verstärkt haben ( AA v. 2. 3. 1995 u. v. 28.6.1995 – 514-516/20031).

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Dies beruhte zum einen auf dem Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien, in dem sich die Türkei auf die Seite Aserbaidschans und damit gegen die armenischen (christlichen) Interessen gestellt hat. Die antiarmenische Haltung der Regierung kam damals in zahlreichen Presseartikeln zum Ausdruck, griff damit auch auf die Bevölkerung über und führte zu zahlreichen „Maßnahmen“ der Bevölkerung gegen armenische Einrichtungen. Auch der Bosnienkonflikt wurde mit einbezogen (AA, St. v. 2. 3. 1995 u. v. 28. 6. 1995 – 514-516/20031).

56

Darüber hinaus gab es in den Zeitungen seit Sommer 1993 mehrfach sogenannte „Enthüllungen“ über die (angebliche) Allianz zwischen der PKK und Armeniern. Teilweise wurde Öcalan selbst als Armenier dargestellt (ai, St. v. 27.4.1995; Wießner, St. v. 8.9.1995; Oehring, St. v. 13.4.1995 S. 12; Tessa Hofmann, St. v. 25.1.1995 S. 6; AA v. 27. 12. 1994 u. v. 28. 6. 1995 – 514-516/20031). Auch diese Medienkampagne führte zu etlichen Übergriffen.

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Im Zuge der von der Presse geschürten Stimmung gegen die Armenier gab es im Zeitraum der Ausreise der Kläger eine sogenannte Drohbriefkampagne. Armenische Christen erhielten Briefe, in denen sie aufgefordert wurden, das Land zu verlassen und in denen dazu aufgerufen wurde, armenische Geschäfte zu boykottieren. Absender dieser Briefe war eine nationalistische Gruppierung. Der Patriarch wandte sich an offizielle Stellen, um auf diese Drohbriefaktion aufmerksam zu machen (Wießner, St. v. 8.9.1995; ai, St. v. 27.4.1995; Tessa Hofmann, St. v. 25.1.1995, S. 10; Oehring, St. v. 13.4.1995, S. 20; AA, St. v. 2. 3. 1995 u. v. 28. 6. 1995 – 514-516/20031).

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Insgesamt kam es nach Tessa Hofmann (St. v. 25.1.1995 S. 9, 11) zu mindestens 20

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Übergriffen im Zeitraum von 1993 bis 1995 auf kirchliche Einrichtungen (Steine wurden gegen Kirchen geworfen, Eigentum der Kirchen wie z. B. Leuchter, Bilder gestohlen, Fenster eingeschlagen etc.). Ai (St. v. 27.4.1995) berichtet ebenfalls von Übergriffen in dieser Zeit, ohne allerdings konkrete Zahlen zu nennen. Oehring, (St. v. 13.4.1995 S. 21) gibt die Zahl der Übergriffe auf armenische Einrichtungen für 1994 ebenfalls mit mindestens 20 an. Nach Wießner (St. v. 8.9.1995, S. 9) gab es 1993 10 Übergriffe auf Kirchen, 1994 und 1995 jeweils ein „Attentat“ und Übergriffe auf jüdische und griechisch-orthodoxe Friedhöfe. Die Übergriffe gingen im wesentlichen von aufgewiegelten Moslems aus. Staatliche Institutionen belangten die Täter dieser Vorfälle aber kaum, auch wurde die Presse nicht zur Mäßigung gegenüber armenischen Christen gemahnt (Tessa Hofmann, St. v. 25.1.1995, S. 16). Andererseits ist der Versuch von Muslimen, im Zuge dieser Übergriffe auch das Patriarchsgebäude zu stürmen, letztlich mit Hilfe der Polizei verhindert worden (Tessa Hofmann, St. v. 25.1.1995, S. 13). Der armenische Patriarch hat 1994 zudem, um der Medienkampagne entgegenzutreten, einen sog. Presserat gebildet und um verstärkten Kontakt mit der Presse nachgesucht (Oehring, St. v. 13.4.1995, S. 21).

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Der Senat geht davon aus, dass durch die geschilderten Vorkommnisse im Zeitpunkt der Ausreise der Kläger die ohnehin bestehende Unsicherheit für armenische Christen noch weiter zugenommen hat und gerade das Erstarken islamischer und nationaler Kräfte zu jener Zeit die Angst der armenischen Christen vor Isolierung, Diskriminierung und Übergriffen nachvollziehbar erhöht hat (ebenso Wießner, St. v. 8.9.1995, S. 5; ai, St. v. 27.4.1995). Gleichwohl reicht dieses damalige allgemeine Klima der Feindseligkeiten (noch) nicht für die Annahme einer konkreten unmittelbaren staatlichen Verfolgung aus. Ein Eingriff in das religiöse Existenzminimum und in sonstige asylrechtlich erhebliche Merkmale ist damit noch nicht verbunden. Die grundsätzliche Ausübung des Gottesdienstes und des Glaubens war den Armeniern trotz der gestiegenen Anfeindungen auch damals noch möglich. Dass die Medienkampagnen Anlass für besondere unmittelbare staatliche Maßnahmen gegen die Gruppen der armenischen Christen war, lässt sich den Gutachten von Tessa Hofmann (v. 25.1.1995 und 23.4.1996) nicht entnehmen. Auch Wießner führt in seinem Gutachten vom 8. September 1995 ausdrücklich aus, dass in der Türkei keine unmittelbare staatliche Verfolgung der armenischen Christen stattfinde. Die staatlichen Beeinträchtigungen der armenischen Bevölkerung beschränkten sich vielmehr auf Einzelfälle, wie z.B. Verweigerung des Rechtsschutzes bei Beschwerden, Verschleppung von Anträgen, mangelnder Schutz vor Belästigungen und Übergriffen durch Moslems. Diese Übergriffe beruhten auf dem allgemeinen Gefühl der Überlegenheit der Moslems gegenüber den Christen, griffen aber nicht das religiöse Existenzminimum an. Nur von Einzelfällen spricht auch das AA in seinen St. v. 2. März 1995 und v. 28. Juni 1995. In seiner Stellungnahme vom 28. Januar 1997 führt Wießner erneut aus, dass es keine staatlichen (oder auch staatlich geduldeten) Maßnahmen gegeben habe, die auf die Eliminierung der armenischen Christen gerichtet gewesen seien. Ob es im Einzelfall zu

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Übergriffen türkischer Beamter auf Armenier komme, richte sich (vielmehr) wesentlich nach dem Bildungsstand das betreffenden Beamten und dem allgemeinen Klima; christliche Gottesdienste könnten in der Regel ohne Störungen erfolgen, zudem verfüge das armenische Patriarchat zwischenzeitlich über gute Beziehungen zum türkischen Staat. Eine existentielle religiöse Behinderung unmittelbar durch den Staat lässt sich auch nicht dem Gutachten von Oehring (v. 13.4.1995) entnehmen; denn Oehring führt aus, dass man nicht generalisierend davon sprechen könne, der türkische Staat schränke die religiöse oder kulturelle Entfaltung der armenischen Volksgruppe ein. Dass auf Intervention des türkischen Staates die Wahl der Laiendelegierten für die Wahl eines neuen armenischen Katholikos in Armenien in Istanbul nicht stattfinden konnte (ai, St. v. 27.4.1995; Tessa Hofmann, St. v. 23.4.1996; Oehring, St. v. 13. 4. 1995, S. 41), stellt allerdings einen erheblichen unmittelbaren staatlichen Eingriff in die Religionsausübung der armenischen Christen dar. Da diese Beeinträchtigung jedoch in dieser Form bisher einmalig geblieben ist und sich Anhaltspunkte für ihre planmäßige Wiederholung nicht ergeben, kann auch dieser Vorfall nicht zur Bejahung einer unmittelbar staatlichen Verfolgung im Zeitraum der Ausreise der Kläger führen (vgl. ebenso OVG NW, Urt. v. 23.11.1995 – 2 A 199/91.A -).

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(2) Im Zeitraum der Ausreise der Kläger ist auch nicht von einer mittelbaren staatlichen Gruppenverfolgung der armenischen Christen in Istanbul durch die moslemische Bevölkerung auszugehen.

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Soweit in den Erkenntnismitteln von Übergriffen Dritter auf armenische Einrichtungen berichtet wird, ist diesen Übergriffen noch keine asylrelevante Bedeutung beizumessen, da sie – wie sich aus den obigen Darlegungen ergibt – die Religionsausübung der armenischen Christen als solche noch nicht in Frage stellen. Außerdem war bei Übergriffen Dritter auf armenische Einrichtungen eine Schutzbereitschaft des türkischen Staates zumindest dem Grunde nach für wesentliche armenische Einrichtungen vorhanden, wie sich daraus ergibt, dass die Polizei (letztlich) den Versuch von aufgebrachten Muslimen, das Patriarchatsgebäude zu stürmen, abgewehrt hat (Tessa Hofmann, St. v. 25.1.1995,

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S. 13), wenn die Polizei auch erst auf eindringliche Anforderung durch den Patriarchen eingriff. Im übrigen ist zu berücksichtigen, dass eine schleppende Ermittlungsarbeit ein allgemeines Problem der türkischen Ermittlungsbehörden ist und nicht ein spezifisches Problem im Verhältnis zur armenischen Gemeinschaft (AA v. 2.  3. 1995 u. v. 28. 6. 1995).

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Soweit es um Übergriffe auf armenische Christen selbst geht, ist den Erkenntnismitteln nicht zu entnehmen, dass die für die Annahme einer mittelbaren Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte erreicht wurde, mithin bei objektiver Betrachtung für jedes Gruppenmitglied die Furcht begründet war, selbst ein Opfer solcher Verfolgungsmaßnahmen zu werden. Oehring erwähnt zwar pauschal, dass Übergriffe Dritter auf Armenier in Istanbul erkennbar zugenommen hätten (St. v. 13.4.1995, S. 54),. Eine genaue Zahl konkret geschehener Übergriffe der moslemischen Bevölkerungsmehrheit auf die Armenier führt er jedoch nicht an. Im Übrigen hält Oehring fest, dass bei der Gefahr von etwaigen Übergriffen danach zu unterscheiden sei, ob Armenier und Moslems schon seit langem zusammen lebten – dann seien Übergriffe eher unwahrscheinlich – oder ob es sich erst um neu zugezogene Parteien handele – dann sei ein Übergriff „nicht grundsätzlich ausgeschlossen“. Diese Aussage vermag aber die für eine Asylverfolgung zu fordernde „beachtliche Wahrscheinlichkeit eines Übergriffes“ nicht zu belegen. Den Stellungnahmen von Wießner (8.9.1995 und 28.1.1997) sind ebenfalls keine konkret aufgelisteten Übergriffe auf einzelne armenische Christen zu entnehmen. Auch die von Tessa Hofmann in ihren Gutachten vom 25.1.1995, 23.4. 996 und Sommer/Oktober 2002 geschilderten Vorfälle weisen keine so hohe Zahl von Übergriffen der moslemischen Bevölkerungsmehrheit auf die armenischen Christen auf, dass auf eine für die Annahme einer Gruppenverfolgung ausreichende Verfolgungsdichte geschlossen werden könnte. So soll u. a.  im September 1995 auf eine armenische Bordellbesitzerin, die als Mäzenin für armenische Einrichtungen gilt, ein Mordanschlag verübt worden sein, dessen Täter bislang nicht gefasst wurden (Hofmann, St. v. 23.4.1996). Ob dieser Mordanschlag im Zusammenhang mit der Religion der Betreffenden oder mit ihrer Berufsausübung stand, muss jedoch als offen angesehen werden. Soweit Tessa Hofmann ausführt, dass im Juli 1993 während eines Taufgottesdienstes in eine Kirche ein Brandsatz geworfen worden sei, ist darauf hinzuweisen, dass die Täter dieses Übergriffes von den türkischen Behörden gefasst worden sind (Tessa Hofmann, St. v. Sommer/Oktober 2002, S. 20, 21). Das AA bewertet in seinen Lageberichten vom 7.12.1995, 4.12.1996 und 20.11.1997 die Situation der Armenier als unproblematisch und stuft vorgekommene Diskriminierungen als Einzelfälle ein (AA v. 2. 3. 1995 u. v. 28.6.1995).

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Insgesamt ist daher festzuhalten, dass die Stärkung des national-türkischen Elements in der Politik, die um sich greifende Islamisierung und die Medienkampagnen zur Verschwörungstheorie und zum Armenien-Aserbaidschan-Konflikt  die feindselige Atmosphäre, in der armenische Christen in der Türkei leben, gerade seit 1993 wieder verschärft hat, die Umstände jedoch nach Art und Zahl weder eine Intensität noch eine Dichte erreichten, die es rechtfertigt, von einer mittelbaren politischen Verfolgung der armenischen Christen durch die Moslems im Zeitpunkt der Ausreise der Kläger (1993) auszugehen (vgl. zur Verfolgungssituation armenischer Christen in diesem Zeitraum ebenso OVG NRW, Urt. v. 23.11.1995 – 2 A 199/91.A -).

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(3)  Die Kläger können ihr Asylbegehren schließlich nicht mit der vom Senat seit Frühjahr 1993 für den Südosten der Türkei angenommenen mittelbaren Gruppenverfolgung syrisch-orthodoxer Christen begründen. Die syrisch-orthodoxen Christen im Südosten der Türkei unterliegen dort einer örtlich begrenzten Gruppenverfolgung, weil nur diejenigen Gruppen von syrisch-orthodoxen Christen von einer mittelbaren Verfolgung betroffen sind, die dort landwirtschaftlichen Besitz haben, den sich die Kurden im Laufe der kriegerischen Auseinandersetzungen mit der PKK aneignen wollten (Urt. d. Sen. v. 29.6.1998 – 11 L 5510/97 -). Es kann dahinstehen, ob diese Rechtsprechung weiter aufrecht zu erhalten ist, nachdem mittlerweile der Ausnahmezustand in allen Provinzen im Südosten der Türkei aufgehoben und der militärische Kampf mit der PKK beendet wurde; denn die Kläger gehören schon nicht zu der von der örtlichen Verfolgung betroffenen Gruppe. Zwar ist insoweit unerheblich, dass es sich im Südosten der Türkei um syrisch-orthodoxe Christen handelt, während die Kläger zu der Gruppe der armenischen Christen gehören; denn die türkische Bevölkerung unterscheidet nicht zwischen den einzelnen christlichen Glaubensrichtungen (Wießner, St. v. 28.1.1997). Die armenischen Christen in Istanbul weisen jedoch nicht das für die Verfolgung im Südosten der Türkei maßgebliche Kriterium auf, denn sie besitzen in aller Regel kein Land im Südosten der Türkei.

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3) Die Kläger können sich nicht auf einen Nachfluchtgrund berufen.

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Etwaige subjektive erhebliche Nachfluchtgründe sind nicht ersichtlich.

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Objektive Nachfluchtgründe liegen nicht vor. Auch bezogen auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ist nicht von einer unmittelbaren oder mittelbaren Gruppenverfolgung armenischer Christen in der Türkei auszugehen.

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Die Armenier sind in Istanbul weiterhin in der unteren und oberen städtischen Mittelschicht anzutreffen (Tessa Hofmann, St. v. Sommer/Okt. 2002, S. 5). Die Zahl der armenischen Christen in der Türkei wird mit ca. 65.000 angegeben (FAZ v. 7.5.2001). 5.000 davon sollen noch außerhalb Istanbuls leben (Herder 2001 Nr. 5). Nach wie vor haben die Christen keinen Zugang zu gehobenen oder höheren Posten in Verwaltung und Militär (Herder 2001 Nr. 5, Welt am Sonntag v. 5.12.2002; Tessa Hofmann, St. v. Sommer/Okt. 2002, S. 32). Die Zahl der gesamten Christen in der Türkei ist mit ca. 100.000 nach wie vor gegenüber mittlerweile 67 Mio. Muslimen äußerst gering (dpa 22. 2. 2001;  FAZ v. 12.10.2002; Welt am Sonntag v. 15.12.2002; Tessa Hofmann, Sommer/Oktober 2002, S. 4). Seit ca. 1998 ist Mutafyan Mesrob der armenische Patriarch (Herder 2001 Nr. 5). Allerdings hat der türkische Staat versucht, bei dieser Wahl zugunsten eines vom Staat favorisierten Mitbewerbers Einfluss zu nehmen. Der von der armenischen Kirche gewünschte Kandidat konnte sich jedoch durchsetzen (AA, Lageberichte v. 18.9.1998 u. v. 22.6.2000). Die Zahl der armenischen Schulen wird mit 15 angegeben (SZ v. 13.8.2001) bzw. mit 19 (Tessa Hofmann, St. v. Sommer/Oktober 2002). Das armenisch-apostolische Patriarchat soll 38 Kirchen (einschließlich Kapellen) in Istanbul betreiben, die armenisch-katholische Kirche in Istanbul und Umgebung 12 Kirchen (einschließlich Kapellen) sowie eine Kirche im Südosten der Türkei in Mardin und die evangelischen Armenier sollen 4 Kirchen in Istanbul besitzen (Tessa Hofmann, St. v. Sommer/Oktober 2002, S. 22 – die Zahl ist gegenüber früher vermutlich deswegen höher, weil nunmehr Kirchen und Kapellen zusammengezählt wurden). Ca. 25 Priester betreuen die armenische Gemeinde.

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Den ca. 52 armenischen Stiftungen war es in der Vergangenheit bislang (weiterhin) nicht möglich, Eigentum zu erwerben oder auch nur Renovierungsarbeiten zügig durchzusetzen. Durch einen Runderlass von 1999 wurden allerdings gewisse administrative Erleichterungen bezüglich Renovierungsarbeiten an kirchlichen Gebäuden eingeführt (AA, Lagebericht v. 20.3.2002). Die türkische Regierung hat darüber hinaus im August 2002 ein Reformpaket beschlossen, das vorsieht, bereits erworbene oder genutzte Immobilien auf Antrag innerhalb von sechs Monaten registrieren zu lassen und das es ermöglichen soll, in Zukunft Immobilien zu erwerben, zu veräußern und zu erben (AA, Lagebericht v. 9.10.2002). Zu diesem Gesetz gibt es allerdings einengende Verwaltungsvorschriften. Außerdem ist in jedem Fall die Zustimmung des Ministerrates erforderlich, was wiederum die Gefahr von politischem Opportunitätserwägungen in sich birgt (AA, Lagebericht v. 9.10.2002; FAZ v. 12.10.2002; Tessa Hofmann, St. v. Sommer/Oktober 2002, S. 44). In Diyarbakir konnte eine neue protestantische Kirche gebaut werden (FAZ v. 12.10.2002). Das türkische Innenministerium hat zur Förderung der Tourismusbranche angeordnet, auf Nachfrage nach Gebetsstätten für Nichtmuslime zu reagieren, insbesondere in touristischen Gebieten (IGFM v. 27.9.2001). Einerseits ist (erneut) eine syrisch-orthodoxe Kirche im Südosten der Türkei geplündert worden, andererseits hat Staatspräsident Sezer die Christen bei Rückgabe einer Kirche im Stadtteil Moda/Istanbul unterstützt (FAZ v. 16.1.2003). Auch beteiligt sich der türkische Staat über sein „Direktorat für religiöse Angelegenheiten“ zunehmend am Dialog der Religionen (FAZ v. 12.10.2002). Wenn auch der Kassationshof im Dezember 2001 noch die bisherige restriktive Stiftungsrechtsprechung bestätigt hat und in letzter Zeit erneut zwei armenische Immobilien vom Staat konfisziert worden sind – insgesamt hat der türkische Staat in den vergangenen Jahren 39 Immobilien der armenischen Gemeinschaft übernommen (vgl. Tessa Hofmann, St. v. Sommer/ Oktober 2002, S. 29, 31; FAZ v. 12.10.2002) -, zeigt die oben dargestellte Entwicklung gleichwohl eine gewisse Entspannung im Verhältnis zwischen Moslems und Christen in der Türkei an. Diese Lockerung ist eingebettet in weitere Reformen, die der türkische Staat u. a. auch im Hinblick auf die von ihm angestrebte EU-Mitgliedschaft eingeleitet hat. So ist die Todesstrafe inzwischen abgeschafft worden und sind Demonstrationen – zumindest dem Grunde nach – möglich (Die Zeit v. 8.8.2002). Haftstrafen für Folterer dürfen nicht mehr in Geldstrafen verwandelt werden (Die Tageszeitung vom 4.12.2002) und die kurdische Sprache wird dem Grunde nach zugelassen (SZ v. 6.8.2002). Wenn auch die Umsetzung dieser Vorgaben in der Praxis sehr mühselig sein mag, deuten sie z. Z. doch auf eine gewisse Veränderung des Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft und auf einen gegenüber früher etwas toleranteren Umgang der Türkei mit Minderheiten hin, wenngleich nach wie vor etliche bürokratische Hindernisse bestehen (vgl. NZZ v. 20.9.2002; FAZ v. 22.11.2002, wonach z. B. nur 45 Minuten pro Tag im Radio eine kurdische Sendung laufen darf; FR v. 22.5.2003, wonach Beschränkungen für nicht-islamische Glaubensgemeinschaften weniger werden).

73

Belastet wird das armenisch-moslemische Verhältnis nach wie vor durch den Umgang des türkischen Staates mit der  Vertreibung der Armenier 1915/16. Der ehemalige Vorsitzende des türkischen Menschenrechtsvereins Birdal soll bei einem Vortrag in Bremerhaven das Geschehen von 1915/16 als Verfolgung der Armenier geschildert haben und deswegen soll gegen ihn Anklage erhoben worden sein (Boulerian v. 30.5.2001). Ebenso hat der syrisch-orthodoxe Priester Akbulut über den Genozid an den Armeniern gesprochen und ist deswegen verhaftet worden (dpa v. 22.2.2001; IGfM v. 23.11.2000; Boulerian v. 30.5.2001). Mittlerweile ist Akbulut allerdings insbesondere auch auf Druck des Auslandes freigesprochen worden mit der Begründung, er habe diese Aussage im privaten Kreis getan (FAZ v. 9.4.2001; Herder, 2001 Nr. 5). Seit kurzem gibt es eine türkisch-armenische Versöhnungskommission (SZ v. 13.8.2001) und die Türkei bekennt sich – wenn auch zögernd – zum armenischen Genozid (Die Tageszeitung v. 24.4.2003). Eine gewisse Entspannung ist daher auch zu diesem Punkt  festzustellen.

74

Dem Vorgehen gegen deutsche Stiftungen im Herbst 2002 (vgl. FAZ v. 31.1.2003 und 28.2.2003) lässt sich kein Hinweis auf eine Verfolgungssituation der armenischen Christen entnehmen. Zum einen stand dieses Vorgehen nicht in einem Bezug zu Armeniern oder Christen, sondern beruhte auf dem Vorwurf der Spionage zu Lasten der Türkei bzw. staatsfeindlicher Aktivitäten, zum anderen endete dieses Verfahren inzwischen mit einem Freispruch für die betreffenden Repräsentanten der deutschen Stiftungen (dpa v. 4.3.2003).

75

Es bleibt abzuwarten, ob die Reformansätze unter der jetzigen regierenden AKP mit Erdogan (Die Tageszeitung v. 5.11.2002; FAZ v. 18.11.2002) fortgeführt werden und ob die Türkei eine zunehmend tolerantere Linie gegenüber Minderheiten verfolgt oder ob die gerade im Zeitraum der Ausreise der Kläger deutlich gewordenen islamistischen Tendenzen in der Türkei auch unter ihrem jetzigen Premier Erdogan (doch) weiter begünstigt werden (in diesem Sinne z.B. FR v. 29.4.2003: Türkischer Premier Erdogan fördert strenggläubige Muslime; kritisch zum Reformpaket auch Oehring, St. v. 6.1.2003). Zumindest nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand ist davon auszugehen, dass  - wenngleich es weiterhin behördliche Benachteiligungen gegenüber Armeniern gibt (vgl. Tessa Hofmann, St. v. Sommer/Oktober 2002) - das für den Zeitraum der Ausreise der Kläger festzustellende besonders spannungsgeladene Klima gegenüber armenischen Christen sich etwas gebessert hat, so dass, bezogen auf den jetzigen Zeitpunkt (erst recht) nicht von einer unmittelbaren oder mittelbaren Gruppenverfolgung armenischer Christen in der Türkei auszugehen ist, zumal auch die umfassende neue Stellungnahme von Tessa Hofmann (v. Sommer/ Oktober 2002) für die Gegenwart keine Zunahme der Übergriffe gegen Armenier selbst oder gegen ihre Einrichtungen verzeichnet.

76

Soweit das Auswärtige Amt in seinen aktuellen Lageberichten v. 20.3. und 9.10.2002 darauf hinweist, dass ein „langsames Aussterben der christlichen Minderheiten in der Türkei“ drohe, da es kaum Priesternachwuchs gebe, vermag dieses eine politische Verfolgung nicht zu begründen; denn es ist zu berücksichtigen, dass viele junge Armenier sowieso nicht mehr bereit sind – wie noch die Generationen vor ihnen -, die Situation in der Türkei, also insbesondere das Leben in latenter Feindschaft mit den Moslems, hinzunehmen und „geduldig zu ertragen“ (vgl. Wießner, St. v. 8.9.1995 u. AA, St. v. 2. 3. 1995). Sie sind daher ohnehin entschlossen, in das Ausland zu gehen oder aber sich den Gegebenheiten in der Türkei unter Aufgabe ihres armenischen Glaubens anzupassen (AA v. 2.3.1995). Vor einer solchen im Laufe der Jahrzehnte eintretenden Assimilation schützt aber das Grundrecht auf Gewährung politischen Asyls nicht (BVerwG, Urt. v. 23. 7. 1991 – 9 C 154.90BVerwGE 88, 367).

77

B. Aus den obigen Ausführungen ergibt sich zugleich, dass ein Anspruch auf die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG nicht besteht.

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C. Anhaltspunkte für das Vorliegen von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG sind nicht ersichtlich.

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Insbesondere greift auch § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG nicht ein. Die geltend gemachten Krankheitsbilder können in der Türkei behandelt werden. In den großen Städten ist in der Regel eine medizinische Versorgung auf demselben Niveau wie in Deutschland möglich (AA, Lagebericht v. 9. 11. 2002, S. 49). Da die Kläger aus Istanbul stammen, ist davon auszugehen, dass sie auch dorthin zurückkehren werden. Ein Abschiebungshindernis lässt sich zudem nicht aus der im Schriftsatz vom 13. Juni 2003 aufgestellten Behauptung ableiten, die Kläger könnten die notwendige Behandlung nicht zu für sie bezahlbaren Preise erhalten. Allerdings besteht nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben im Sinne von § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (BVerwG, Urt. v. 29. 10. 2002 – 1 C 1/02 - AuAS 2003, 106, DVBl. 2003, 463). Die Gefahr, dass die Kläger mangels finanzieller Mittel die erforderliche Behandlung in der Türkei für sich nicht erreichen können, besteht jedoch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht.

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Die erwerbstätigen Bedürftigen haben in der Türkei grundsätzlich Anspruch auf Ausstellung einer Grünen Karte, die zu einer kostenlosen medizinischen Versorgung im staatlichen Gesundheitssystem berechtigt (AA, Lagebericht v. 9. 10. 2002 S. 49). Die Grüne Karte wird von der für den Wohnort des Antragstellers zuständigen Behörde ausgestellt, nachdem zuvor die Anspruchsvoraussetzungen geprüft worden sind (AA, v. 1. 12. 2000). Zu den Anspruchsvoraussetzungen gehört ein Wohnsitz am jeweiligen Ort (AA, Lagebericht v. 9. 10. 2002, S. 49). Eine Wohnsitzbegründung (wieder) in Istanbul ist den Klägern möglich und zumutbar. Ist ein Betroffener akut erkrankt, ist in der Zeit zwischen Antragstellung und Erteilung der Grünen Karte (dieser Zeitraum kann mehrere Wochen betragen) eine Sofortbehandlung möglich (AA, Lagebericht v. 9. 10. 2002, S. 49; zum Zugang zur Behandlung bei Bedürftigkeit vgl. auch VGH Bad.-Wortt., Urt. v. 24. 2. 2003 – A 12 S 939/02AuAS 2003, 129).  Auch wenn von Problemen bei Erteilung der Grünen Karte und der Gewährung der kostenlosen Behandlung berichtet wird (Hinweise hierauf z. B. in AA, Lagebericht v. 9. 10. 2002), erscheint dem Senat gleichwohl eine Gefährdung der Kläger nicht beachtlich wahrscheinlich. Zu berücksichtigen ist, dass die Kläger als armenische Christen der armenischen Kirchengemeinde in Istanbul angehören, die sich durch eine große Solidarität untereinander auszeichnet (vgl. Wießner, St. v. 28. 1. 1997). Arme Familien werden ggf. unterstützt (vgl. z. B. AA St. v. 2. 3. 1995 u. v. 28. 6. 1995 – 514-516/20031 -). Es ist daher davon auszugehen, dass bei akuten Notlagen die Kläger durch die Kirchengemeinde unterstützt werden. Darüber hinaus geht der Senat davon aus, dass die Kläger während ihres langjährigen Aufenthalts im Bundesgebiet – selbst wenn sie nur von Sozialhilfe gelebt haben sollten – gewisse Ersparnisse zurückgelegt haben, auf die sie in der Türkei zurückgreifen können. Außerdem könnten ihr noch im Bundesgebiet lebender Sohn und ihre in den USA lebende Tochter gegebenenfalls einen finanziellen Beitrag leisten. Dem im Schriftsatz vom 13. Juni 2003 enthaltenen und in der mündlichen Verhandlung förmlich gestellten Beweisantrag war daher nicht nachzugehen. Im übrigen wird auf die vom Senat im Rahmen des § 86 Abs. 2 VwGO gegebene Begründung Bezug genommen.

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Wenn auch aus den vorstehenden Gründen das Begehren der Kläger auf Anerkennung als Asylberechtigte und Gewährung von Abschiebungsschutz nach §§ 51, 53 AuslG keinen Erfolg hat, so könnte in Anbetracht des Alters der Kläger, ihrer aus den überreichten ärztlichen Attesten abzuleitenden schlechten gesundheitlichen Verfassung (kurz vor dem Verhandlungstermin soll die Klägerin zu 2) zudem einen Schlaganfall erlitten haben) viel dafür sprechen, dass den Klägern eine Abschiebung und ein Umzug nach Istanbul aus humanitären Gründen nicht zumutbar und ihnen daher ggf. eine Duldung (und später eine Aufenthaltsbefugnis) zu erteilen ist. Dieses ist aber nach dem AuslG zu beurteilen und daher nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens.