Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 05.07.2011, Az.: 1 LA 207/08
Beginn und Bemessung des "längeren Zeitraums"des Untätigbleibenmüssens eines Nachbars zur Verwirkung seiner materiellen Abwehrrechte; Erkenntis über eine möglicherweise Nachbarrechte tangierende Baumaßnahme und Weiterbauen des Bauherrn im Vertrauen auf eine Nichtergeifung der nachbarlichen Abwehrrechte
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 05.07.2011
- Aktenzeichen
- 1 LA 207/08
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2011, 20685
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2011:0705.1LA207.08.0A
Rechtsgrundlagen
Fundstellen
- BauR 2012, 542
- BauR 2012, 239-241
- DVBl 2011, 1113
- IBR 2012, 111
- NJW-Spezial 2011, 654
- NVwZ-RR 2011, 807-809
- NZBau 2012, 100
- NdsVBl 2011, 318-320
- RÜ 2011, 665-669
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Zum Beginn und zur Bemessung des "längeren Zeitraums", den der Nachbar untätig bleiben muss, dass Verwirkung seiner materiellen Abwehrrechte in Betracht kommt.
- 2.
Die Erkenntnis, seine Baumaßnahme tangiere möglicherweise Nachbarrechte, hindert gerade nicht die Annahme, der Bauherr habe im Vertrauen darauf weitergebaut, der Nachbar werde seine Abwehrrechte nicht mehr wahrnehmen.
Gründe
Die Klägerin erstrebt die Aufhebung der Baugenehmigung vom 13. Januar 2003, mit der die Beklagte dem Beigeladenen die Errichtung von Anbauten an ein bestehendes Gebäude und die Anlegung einer Rampe im Grenzbereich beider Grundstücke genehmigt hatte, unter der der Beigeladene mehrere Lagerräume unterbringen wollte. Die Beteiligten streiten im Zulassungsverfahren insbesondere darum, ob das Verwaltungsgericht die materiellen Abwehrbefugnisse der Klägerin gegen eine Abstandsrechtsverletzung sowie wegen behaupteter Verletzung einer Baulast durch Überbauung von Entsorgungsleitungen zu Recht als verwirkt angesehen hat.
Das (gewerblich genutzte) Baugrundstück (Flurstück ../9., Flur 2 der Gemarkung E.; festgesetztes Gewerbegebiet) liegt an der Südseite der F. -Straße, das Wohngrundstück der Klägerin (Flurstück ../.. derselben Flur; Mischgebiet) grenzt unmittelbar südlich an und liegt an der Nordseite der im Aktivrubrum genannten, ebenfalls west-östlich verlaufenden Straße. Das Gelände fällt von Nord nach Süd ab.
Zu Lasten des Flurstücks ../. (Baugrundstück) ist seit dem Jahre 1976 folgende Baulast eingetragen (Bl. 73 BA A):
"Der jeweilige Grundstückseigentümer gestattet dem jeweiligen Erbbauberechtigten des Flurstücks ../.. der Flur ., Gemarkung E., Versorgungsleitungen jeder Art aus dem Flurstück ../. zu nutzen bzw. diese auf dem Flurstück legen zu lassen und, soweit erforderlich, zu unterhalten."
Die Beklagte erteilte mit Bauschein vom 19. Juni 2000 (wohl einem Herrn G.) die hier allenfalls als Ausgangspunkt von Arbeiten interessierende Genehmigung, südlich des gewerblich genutzten Komplexes, der sich etwa zur Hälfte auf das östliche Nachbarflurstück ../.. erstreckt, 10 Stellplätze anzulegen, 3 davon mit Abstand zur Klägerin in der südwestlichen Grundstücksecke, die anderen östlich davon im Anschluss an die Südwand der gewerblich genutzten Halle. Der Beigeladene kaufte das Grundstück im Jahre 2001 und erhielt Besitz daran, zum 1. Januar 2002 wurde er Eigentümer des Grundstücks. Er begann im Herbst 2001 mit Bauarbeiten und änderte dabei die Nutzungsabsichten. Unter dem 17. Mai 2002 stellte er den Antrag, ihm die Genehmigung für das streitauslösende Vorhaben zu erteilen. Danach sollten (im Wesentlichen) an die Südwestecke des Gebäudes sowie an seiner Ostseite (soweit es auf dem Grundstück des Beigeladenen steht) unterkellerte Anbauten angefügt werden. Im unteren Teil des an die Südwestecke anzufügenden Teils sollten insbesondere Kfz-Einstellplätze untergebracht werden. Der Erdgeschossteil sollte Bürozwecken dienen. Die Zufahrt zu den Einstellplätzen soll an der Westgrenze des Baugrundstücks entlang geführt und nach einer 90 -Kurve über eine nach Osten abfallende, unmittelbar an der gemeinsamen Grundstücksgrenze entlang führenden Rampe zu einer abgegrabenen Fläche leiten, von der aus die Einstellplätze erreicht werden. Unter dieser Rampe sollen - parallel zur gemeinsamen Grundstücksgrenze - mehrere Lagerräume angelegt werden.
Mit Schreiben vom 23. Dezember 2002 (Bl. 62 f. BA A) mahnte der Beigeladene die Baugenehmigung an. Er habe - unter den Augen und mit Wissen der Beklagten - mit den Bauarbeiten begonnen. Er müsse nunmehr erfahren, dass es "doch der Unterschrift der Nachbarn" bedürfe; dieses Problem habe er als Laie gleich bei der ersten Anfrage angesprochen gehabt.
Mit Bauschein vom 13. Januar 2003 (BNl. 65 f. BA A; eingeschrieben abgesandt am 14. Januar 2003) erteilte die Beklagte die Baugenehmigung.
Am 15. Juli 2003 (Bl. 75 ff. BA A) meldete sich die Klägerin mit Anwaltsschreiben und erhob für den Fall ihrer Erteilung gegen die Baugenehmigung dieser Baumaßnahme Widerspruch. Diesen wies die Beklagte durch Bescheid vom 16. März 2005 zurück.
Die mit dem Ziel der Aufhebung beider Bescheide erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht nach Durchführung einer Ortsbesichtigung mit der angegriffenen Entscheidung, auf deren Einzelheiten Bezug genommen wird, und im Wesentlichen folgender Begründung abgewiesen:
§ 46 Abs. 1 Satz 2 NBauO sei nicht verletzt; weder Zahl noch Anordnung und Zufahrt der Einstellplätze seien der Klägerin nicht zuzumuten. Denn das Grundstück der Klägerin sei als Mischgebiet überplant und daher verstärkt zur Hinnahme von Lärm verpflichtet; außerdem sei die Mehrzahl der Einstellplätze mit der Folge der Lärmminderung in Garagen untergebracht. Es sei zwar nicht ausgeschlossen, dass die Baugenehmigung Abstandsvorschriften verletze, weil die unter der Rampe und direkt an der Grundstücksgrenze liegenden Lagerräume nicht insgesamt unter der natürlichen Geländeoberfläche lägen. Insoweit habe die Klägerin aber ihre materiellen Abwehrbefugnisse verwirkt. Nach dem Akteninhalt, namentlich nach den in der mündlichen Verhandlung im Original vorgelegten Fotos (vgl. Abzüge Bl. 222 ff. GA; Anlage zum Beigeladenenschriftsatz vom 9.1.2007) habe der Beigeladene schon im Herbst 2002 mit der Verwirklichung der Maßnahme begonnen gehabt. Nach dem Baufortschritt hätte die Klägerin spätestens im November 2002 erkennen können, dass im Grenzbereich Mauern errichtet worden seien, welche über die natürliche Geländeoberfläche ragten. Sie habe das trotz des grenzständig stehenden Bewuchses zumindest von den Fenstern im Obergeschoss ihres Wohnhauses erkennen können. Frühestens im Mai 2003 habe sie sich telefonisch, schriftlich sogar erst im Juli 2003 an die Beklagte gewandt. Damit habe der Beigeladene das Vorhaben im Vertrauen darauf verwirklicht, die Klägerin werde sich hiergegen nicht zur Wehr setzen. Die Baumaßnahme verletze nicht die Baulast. Es sei schon sehr erwägenswert anzunehmen, diese erfasse nur Versorgungs-, nicht aber Entsorgungsleitungen, deren Überbau die Klägerin allein beklage. Jedenfalls sei auch dieser Abwehranspruch aus den genannten Gründen verwirkt.
Hiergegen richtet sich der auf § 124 Abs. 1 Nrn. 1, 4 und 5 VwGO gestützte Zulassungsantrag, dem die übrigen Beteiligten entgegentreten.
Der Antrag hat keinen Erfolg.
Ernstliche Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegen nicht erst vor, wenn der Erfolg des Rechtsmittels wahrscheinlicher ist als sein Misserfolg, sondern bereits dann, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden (BVerfG, Beschl. v. 8.12.2009 - 2 BvR 758/07 -, NVwZ 2010, 634 = DVBl. 2010, 308).
Das ist der Klägerin nicht gelungen.
Ernstliche Zweifel sind nicht schon aus dem Umstand herzuleiten, dass das Verwaltungsgericht - möglicherweise - seine Meinung während des Verfahrens geändert hat. Es mag sein, dass die Einzelrichterin als Vorsitzende des seinerzeit noch als Kammer agierenden Verwaltungsgerichts eine andere Einschätzung geäußert hatte. Selbst wenn das der Fall wäre, wäre dies im Hinblick auf § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO irrelevant. Einem Veraltungsgericht ist es nicht verwehrt, sich im Verlaufe eines Verfahrens anders zu besinnen und zu einer anderen, als richtiger eingeschätzten Auffassung zu gelangen. Für § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO kommt es auf das dann gefundene Ergebnis an.
Es ist zu unterscheiden zwischen der formellen Befugnis, gegen eine erteilte Baugenehmigung Rechtsbehelfe einzulegen, und dem materiellen Abwehrrecht. Das formelle Recht, einen Rechtsbehelf einzulegen, kann erst zu einem Zeitpunkt verwirkt werden, der nach der Erteilung des nunmehr angegriffenen Bauscheins liegt. Anders verhält es sich aber mit dem materiellen Recht, ein Vorhaben abwehren zu können. Dieses Recht kann auch durch ein Verhalten verwirkt werden, das (ganz oder zum Teil) zeitlich vor der Erteilung einer Baugenehmigung liegt. Insoweit gelten die Grundsätze, welche der Senat in seinem Beschluss vom 11. März 2005 (- 1 LA 62/04 -, Vnb) folgendermaßen zusammengefasst hat:
"Es ist anerkannten Rechts, dass nicht nur formelle, sondern auch materielle Rechtspositionen verwirkt werden können. Dazu müssen im Falle materieller Nachbarrechte die folgenden Voraussetzungen erfüllt sein: Der Nachbar muss sich gegenüber Baumaßnahmen des Bauherrn eine bestimmte Zeit untätig verhalten und darf seine Interessen nicht durch unmissverständliche Erklärungen gegenüber dem Bauherrn, möglicherweise auch gegenüber der Bauaufsichtsbehörde gewahrt haben. Dieses Verhalten muss beim Bauherrn das schützenswerte Vertrauen hervorgerufen haben, der Nachbar werde auch in Zukunft keine Einwendungen gegen diese Nutzung geltend machen. Dieses Vertrauen muss er betätigt haben (vgl. zum Vorstehenden unter anderem BVerwG, B. v. 18.3.1999 - 4 B 50.88 -, NVwZ 1988, 730 = BRS 48 Nr. 179; Urt. v. 16.5.1991 - 4 C 4.89 -, NVwZ 1991, 1182 = BRS 52 Nr. 218; OVG Lüneburg, Urt. v. 26.3.1987 - 1 A 82/85 -, BRS 47 Nr. 184 sowie Urt. v. 14.11.1997 - 6 L 1309/96 -, AgrarR 1999, 103; OVG Münster, Urt. v. 2.3.1999 - 10 A 2343/97 -, BauR 2000, 381 = BRS 62 Nr. 194). Sind diese Voraussetzungen erfüllt, ist der Nachbar zwar nicht formell gehindert, gegen die bauaufsichtsbehördliche Genehmigung der nunmehr abgelehnten Nutzung Rechtsbehelfe einzulegen - dieses Recht entsteht ja erst mit der Erteilung des Bauscheins und kann dementsprechend nicht durch ein zuvor an den Tag gelegtes Verhalten verwirkt worden sein -, wohl aber aus materiellen Gründen gehindert, die nunmehr genehmigte Nutzung erfolgreich abzuwehren."
Der 9. Senat des Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht hat es in seinem unveröffentlichten Beschluss vom 20. November 2006 - 9 ME 225/06 - wie folgt ausgedrückt/zusammengefasst:
"Der Senat lässt offen, ob dem Verwaltungsgericht in der Einschätzung gefolgt werden kann, die Antragsteller suchten zu spät um Gewährung vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutzes nach. Durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 25.1.1974 - IV C 2.72 - BVerwGE 44, 294 = Buchholz 406.11 § 31 BBauG Nr. 9 = DÖV 1974, 385 = BRS 28 Nr. 133 = BauR 1974, 401; Beschl. v. 28.8.1987 - 4 N 3.86 - BVerwGE 78, 85 = DVBl 1987, 1276 = NVwZ 1988, 348 = BauR 1987, 661 = BRS 47 Nr. 185 = DÖV 1988,32; Urt. v. 16.5.1991 - 4 C 4.89 - NVwZ 1991, 1182 = BauR 1991, 597 = BRS 52 Nr. 218 = UPR 1991, 345 = Buchholz 404.19 Nachbarschutz Nr. 102) ist allerdings geklärt, dass das materielle Abwehrrecht des Nachbarn gegen ein Bauvorhaben - außer durch Fristablauf entsprechend den sich aus§§ 58, 70 VwGO ergebenden Grundsätzen - auch durch Verwirkung verloren gehen kann. Das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis verpflichtet den Nachbarn, durch zumutbares aktives Handeln mitzuwirken, einen wirtschaftlichen Schaden des Bauherrn zu vermeiden oder den Vermögensverlust möglichst gering zu halten. Dieser Verpflichtung muss der Nachbar dadurch nachkommen, dass er nach Erkennen der Beeinträchtigung durch Baumaßnahmen "ungesäumt" seine nachbarlichen Einwendungen geltend macht, wenn ihm nicht der Grundsatz von Treu und Glauben entgegen gehalten werden soll, weil er ohne zureichenden Grund mit seinen Einwendungen länger als notwendig zugewartet hat. Die Dauer des Zeitraums der Untätigkeit des Nachbarn, von der an im Hinblick auf die Gebote von Treu und Glauben von einer Verwirkung des materiellen Abwehrrechts die Rede sein kann, hängt entscheidend von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab und lässt sich nicht allgemein bestimmen. Der Mindestzeitraum für eine Verwirkung des Abwehrrechts muss sich aber deutlich abheben von der regulären Monatsfrist für die Einlegung des Widerspruchs nach §§ 70, 58 Abs. 1 VwGO, weil diese dem Nachbarn selbst bei ordnungsgemäßer Zustellung der Baugenehmigung mit Rechtsmittelbelehrung zustehen würde. Eine Verwirkung des materiellen Abwehrrechts kommt deshalb nur in Betracht, wenn der Nachbar deutlich länger als einen Monat untätig geblieben ist, nachdem er die Baugenehmigung kannte oder hätte kennen können (BVerwG, Urt. v. 16.5.1991, a.a.O.)."
Die Klägerin hat ihrer sich aus dem "nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis", letztlich also in § 242 BGB ergebenden Pflicht, gegen die nunmehr abgelehnte Baumaßnahme des Beigeladenen unmissverständlich zu protestieren, nicht rechtzeitig genügt. Der Zeitraum, den sie, ohne Verwirkung befürchten zu müssen, dabei verstreichen lassen kann, ist zwar deutlich länger als die Rechtsbehelfsfrist, welche ihr bei Bekanntgabe des Bauscheins nur zustünde. Uneingeschränkt lang ist sie indes nicht. Dabei streiten zwei Prinzipien miteinander. Einerseits hat ein Nachbar keinen Anlass, sozusagen beständig "misstrauisch" zu sein, d.h. befürchten zu müssen, der Bauherr werde unter Verletzung nachbarschützenden öffentlichen Baurechts bauen bzw. die Bauaufsichtsbehörde Bauscheine erteilen, welche das tun. Daher muss der Nachbar nicht jedwede Bautätigkeit zum Anlass nehmen, sich bei der Bauaufsichtsbehörde verlässliche Kenntnis über die Bauabsichten zu verschaffen. Das gilt auch dann, wenn im Bereich des Bauwichs Erdarbeiten vorgenommen werden. Denn Abstand halten müssen nach § 7 Abs. 1 NBauO Gebäude nur mit den Punkten ihrer Außenflächen, die oberhalb der Geländeoberfläche liegen. Daher kann grundsätzlich bis an die gemeinsame Grundstücksgrenze heran abgegraben werden, ohne dass der Nachbar zwingenden Anlass hätte, sich bei der Bauaufsichtsbehörde über den Umfang der Bauabsichten verlässlich zu versichern. Andererseits darf der Nachbar auch nicht unendlich zuwarten, wenn dieses Bauwerk über die natürliche Geländeoberfläche (§ 16 NBauO) zu ragen beginnt/droht. Je weiter die Baumaßnahmen und Nutzungen fortschreiten und sich sowohl absehen lässt, deren Durchführung fordere erhebliche finanzielle Aufwendungen, welche bei einer Geltendmachung nachbarlicher Abwehrrechte frustriert würden (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 16.5.1991 - 4 C 4.89 -, BRS 52 Nr. 218), als auch, dass Nachbarrechte damit doch bedroht seien, desto eher muss sich der Nachbar an die Bauaufsichtsbehörde (oder den Bauherrn) wenden. Auch wenn der Nachbar - wie ausgeführt - Erdarbeiten im Bereich des Bauwichs nicht von Beginn an zum Anlass für Nachfragen nehmen muss, hat ihre Durchführung einen gewissen "Vorwarneffekt". Das genannte Gemeinschaftsverhältnis verbietet es ihm, sich gegenüber solchen Bauarbeiten taub zu stellen, d.h. gleichsam mit verschränkten Armen ohne jede Vorbereitung abzuwarten und erst dann mit Überlegungen zur Wahrung der eigenen Interessen zu beginnen, wenn die Verletzung von Nachbarrechten sozusagen mit Händen zu greifen ist.
Eine danach vorgenommene Würdigung ergibt, dass die weitaus besseren Gründe für die vom Verwaltungsgericht gefundene Annahme sprechen, die Klägerin habe ihr materielles Abwehrrecht "längst" verwirkt gehabt, als sie sich mit dem Widerspruch gegen die Baugenehmigung der Beklagten vom 13. Januar 2003 gewandt hatte. Für eine mögliche Abstandsrechtsverletzung gilt:
Ohne Erfolg sucht die Klägerin geltend zu machen, sie habe wegen des Bewuchses im Grenzbereich von den Bauarbeiten des Beigeladenen nicht richtig Notiz nehmen können. Die vom Beigeladenen als Anlage zum Schriftsatz vom 9. Januar 2007 vorgelegten Fotografien (Bl. 222 ff. GA, hier s. insbesondere Fotos ab Nummer 47) sprechen dagegen. Gegen deren Verwendung und Darstellung hat die Klägerin - namentlich im Hinblick auf§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO - keine durchgreifenden Zulassungsangriffe vorzubringen vermocht. Ihr Einwand, sie habe deren Verwendung im Verfahren des ersten Rechtszuges widersprochen, ist verfahrensrechtlich unbeachtlich. Es ist einem Beteiligten nicht verwehrt, Lichtbilder vorzulegen, die er von seinem Grundstück angefertigt hat. Der Einwand, der Beigeladene habe dies "verspätet" getan, greift verfahrensrechtlich ebenfalls nicht durch. Das Verwaltungsgericht hatte keine Frist mit der Maßgabe gesetzt, nach ihrem Verstreichen vorgelegte Verteidigungsmittel nicht mehr zu beachten. Selbst wenn, wäre die Vorlage so rechtzeitig gewesen, dass ihre Beachtung die Erledigung des Rechtsstreits nicht verzögert haben würde. Es war die Klägerin selbst gewesen, welche vom Verwaltungsgericht unter dem 16. Juli 2007 (Bl. 266 GA) die Aufforderung erhalten hatte, das Verfahren zu betreiben. Gegen die Verwendung der Fotografien spricht nicht, dass der Beigeladene die zeitliche Abfolge anders geschildert hatte. Keinem Beteiligten ist es von vornherein verwehrt, seinen Vortrag zu ändern, solange die Tatsacheninstanz nicht abgeschlossen ist oder Verfahrensrecht neues Vorbringen ausschließt. Es ist allenfalls eine Frage der Würdigung, ob das dann Glauben verdient. Wird der neue Vortrag durch Lichtbilder untermauert und deren Entstehungszeit - wie hier den Ausführungen auf Seite 10 u.a. zufolge in der mündlichen Verhandlung vom 3. September 2008 durch Vorlage der mit Datumseintragungen versehenen Originalfotografien geschehen -, war es nunmehr Sache der Klägerin, das zu entkräften. Dies ist in der Antragsbegründungsschrift vom 10. November 2008 nicht gelungen.
Eine danach sogar veranlasste Betrachtung der Fotografien ergibt:
Der Grenzbereich, um den es hier geht, ist - wie das Verwaltungsgericht zutreffend annimmt - zumindest vom Obergeschoss des klägerischen Hauses sogar optisch wahrzunehmen (vgl. u.a . Foto Nr. 65, Bl. 223 GA). Unabhängig davon muss die Klägerin diese Arbeiten vor allem akustisch bemerkt haben. Die Abgrabung selbst hat eine Tiefe, die nur mit maschineller Hilfe erreicht werden kann (vgl. Maschinen auf den Fotos 47 und 48, Bl. 236 GA). Schon die Herstellung der darauf ersichtlichen Bodenplatte (Drahtgeflecht) geht zwangsläufig mit Geräuschen einher, welche auf dem klägerischen Grundstück wahrgenommen worden und der Klägerin daher Anlass hätten sein müssen, zumindest einmal einen Blick durch die Grenzkoniferen zu werfen. Zumindest die Tätigkeit des zum Guss erforderlichen Betonmischers kann akustisch schlicht nicht verborgen geblieben sein. Das geschah im Sommer 2002. Einen Rückzug auf die Position, der Grenzbewuchs erschwere den Einblick ganz erheblich, daher habe kein Anlass für Erkundigungen bestanden, lassen die Grundsätze des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses nicht zu. Der Nachbar darf sich nicht taub stellen, ohne dass dies Rechtsnachteile nach sich zieht.
Die Fotografien 73 (Bl. 237 GA) und 74/75 (Bl. 238 GA) sowie Nrn. 29, 30, 33 und 3435, 36 und 77 (Bl. 240 und 242 GA) alle mit Stand November 2002 zeigen, dass unmittelbar an der gemeinsamen Grundstücksgrenze eine Mauer entstanden war, welche sogar noch den Holzgeflechtzaun überragte, welchen (offenbar) die Klägerin zwischen Koniferen und Grundstücksgrenze hatte aufstellen lassen. Spätestens jetzt hatte die Klägerin zwingenden Anlass, sich "unverzüglich" um das Baugeschehen auf dem Grundstück des Beigeladenen zu kümmern. Das hat sie im Sinne der zitierten Grundsätze "längere Zeit" nicht getan. Frühester Zeitpunkt ist das Telefonat, welches der damalige Lebensgefährte der Klägerin im Mai 2003 geführt haben soll; das Widerspruchsschreiben stammt vom 15. Juli 2003 (Bl. 75 BA A). Damit war die Klägerin "längere Zeit untätig" geblieben. Die Vorbereitungsmaßnahmen waren, wie dargelegt, lange Zeit zuvor schon wahrzunehmen, namentlich zu hören gewesen. Angesichts der Geschwindigkeit, mit der Wände hochgezogen und Decken gegossen werden können, durfte sich die Klägerin (zwar deutlich mehr Zeit lassen, als ihr bei förmlicher Bekanntgabe der Baugenehmigung vom 13. Januar 2003 für die Erhebung des Widerspruchs von Gesetzes wegen eingeräumt gewesen wären, jedoch) nicht sechs Monate (November 2003 bis Mai 2003) verstreichen lassen. Das überschreitet deutlich den Zeitraum, der noch mit dem Ausdruck "ungesäumt" (BVerwG BRS 52 Nr. 218, S. 539 Mitte; [...] Rn. 28) zu vereinbaren ist. Denn das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis verpflichtet die Klägerin, auf die wirtschaftlichen Belange des Beigeladenen Bedacht zu nehmen.
Es liegen auch die "besonderen Umstände" vor, die zur längeren Untätigkeit hinzutreten müssen, um die Annahme der Treuwidrigkeit zu rechtfertigen. Insbesondere war aufgrund dieser längeren Untätigkeit beim Beigeladenen - füglich - der Eindruck entstanden, die Klägerin werde sich gegen seine Baumaßnahme nicht mehr zur Wehr setzen. Das dadurch begründete Vertrauen hat er auch betätigt. All das folgt - anders als die Klägerin meint - insbesondere aus seinem Schreiben vom 23. Dezember 2002 (Bl. 62 f. BA A). Denn in diesem Schreiben gab der Beigeladene gerade seiner Sorge Ausdruck, die Baumaßnahme möchte - anders als die ihn Beratenden ihm dies bislang suggeriert hätten, er als Laie indes geahnt habe - Nachbarrechte der Klägerin doch tangieren (der Umstand, dass auf Seite 1 unten dieses Schreibens von "Nachbarn" die Rede ist, dürfte ein Tippfehler sein <fehlendes "i">: auf S. 2 des Schreibens ist die Rede von "einem späteren Vergleich mit der Nachbarin"; damit kann nur die Klägerin gemeint sein). Das heißt indes nichts anderes als: Dem Beigeladenen war bewusst, seine Maßnahme tangiere möglicherweise öffentlichrechtlich geschützte Interessen der Klägerin. Damit konnte er das mindestens bis zum Mai 2003 anhaltende Schweigen der Klägerin nur so deuten, diese habe sich mit der deutlich fortschreitenden Baumaßnahme abgefunden; anderenfalls hätte sie sich ja längst schon gerührt.
Das daraufhin begründete Vertrauen hat der Beigeladene entgegen der Annahme der Klägerin durch Bautätigkeiten betätigt, deren Rückgängigmachung erheblichen finanziellen Schaden bedeuten würde. Neuerlich ist auf die Bilderdokumentation zu verweisen, welche der Beigeladene als Anlage zum Schriftsatz vom 9. Januar 2007 eingereicht hatte (Bl. 244 ff. GA). Sie zeigt, dass der Beigeladene in der Folgezeit nicht nur die Decke des Kellergeschosses zum südwestlichen Anbau durch Verdrahtung der Stahlmatten und Verschalungen und deren Ausgießung mit Flüssigbeton hatte herstellen lassen. Sie zeigen auch, dass die Kellerräume unter der Abfahrtsrampe sowie diese selbst peu à peu fertig gestellt wurden, ohne dass die Klägerin in dieser Zeit protestiert haben würde. März und April 2003 wurde das Erdgeschoss des südwestlichen Bauwürfels aufgemauert, dessen Decke auf gleiche Weise befestigt (gegossen) (Bl. 247 GA). All das sind Arbeiten, welche erhebliche finanzielle Mittel verschlingen, wegen des dabei entstehenden Lärms vom Nachbarn unbedingt bemerkt werden müssen und zudem nur mit erheblichem finanziellem Aufwand wieder rückgängig gemacht werden können.
Zweierlei kommt - die Annahme treuwidriger Forderung hinsichtlich der Abstandsrechtsverletzung selbständig tragend - hinzu.
Erstens:
Es reicht nicht aus, dass sich der Nachbar nur wegen irgendwelcher Verletzungen seiner Interessen an die Bauaufsichtsbehörde/seinen Nachbarn wendet. Erforderlich ist vielmehr, dass er dies wegen der Belange tut, deren Verletzung er jetzt rügt. Das hat die Klägerin in ihrem Widerspruchsschreiben vom 15. Juli 2003 nicht getan. Darin macht sie im Wesentlichen geltend: Der Beigeladenen überbaue rücksichtslos die Schmutzwasserleitung, auf deren Freihaltung sie aufgrund der Baulast Anspruch habe; er überschreite die im Bebauungsplan festgesetzten Grund- und Geschossflächen; die mit dem Vorhaben geschaffenen Stellplätze seien nach Lage und Anzahl zu ihren Lasten rücksichtslos, denn sie brächten unzumutbare Lärm- und Abgasimmissionen mit sich. Erst mit Schreiben vom 18. Juni 2004 (!) wird die Höhe der Rampe und damit die Abstandsrechtsfrage angesprochen. Richtig "auf den Punkt gebracht" wurde dieser Angriff sogar erst mit Schreiben vom 30. November 2004 (Bl. 100 BA A).
Zweitens:
Auf Seite 3 unten ihres an die Verfahrensbevollmächtigten der Klägerin gerichteten Schreibens vom 18. Januar 2005 (Bl. 105 BA A) führte die Beklagte aus, nach ihren Kenntnissen habe der Beigeladene auf ausdrücklichen Wunsch der Klägerin auf die eben erwähnte Stützmauer (Rampenabfahrt bzw. Rückwand der darunter errichteten Kellerräume) einen Zaun aus Holzsichtschutzelementen aufgerichtet. Die Klägerin ist dem in ihrem erstinstanzlich eingereichten Schriftsatz vom 19. Juni 2006 (Bl. 123 GA) lediglich folgendermaßen entgegen getreten: Die Behauptung der Beklagten sei wahrheitswidrig, sie (die Klägerin) habe Außenwände der Lagerräume (gemeint: unter der Rampe) "mit einem Sichtschutzzaun o. a." verkleidet. Vielmehr habe sie (im Schriftsatz irrig als "die Beklagte" bezeichnet) "dort keinerlei Verkleidungsmaßnahmen u.a. aufgeführt. Eine sogenannte Spanische Wand (Sichtschutzzaun aus Holzelementen) ist während der Bauphase von dem Beigeladenen selbst noch auf dessen Grundstück gebaut worden. Das ist allerdings nur auf einem kleinen östlichen Teilstück der gemeinsamen Grundstücksgrenze geschehen, das jenseits der hier streitgegenständlichen Lagerräume samt Fahrrampe liegt." Diese Ausführungen sprechen weit eher für die Richtigkeit der Darstellung der Beklagten, mit Einverständnis der Klägerin habe der Beigeladene auf der Grenzmauer einen Sichtschutzzaun aus Holzelementen errichtet. Dies konnte der Beigeladene nur als ausdrückliche Anerkennung seiner Baumaßnahme ansehen und begründet seinerseits selbständig tragend die Annahme der Treuwidrigkeit.
Aus den vorstehenden Ausführungen folgt zugleich, dass die Klägerin auch das - vermeintlich - aus der Baulast folgende Recht, (nicht nur Ver-, sondern auch) Entsorgungsleitungen nicht überbaut zu sehen, verwirkt hat. Denn diese wurden schon zu einem Zeitpunkt überbaut/verlegt (s. Fotos Bl. 232 u., 234 oben und unten, 235 unten GA), als (im November 2002) die Fundamente zwischen dem gewerblichen Hauptgebäude und der gemeinsamen Grundstücksgrenze verlegt wurden. Dementsprechend hätte sich die Klägerin seinerzeit noch eher wehren müssen. Das unterblieb unter Umständen, die beim Beigeladenen - sozusagen erst recht - den Eindruck den Eindruck erwecken mussten, die Klägerin werde sich dagegen nicht mehr zur Wehr setzen.
Es kommt daher nicht mehr darauf an, ob die Baulast - was Zweifeln unterliegt - der Klägerin wirklich den Anspruch vermittelt, Entsorgungsleitungen nicht nur zu nutzen, sondern sogar zu verlangen, dass diese in der bei Bestellung existierenden Weise auch dann erhalten werden, wenn auf dem Beigeladenengrundstück - was durch die Baulast voraussichtlich nicht vollständig ausgeschlossen sein sollte - Bauarbeiten durchgeführt werden sollen. Allenfalls Anpassungspflichten würden den Beigeladenen dann getroffen haben. Diesen scheint er genügt zu haben.
Die Divergenzrüge (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) greift nicht durch. Die Entscheidung des OVG Münster vom 2. März 1999 (- 10 A 2343/97 -, BauR 2000, 381 = NWVBl. 2000, 128 = BRS 62 Nr. 194) ist irrelevant; denn "das Oberverwaltungsgericht" im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO ist nur das, welchem das Verwaltungsgericht instanziell zugeordnet ist.
Der Hinweis auf die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Mai 1991 (- 4 C 4.89 -, UPR 1991, 345 = BauR 1991, 597 = BayVBl. 1991, 726 = NVwZ 1991, 1182 = BRS 52 Nr. 218) geht ebenfalls fehl. Das Verwaltungsgericht stellt in seiner Entscheidung keinen Rechtssatz auf, der in Widerspruch zu dieser Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Mai 1991 steht. Der vom Verwaltungsgericht auf Seite 8 u.a. zitierte Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 18.3.1988 (- 4 B 50.88 -, NVwZ 1988, 730) wird in Randnummer 18 der von der Klägerin zitierten Entscheidung vom Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich angeführt. Die unzutreffende Subsumtion unter einen höchstrichterlich entwickelten, vom Verwaltungsgericht nicht bestrittenen Ober-/Rechtssatz stellt keine Abweichung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO dar.
Weitere Ausführungen zum Zulassungsantrag sind nicht veranlasst.