Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 03.07.2003, Az.: 13 LA 90/03
Asyl; Asylantragsteller; Asylbewerber; Asylerheblichkeit; Ausländer; Binnenflüchtling; Fluchtalternative; Gruppenverfolgung; Inland; inländische Fluchtalternative; politische Verfolgung; Russische Föderation; Tschetschenien; Verfolgung
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 03.07.2003
- Aktenzeichen
- 13 LA 90/03
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 48475
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 04.12.2002 - AZ: 8 A 326/01
Rechtsgrundlagen
- Art 16a Abs 1 GG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Der Senat lässt weiterhin offen, ob für das Gebiet Tschetscheniens asylerhebliche Übergriffe in einem Umfang, die die Annahme einer Gruppenverfolgung rechtfertigen, festgestellt werden können.
2. Tschetschenen finden im Staatsgebiet der Russischen Föderation eine inländische Fluchtalternative.
3. Die Fluchtalternative besteht auch angesichts der Reaktionen der Staatsgewalt
auf die Geiselnahme durch Tschetschenen in dem Moskauer Musical-Theater.
Gründe
Der Zulassungsantrag bleibt ohne Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe liegen nicht vor. Weder ist die behauptete Divergenz gegeben (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG), noch hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG).
1. Divergenz
Das angefochtene Urteil weicht weder von der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Januar 2001 - 9 C 16.00 - (BVerwGE 112, 345) noch von dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Juli 1989 (BVerfGE 80, 315) ab.
Das Verwaltungsgericht hat einen Rechtssatz in Abweichung zu der erstgenannten Entscheidung, wonach das verfolgungsfreie Gebiet ohne Inanspruchnahme ausländischen Schutzes gefahrlos erreichbar sein muss, nicht aufgestellt. Die gefahrlose Erreichbarkeit des Staatsgebiets der Russischen Föderation, in dem die Kläger nach Auffassung des Verwaltungsgerichts jedenfalls eine inländische Fluchtalternative finden, ist nicht zweifelhaft. Der Inanspruchnahme ausländischen Schutzes bedarf es dazu nicht. Im Hinblick auf die zweitgenannte Entscheidung hat das Verwaltungsgericht entgegen der Darstellungen der Kläger nicht unterstellt, dass die Kläger in der Russischen Föderation eine inländische Fluchtalternative ungeachtet anderer Nachteile und Gefahren finden würden, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommt. Das Bestehen derartiger Nachteile und Gefahren hat das Verwaltungsgericht vielmehr auch für den Fall verneint, dass die Kläger eine Registrierung als Binnenflüchtlinge nicht erreichen können. Sofern diese Annahme unzutreffend sein sollte, ist damit eine Divergenz nicht dargelegt. Das Urteil wäre in seiner Würdigung der tatsächlichen Verhältnisse - wovon der Senat allerdings nicht ausgeht - rechtlich unzutreffend. Ein derartiger Rechtsanwendungsfehler wäre mit der Divergenzberufung indessen nicht angreifbar.
2. Grundsätzliche Bedeutung
Die Rechtssache hat auch nicht grundsätzliche Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG). Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtsstreitigkeit, wenn sie eine rechtliche oder eine tatsächliche Frage aufwirft, die für die Berufungsinstanz entscheidungserheblich ist und im Interesse der Rechtseinheit oder der Rechtsfortbildung der Klärung bedarf (BVerwGE 70, 24). Maßgeblich ist dabei die Erwartung, dass in der Berufungsentscheidung eine klärungsbedürftige Frage mit Verbindlichkeit über den Einzelfall hinaus in verallgemeinerungsfähiger Form beantwortet werden kann (Renner, Ausländerrecht, 7. Aufl., § 78 AsylVfG, Rdnr. 11). Klärungsbedarf entsteht allerdings nicht schon dann, wenn Schrifttum und Rechtsprechung sich mit einem Problem noch nicht befasst haben. Hat das erkennende Gericht bereits Stellung bezogen, so ist eine Klärung in einem Berufungsverfahren dann nicht notwendig, wenn neue Aspekte in dem Beschluss über den Zulassungsantrag berücksichtigt und mit der früheren Rechtsprechung in Einklang gebracht werden (Renner, aaO, Rdnr. 13). Dies ist im vorliegenden Verfahren der Fall.
Der Zulassungsantrag verweist darauf, dass der Senatsbeschluss vom 27. November 2002 - 13 LA 321/02 -, auf den die angefochtene Entscheidung des Verwaltungsgerichts Bezug genommen hat, lediglich den Ad hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes vom 7. Mai 2002, nicht aber den vom 27. November 2002 berücksichtigt habe. Dort sei zu den Flüchtlingslagern in Inguschetien ausgeführt, dass es infolge des Machtwechsels zu einer veränderten Flüchtlingspolitik gekommen sei. Am 29. Mai 2002 hätten der Verwaltungschef Tschetscheniens, der neue inguschische Präsident und der Kaukasus-Bevollmächtigte des Kreml in Grozny eine Vereinbarung unterzeichnet, nach der alle tschetschenischen Binnenflüchtlinge Ende September 2002 wieder nach Tschetschenien zurückkehren sollten. In der Folge der Geiselnahme in Moskau habe das Verteidigungsministerium umgehend weitreichende Säuberungsaktionen in ganz Tschetschenien angekündigt. Der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehenden Personen habe sich signifikant erhöht. Die Miliz "fahre" eine verschärfte Kampagne gegen Tschetschenen, bei denen einziges Kriterium die tschetschenische Volkszugehörigkeit sei. Derzeit stünden kaukasisch aussehende Personen unter einer Art Generalverdacht. Angesichts der angespannten Atmosphäre nach der Geiselnahme sei davon auszugehen, dass abgeschobenen Tschetschenen besondere Aufmerksamkeit durch russische Behörden gewidmet werde.
Von grundsätzlicher Bedeutung - so die Kläger - sei die Frage, ob eine inländische Fluchtalternative auch noch nach der Vertragsunterzeichnung und der Geiselnahme in Moskau unter Zugrundelegen des Ad hoc-Berichts des Auswärtigen Amtes vom 27. November 2002 bejaht werden könne. Diese Frage bejaht der Senat auf der Grundlage der allgemeinen Auskunftslage uneingeschränkt (ebenso: OVG des Saarlandes, Beschl. v. 22.01.2003 - 9 Q 182/00 -, zit. nach JURIS Nr.: MWRE 108280300). Im Einzelnen gilt Folgendes:
Der Senat kann weiterhin offen lassen, ob für das Gebiet Tschetscheniens selbst asylerhebliche Übergriffe in einem Umfang, die die Annahme einer Gruppenverfolgung rechtfertigen würden, festgestellt werden können. Dafür mögen sich nach der Auskunftslage nicht unerhebliche Hinweise ergeben, sicher ist dies indessen keineswegs. Wird dies zu Gunsten der Kläger aber unterstellt, so finden die Kläger im Staatsgebiet der Russischen Föderation jedenfalls eine inländische Fluchtalternative (vgl. zu den Anforderungen BVerwGE 110, 74; BVerfGE 80, 315; Bestätigung der ständigen Spruchpraxis des Senats, vgl. Beschl. v. 27.11.2002 - 13 LA 321/02 -; Beschl. v. 25.09.2002 - 13 LA 238/02 -; Beschl. v. 11.06.2002 - 13 LA 72/02 -; Beschl. v. 27.11.2002 - 13 LA 326/02 -; Beschl. v. 20.06.2002 - 13 LA 138/02 - u. Beschl. v. 14.06.2002 - 13 LA 151/02 -).
Zwei der Gesichtspunkte, die das Zulassungsbegehren aufzeigt, sind für eine neuerliche Befassung mit der Frage der inländischen Fluchtalternative rechtlich unerheblich. Denn weder befinden sich die Kläger in einem Flüchtlingslager in Inguschetien, noch halten sie sich in Tschetschenien auf, so dass sie dortigen - etwaigen - Säuberungsaktionen nicht ausgesetzt sind. Sie sind auch nicht gehalten, sich in Inguschetien oder Tschetschenien niederzulassen. Für die Annahme einer inländischen Fluchtalternative ist nicht erforderlich, dass Sicherheit im gesamten Staatsgebiet gefunden werden kann; ausreichend ist vielmehr deren Bestehen in einem erreichbaren Teil des Staatsgebietes. Davon ist hier aber auszugehen.
Im Rahmen dieses Zulassungsbeschlusses ist also lediglich die von den Klägern aufgeworfene Frage zu beantworten, ob die Reaktionen der Staatsgewalt auf die Geiselnahme durch Tschetschenen in dem Moskauer Musical-Theater die Annahme einer inländischen Fluchtalternative im gesamten Staatsgebiet der Russischen Föderation verbietet. Diese Frage verneint der Senat eindeutig.
Das Auswärtige Amt berichtet in seinem Ad hoc-Bericht vom 27. November 2002 lediglich von solchen Kontrollmaßnahmen gegenüber Tschetschenen, die asylerhebliches Gewicht nicht erreichen, mögen sie für die Betroffenen auch unangenehm sein. Wie die Geiselnahme durch Tschetschenen in Moskau zeigt, können die Kontrollmaßnahmen auch keineswegs dahin gewürdigt werden, sie stünden unter dem bloßen Vorwand der Terrorismusbekämpfung und seien in Wahrheit allein darauf gerichtet, tschetschenische Volkszugehörige in asylerheblichen Merkmalen zu treffen. Diese Annahme wird bestätigt dadurch, dass weitergehende Übergriffe nach Durchführung von Kontrollmaßnahmen allenfalls in Einzelfällen als asylrechtlich unbeachtliche sog. Amtswalterexzesse, nicht aber in einem für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen flächendeckenden Maßstab feststellbar sind.
Auch unter Berücksichtigung des neueren Ad hoc-Berichts des Auswärtigen Amtes bleibt der Senat bei seiner bisherigen Einschätzung, dass Tschetschenen - also auch die Kläger - sich im Staatsgebiet der Russischen Föderation niederlassen und dort ein - wenn auch bescheidenes - Auskommen finden können. Es ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Kläger dauerhaft mit Hunger, Verelendung und schließlich mit dem Tod bedroht wären. Auch in seiner bisherigen Spruchpraxis hat der Senat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass in Russland ohnehin mehr als 40 % der Menschen unter dem in Deutschland für notwendig erachteten Existenzminimum leben und ihr Überleben in verschiedener Art und Weise sicherstellen können. Dies gilt auch für die über 500.000 Tschetschenen, die ohne Anerkennung als Binnenflüchtlinge in den verschiedenen Teilen der Russischen Föderation leben.
Nach allem ist der Zulassungsantrag der Kläger abzulehnen.