Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 11.11.2020, Az.: 13 ME 400/20

Benfotiamin; Inverkehrbringen; Nahrungsergänzungsmittel

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
11.11.2020
Aktenzeichen
13 ME 400/20
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2020, 71974
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 01.10.2020 - AZ: 6 B 1249/20

Tenor:

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stade - 6. Kammer - vom 1. Oktober 2020 wird zurückgewiesen.

Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 50.000 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Die Antragstellerin begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Untersagung, Nahrungsergänzungsmittel mit Benfotiamin in Verkehr zu bringen.

Die Antragstellerin betreibt einen Großhandel mit vorwiegend Arznei- und Nahrungsergänzungsmitteln. Sie vertreibt unter anderem das Produkt „C.“, welches sie von einem österreichischen Hersteller bezieht.

Nach vorhergehendem Schriftwechsel untersagte der Antragsgegner der Antragstellerin mit Bescheid vom 3. Juli 2020, (1.) benfotiamin-haltige Lebensmittel im Geltungsbereich der Verordnung (EU) Nr. 2017/625 in Verkehr zu bringen, solange Benfotiamin nicht für die Verwendung in Nahrungsergänzungsmitteln zugelassen sei. Er drohte (2.) ein Zwangsmittel an und ordnete (3.) den Sofortvollzug an.

Hiergegen wendete sich die Antragstellerin mit Klage und Eilantrag auf Wiederherstellung (in Bezug auf 1.) bzw. Anordnung (in Bezug auf 2.) der aufschiebenden Wirkung.

Das Verwaltungsgericht hat den Eilantrag mit Beschluss vom 1. Oktober 2020 abgelehnt und zur Begründung ausgeführt, dass die Erfolgsaussichten der Klage zwar offen seien, eine deshalb vorzunehmende Interessenabwägung jedoch zu Lasten der Antragstellerin ausfalle, da die wirtschaftlichen Interessen der Antragstellerin gegenüber dem Gesundheitsschutz potenzieller Konsumenten zurücktrete.

Hiergegen hat die Antragstellerin Beschwerde erhoben. Sie sieht weder eine konkrete noch eine abstrakte Gesundheitsgefahr, die von benfotiamin-haltigen Nahrungsergänzungsmitteln ausgehen könnte. Darüber hinaus könnten die Erfolgsaussichten nicht als offen angesehen werden: Da ihr kein rechtsstaatliches Verfahren zur Verfügung stehe, um den Nachweis der Sicherheit von Benfotiamin zu führen und sodann den Stoff in Verkehr bringen zu dürfen, seien die einschlägigen lebensmittelrechtlichen Vorschriften grundrechtswidrig.

II.

Die Beschwerde bleibt ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat es im Ergebnis zu Recht abgelehnt, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Untersagungsverfügung wiederherzustellen (1.) und gegen die Zwangsgeldandrohung anzuordnen (2.).

1. Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung der Klage ganz oder teilweise wiederherstellen. Ist die sofortige Vollziehung von der Behörde den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO genügend angeordnet worden, so setzt die gerichtliche Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO über die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage eine Abwägung des Interesses des Antragstellers, von der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts bis zur endgültigen Entscheidung über seine Rechtmäßigkeit verschont zu bleiben, gegen das vorrangig öffentliche Interesse an dessen sofortiger Vollziehung voraus (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 16.3.2004 - 8 ME 164/03 -, NJW 2004, 1750 - juris Rn. 16 m.w.N.). Dem öffentlichen Vollzugsinteresse kann dabei überhaupt nur dann Vorrang eingeräumt werden, wenn der angefochtene Verwaltungsakt voraussichtlich auch im Hauptsacheverfahren Bestand haben, mithin sich als rechtmäßig erweisen wird. Darüber hinaus muss das von der Behörde geltend gemachte besondere, also über das allgemeine Interesse am Vollzug eines Verwaltungsaktes hinausgehende Vollzugsinteresse tatsächlich vorliegen. Schließlich sind in einer Folgenabwägung gegenüberzustellen die konkreten Nachteile für die gefährdeten Rechtsgüter bei einem Aufschub des Vollzugs, wenn sich die angefochtene Verfügung nachträglich als rechtmäßig erweist, den konkreten Folgen des Sofortvollzugs für den Antragsteller, wenn sich die angefochtene Verfügung nachträglich als rechtswidrig erweisen sollte (vgl. Senatsbeschl. v. 17.10.2018 - 13 ME 107/18 -, GewArch 2019, 45 - juris Rn. 9; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 964 ff. m.w.N.).

Nach diesen Maßstäben fällt die Abwägung zu Lasten der Antragstellerin aus. Die Verfügungen im Bescheid des Antragsgegners vom 3. Juli 2020 sind voraussichtlich rechtmäßig (a.). Ein besonderes Vollzugsinteresse ist tatsächlich gegeben (b.), und die bei einem Aufschub des Vollzugs eintretenden konkreten Nachteile für die gefährdeten Rechtsgüter überwiegen die die Antragstellerin treffenden Folgen der sofortigen Vollziehung (c.).

a) Die von dem Antragsgegner angeordnete Untersagung ist voraussichtlich rechtmäßig.

Die Ermächtigungsgrundlage für derartige Untersagungen findet sich in Art. 138 Abs. 1 Satz 1 Buchst. b) in Verbindung mit Abs. 2 Buchst. d) der Verordnung (EU) 2017/625 vom 15. März 2017 über amtliche Kontrollen und andere amtliche Tätigkeiten zur Gewährleistung der Anwendung des Lebens- und Futtermittelrechts und der Vorschriften über Tiergesundheit und Tierschutz, Pflanzengesundheit und Pflanzenschutzmittel, und daneben in § 39 Abs. 1 Satz 1 Alt. 4, Satz 2 Nr. 3 des Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuchs - LFGB - (zum Verhältnis dieser Vorschrift gegenüber Unionsrecht siehe Senatsbeschl. v. 12.12.2019 - 13 ME 320/19 -, juris Rn. 42ff.). Nach Art. 138 Abs. 1 Satz 1 Buchst. b), Abs. 2 Buchst. d) der Verordnung (EU) 2017/625 ergreifen die zuständigen Behörden, wenn ein Verstoß festgestellt wird, geeignete Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass der betreffende Unternehmer den Verstoß beendet und dass er erneute Verstöße dieser Art verhindert, was auch das Verbot des Inverkehrbringens von Waren umfassen kann. Nach § 39 Abs. 1 Satz 1 Alt. 4 LFGB treffen die zuständigen Behörden die notwendigen Anordnungen und Maßnahmen zur Einhaltung des LFGB, die zur Verhütung künftiger Verstöße erforderlich sind und können insbesondere das Inverkehrbringen von Erzeugnissen verbieten.

Das Inverkehrbringen von Nahrungsergänzungsmitteln mit Benfotiamin stellt einen Verstoß gegen § 13 Abs. 2 des LFGB dar. Nach dieser Vorschrift dürfen Lebensmittel nicht in den Verkehr gebracht werden, die entgegen einer nach § 13 Abs. 1 LFGB erlassenen Rechtsverordnung hergestellt sind. Eine derartige Rechtsverordnung ist die Nahrungsergänzungsmittelverordnung - NemV -, die in § 3 Abs. 1 festlegt, dass nur die in Anhang I der Richtlinie 2002/46/EG aufgeführten Nährstoffe im Sinne des § 1 Abs. 2 NemV in den in Anhang II der Richtlinie aufgeführten Formen verwendet werden dürfen.

Benfotiamin ist nicht im Anhang I oder II der Richtlinie 2002/46/EG aufgeführt, obwohl es ein Nährstoff im Sinne des § 1 Abs. 2 NemV ist. Nährstoffe sind gemäß § 1 Abs. 2 NemV Vitamine und Mineralstoffe. In unionskonformer Auslegung sind auch Verbindungen von Vitaminen und Mineralstoffen umfasst (Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, NemV, § 1 Rn. 19, Stand: Juli 2018). Benfotiamin gehört zu der Wirkstoffklasse der Provitamine, stellt eine fettlösliche Vorstufe des Vitamins B1 dar und wird im Organismus schnell zum wirksamen Vitamin B1 gespalten. (vgl. Prüfbericht des LAVES v. 9.1.2020, Bl. 4f. VV). Es ist damit eine Form des Vitamins B1. Gemäß Ziffer 5 des Anhangs II der Richtlinie 2002/46/EG sind nur Thiaminhydrochlorid und Thiaminmononitrat als Formen des Vitamins B1 zulässig. Ein Gutachten der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit befasste sich mit der Ergänzung des Anhangs II der Richtlinie um Benfotiamine (Scientific Opinion of the Panel on Food Additives and Nutrient Sources added to Food (ANS) on a request from the Commission on benfotiamine, thiamine monophosphate chloride and thiamine pyrophosphate chloride, as sources of vitamin B1. The EFSA Journal (2008) 864, 1-31) und kam zu einem negativen Ergebnis.

Somit ist derzeit die Verwendung von Benfotiamin als Nährstoff in Nahrungsergänzungsmitteln unzulässig, unabhängig von der Frage, ob Benfotiamin als Nährstoff sicher und bioverfügbar ist und es entsprechende Gutachten des Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte gibt.

Der von der Antragstellerin vorgebrachte Einwand, ihr stünde kein Weg offen, die Zulassung von Benfotiamin als Nährstoff in Nahrungsergänzungsmitteln zu erhalten, trifft nicht gänzlich zu. Ein Verfahren zur Ergänzung der Anlage I der Richtlinie 2002/46/EG ist in dem dortigen Art. 4 Abs. 5 vorgesehen. Ungeachtet der individuellen Einflussmöglichkeiten der Antragstellerin auf dieses Verfahren sieht der Senat bei der im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nur gebotenen summarischen Prüfung - anders als das Verwaltungsgericht - keinen Anlass, an der Vereinbarkeit dieses Regelungsgefüges mit den Grundrechten der Antragstellerin aus Art. 2 oder Art. 12 GG zu zweifeln. Die nationalen Vorschriften stellen die Umsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben dar, die andernfalls unmittelbar zur Anwendung kämen. So haben die Mitgliedstaaten gemäß Art. 3, Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2002/46/EG dafür zu sorgen, dass Nahrungsergänzungsmittel nur dann in den Verkehr gebracht werden dürfen, wenn sie den Vorschriften der Richtlinie entsprechen, d.h. nur die in Anlage I enthaltenen Vitamine und Mineralstoffe für die Herstellung verwendet wurden. Dass dieser europäische Rahmen wegen Unvereinbarkeit mit Grundrechten nicht anwendbar sein soll, ist nicht erkennbar.

b) Es besteht auch tatsächlich ein besonderes Interesse am sofortigen Vollzug der Unterlassungsverfügung.

Der Antragsgegner hat zu Recht darauf verwiesen, dass es zur Gewährleistung des Verbraucherschutzes unabdingbar ist, mit sofortiger Wirkung zu unterbinden, dass die Antragstellerin weiterhin ein mit einem nicht zugelassenen Nährstoff versehenes Nahrungsergänzungsmittel in Verkehr bringt. Dass diese Interessen am sofortigen Vollzug mit den öffentlichen Interessen am Erlass und der Durchsetzung der Verfügung als solcher übereinstimmen, steht der Annahme eines besonderen Vollzugsinteresses nicht entgegen. Die Sicherstellung dient der Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und ist auf den Schutz wichtiger Gemeinwohlbelange gerichtet. Das öffentliche Interesse an einer effektiven Gefahrenabwehr begründet für sich ein hinreichendes besonderes Interesse an einer sofortigen Vollziehung (vgl. Senatsbeschl. v. 12.12.2019 - 13 ME 320/19 -, juris Rn. 59 m.w.N.).

c) Die bei einem Aufschub des Vollzugs eintretenden konkreten Nachteile für die gefährdeten Rechtsgüter überwiegen auch die die Antragstellerin treffenden Folgen der sofortigen Vollziehung.

Bei einem Aufschub des Vollzugs bis zur Entscheidung in der Hauptsache dürfte die Antragstellerin das Nahrungsergänzungsmittel weiter vertreiben. Die hiermit verbundenen Verstöße gegen das Lebensmittelrecht und Beeinträchtigungen der Lebensmittelsicherheit würden irreparabel realisiert. Der Verbraucherschutz potenzieller Konsumenten wäre gefährdet, und zwar unabhängig vom Vorliegen abstrakter oder konkreter Gesundheitsgefahren beim Konsum der streitgegenständlichen Nahrungsergänzungsmittel.

Diesen erheblichen konkreten Nachteilen auch für überragend wichtige Rechtsgüter stehen schwerwiegende Folgen für die Antragstellerin bei einer sofortigen Vollziehung nicht gegenüber. Zwar besteht die Gefahr, dass sie durch die Untersagung des Inverkehrbringens einen wirtschaftlichen Schaden erleidet. Diese nachteilige Folge weist aber ein überschaubares und daher im konkreten Fall hinzunehmendes Ausmaß auf, zumal von ihr als Unternehmerin auf dem Gebiet der Nahrungsergänzungsmittel erwartet werden kann, die Einhaltung der zulässigen Nährstoffformen nach Anhang II der Richtlinie 2002/46/EG vorab zu prüfen.

2. Soweit das Verwaltungsgericht auch die nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO begehrte Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die im Bescheid enthaltene, gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, § 70 Abs. 1 NVwVG, § 64 Abs. 4 Nds. SOG sofort vollziehbare Zwangsgeldandrohung abgelehnt hat, ist dies nach den obigen Ausführungen nicht zu beanstanden. Insoweit fehlt es zudem an einer hinreichend substantiierten Beschwerdebegründung.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Festsetzung des Streitwertes für das Beschwerdeverfahren beruht auf §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG und Nrn. 25.2 und 1.5 Satz 1 Halbsatz 1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NordÖR 2014, 11).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).