Landgericht Hannover
Urt. v. 15.07.2003, Az.: 17 O 338/02

Bibliographie

Gericht
LG Hannover
Datum
15.07.2003
Aktenzeichen
17 O 338/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 39507
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LGHANNO:2003:0715.17O338.02.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
OLG Celle - 02.12.2003 - AZ: 16 U 116/03
BGH - 04.11.2004 - AZ: III ZR 361/03
BVerfG - 27.12.2005 - AZ: 1 BvR 1359/05

Fundstelle

  • StV 2003, 568-569 (Volltext mit red. LS)

In dem Rechtsstreit

wegen Schmerzensgeld

hat die 17. Zivilkammer des Landgerichts Hannover auf die mündliche Verhandlung vom 24.06.2003 durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht ..., die Richterin am Landgericht ... und ...

für Recht erkannt:

Tenor:

  1. Das beklagte Land wird verurteilt, an den Kläger 200,- Euro nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit 20.03.2003 zu zahlen. Im übrigen wird die Klage abgewiesen.

    Das beklagte Land trägt die Kosten des Rechtsstreits.

    Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das beklagte Land kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, falls nicht vor der Vollstreckung der Kläger Sicherheit in Höhe von 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

    Die Berufung wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§511 Abs. 4 Nr. 1 ZPO).

Tatbestand

1

Der Kläger verbüßte eine Freiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt Amberg. Am 03.07.2002 wurde er zu einer Besuchszusammenführung von der JVA Amberg in die JVA Bielefeld-Brackwede 1 verlegt. Vom 10.07. bis 12.07.2002 befand er sich als sogenannter Durchgangsgefangener in der Transportabteilung der JVA Hannover. Hier war er in einem 16 qm großen Haftraum zusammen mit vier weiteren Gefangenen untergebracht. Es handelt sich um den Haftraum 4115, einen Gemeinschaftshaftraum, der in der Normalbelegung mit drei Gefangenen, in der Notbelegung mit bis zu fünf Gefangenen belegt wurde. Der Raum war mit einem Etagenbett, drei Einzelbetten, fünf Stühlen, zwei Tischen und zwei Spinden ausgestattet. Ein Waschbecken und ein Klosett waren mit einem Sichtschutz abgetrennt. Ein Radiogerät war nicht vorhanden. Die Gefangenen durften den Haftraum täglich für eine Stunde zum Hof gang verlassen.

2

Der Kläger hat mit Schreiben vom 11.07.2002, beim Landgericht Hannover eingegangen am 15.07.2002, die Feststellung der Rechtswidrigkeit dieser Maßnahme beantragt. Die Strafvollstreckungskammer des Landgericht Hannover hat mit Beschluss vom 16.09.2002 - 73 StVK 48/02 - die Rechtswidrigkeit der Unterbringung des Klägers festgestellt. In der Begründung wird ausgeführt, dass die gemeinsame Unterbringung von fünf Gefangenen in einem nachts verschlossenen, 16 qm großen Haftraum bei Abtrennung der Toilette nur mit einem Sichtschutz unzulässig sei und gegen das Gebot menschenwürdiger Unterbringung verstoße.

3

Der Kläger hält wegen des Verstoßes gegen seine Menschenwürde ein Schmerzensgeld von 200,- Euro für angemessen.

4

Der Kläger beantragt,

das beklagte Land zu verurteilen, an ihn ein vom Gericht nach billigem Ermessen zu bestimmendes Schmerzensgeld in Höhe von nicht unter 200,- Euro nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 23.09.2002 zu zahlen.

5

Das beklagte Land beantragt,

die Klage abzuweisen.

6

Es verweist auf die Überbelegung der JVA Hannover, die in dem streitgegenständlichen Zeitraum eine Mehrfachbelegung sowohl der Einzelhafträume als auch der Gemeinschaftshafträume notwendig ... gemacht habe. ... Die Belegungssituation der Transporträume sei nur schwer kalkulierbar, auch hätte die vom Kläger beantragte Besuchszusammenführung artgesichts der Überbelegung anderenfalls abgelehnt werden müssen.

7

Es behauptet, der Kläger habe die Beeinträchtigungen in Kauf genommen und bewusst keinen Antrag auf Einzelunterbringung gestellt, um die von ihm beantragte Besuchszusammenführung nicht zu gefährden. Es ist der Ansicht, dass der Kläger angesichts der nur kurzen Unterbringung nicht schwerwiegend in seinem Persönlichkeitsrecht verletzt worden sei, so dass er keinen Anspruch auf Schmerzensgeld habe.

8

Die Akten des Landgerichts Hannover - 73 StVK 48/02 - wurden beigezogen und waren Gegenstand dieses Verfahrens.

Entscheidungsgründe

9

Die zulässige Klage ist im wesentlichen - bis auf einen Teil der Zinsforderung - begründet.

10

1) Der Kläger hat einen Anspruch auf Schmerzensgeld wegen Amtspflichtverletzung gem. §§ 839 Abs. 1, i.V.m. Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 und 34 GG und §§ 18 Abs. 1 S. 1, 144 Abs. 1 StVollzG.

11

a) Die zeitweilige Unterbringung des Klägers zusammen mit weiteren vier Gefangenen in einem Gemeinschaftsraum mit einer Grundfläche von 16 qm und bei Abtrennung der Toilette nur durch einen Sichtschutz war rechtswidrig und verletzte den Kläger in seinem Persönlichkeitsrecht und in seinem Anspruch auf menschenwürdige Unterbringung aus Art. 1 GG. Insoweit wird auf die Feststellungen der Vollstreckungskammer des Landgerichts Hannover - Beschluss vom 16.09.2002, 73 StVK 48/02 - Bezug genommen, denen sich die Kammer in vollem Umfang anschließt. Zwar ist im geschlossenen Vollzug eine gemeinschaftliche Unterbringung während der Ruhezeiten gem. §18 Abs. 2 S. 2 StVollzG vorübergehend und aus zwingenden Gründen zulässig. Eine solche muss aber in dafür geeigneten und zumutbaren Räumen, die den Anforderungen des §144 Abs. 1 StVollzG genügen, erfolgen. Hierbei geht die Kammer in Übereinstimmung mit dem BVerfG (Beschluss vom 27.02.02 - 2 BvR 553/01-) und der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hannover davon aus, dass dem Ermessen der Justizvollzugsbehörden bei der Belegung und Ausgestaltung der Hafträume durch das Recht der Gefangenen auf Achtung ihrer Menschenwürde Grenzen gesetzt sind. Soweit §146 Abs. 2 StVollzG vorübergehende Ausnahmen von dem Verbot der Überbelegung von Hafträumen zulässt, rechtfertigt diese Vorschrift keinen Verstoß gegen das Gebot menschenwürdiger Unterbringung. Der Haftraum 4115 erfüllte diese Voraussetzungen nicht, da er lediglich eine durch einen Sichtschutz abgetrennte Toilette hatte. In einem mit mehreren Insassen belegten Haftraum muss entweder eine vollständig abgetrennte Nasszelle mit eigener Lüftung zur Verfügung stehen oder die Benutzung außerhalb gelegener Wasch- und WC-Anlagen muss tags und nachts möglich sein. Eine nur durch einen Sichtschutz abgeschirmte Toilette in einem mit mehreren Gefangenen belegten Haftraum verstößt gegen das Gebot menschenwürdiger Behandlung (Callies, Müller-Drietz StVollzG, 8. Aufl. 2000. §144 Rn. 1; OLG Frankfurt/Main SW 1986, 27; Schwind-Böhm StVollzG 1983, §144 Rn. 2; Huchting/Schumann, Alternativkommentar zum StVollzG 3. Aufl. 1990, §144 Rn. 4 und 10).

12

b) Die Amtspflichtverletzung erfolgte schuldhaft, da die Anforderungen des § 144 Abs. 1 StVollzG und die Rechtsprechung zum Gebot der menschenwürdigen Unterbringung von Strafgefangenen fahrlässig nicht beachtet worden sind. Bei Beachtung der erforderlichen Sorgfalt hätte erkannt werden müssen, dass der Haftraum 4115 im Falle einer - auch nur vorübergehenden - Belegung mit mehreren Gefangenenmangels abgetrennter Nasszelleden Anforderungen an eine menschenwürdige Unterbringung nicht genügte. Auch die Schwierigkeiten bei der Unterbringung von Gefangenen, mit denen das beklagte Land im Hinblick auf die Anzahl der Strafgefangenen und die nur beschränkte Anzahl vorhandener Haftplätze derzeit zu tun haben, berechtigen nicht dazu, die den Gefangenen zustehenden Rechte einzuschränken (OLG Celle, NStZ 1999, 216 [OLG Celle 05.11.1998 - 1 Ws 200/98]).

13

Spätestens seit der Verkündung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 27.02.2002 musste dem beklagten Land bekannt gewesen sein, dass das Ermessen der Justizvollzugsanstalt hinsichtlich der Ausgestaltung und Belegung von Hafträumen begrenzt war durch die Achtung der Menschenwürde der Gefangenen (so aber bereits OLG Frankfurt/Main StrV 1986, 27; OLG Hamm NJW 1967, 2024). Das beklagte Land hätte nach Bekanntwerden des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts nicht nur Sofortmaßnahmen prüfen müssen, sondern schon vor der Fertigstellung der geplanten Neubauten der Justizvollzugsanstalten Sehnde und Rosdorf geeignete Maßnahmen wie die Eröffnung der Benutzung von Sanitäranlagen außerhalb der Hafträume in die Tat umsetzen müssen.

14

c) Nach der Rechtsprechung des BGH kann ein Amtshaftungsanspruch nach Art. 34 GG. §839 BGB auch die Zahlung einer Entschädigung in Geld für nichtvermögensrechtliche Schäden zum Inhalt haben, wenn das Persönlichkeitsrecht in schwerer Weise schuldhaft verletzt worden ist und die erlittene Beeinträchtigung sich nicht in anderer Weise befriedigend ausgleichen lässt (st. Rspr. seit BGH Urteil vom 23.09.1976, III ZR 121/74). Die Unterbringung des Klägers gemeinsam mit 4 weiteren Gefangenen in einer 16 qm großen Gemeinschaftszelle ohne räumlich abgetrennte Nasszelle verletzte den Kläger in seinem Persönlichkeitsrecht und seinem Anspruch auf Achtung seiner Menschenwürde. Die Verletzung der Menschenwürde ist für sich genommen ein schwerwiegender Eingriff in das Persönlichkeitsrecht und rechtfertigt einen Schmerzensgeldanspruch, da die erlittenen Beeinträchtigungen nicht anders als durch eine Geldentschädigung ausgeglichen werden können.

15

Die Kammer verkennt nicht, dass die Unterbringung des Klägers auch in seinem Interesse erfolgte, um ihm die von ihm beantragte Besuchszusammenführung zu ermöglichen. Dieses rechtfertigt jedoch nicht eine Belegung von Hafträumen, die ihrer Ausstattung nach nicht den Grundsätzen an eine menschenwürdige Unterbringung genügen (OLG Frankfurt/Main StV 1986, 27, 28).

16

d) Die Präventivfunktion des Schmerzensgeldanspruchs ist entgegen der Ansicht des beklagten Landes nicht dadurch erledigt, dass der Kläger bereits durch den Beschluss, der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hannover Recht bekommen hat. Auch wenn der Anlass der Unterbringung die in seinem Interesse liegende Besuchszusammenführung war und er nach der Behauptung des beklagten Landes keinen Antrag auf Einzelunterbringung gestellt hat, ist ein Schmerzensgeld erforderlich. Denn die 2-tägige Verletzung der Menschenwürde, die von dem beklagten Land von Amts wegen zu beachten ist, kann nicht sanktionslos bleiben.

17

e) Ein Schmerzensgeldanspruch wäre auch nicht gem. §839 Abs. 3 bzw. §254 BGB ausgeschlossen, wenn der Kläger möglicherweise keinen Antrag auf Einzelunterbringung gestellt hätte. Ob der Kläger einen solchen Antrag gestellt hat, kann dahingestellt bleiben, da ihm ein mögliches Unterlassen nicht als Verschulden anzurechnen wäre. Es fehlt am Verschulden, wenn die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels so gering oder zweifelhaft sind, dass dem Kläger dessen Gebrauch nicht zuzumuten ist (BGH Urteil vom 20.02.2003 - III ZR 224/01 -). Angesichts der von der JVA Hannover dargestellten Überbelegung sowohl der Einzel- als auch der Gemeinschaftshafträume war es dem Kläger nicht zuzumuten, ein offensichtlich erfolgloses Gesuch auf Einzelunterbringung zu stellen. Im übrigen muss die Achtung der Menschenwürde eines Häftlings vom beklagten Land von Amts wegen beachtet werden.

18

f) Die Höhe des Schmerzensgeldes erscheint angesichts der zwei Tage andauernden Unterbringung des Klägers in dem hinsichtlich Ausstattung und Größe nicht den Anförderungen an eine menschenwürdige Unterbringung entsprechenden Gemeinschaftshaftraum angemessen, aber auch ausreichend, um die erlittenen Beeinträchtigungen auszugleichen.

19

2) Die Entscheidung über die Zinsen beruht auf §§286, 288 BGB. Soweit der Kläger darüber hinausgehende Verzugszinsen geltend macht, war die Klage teilweise abzuweisen, da eine Mahnung nicht erfolgt ist. Die Zustellung des Beschlusses des Landgerichts Hannover vom 16.09.2002 begründete keinen Verzug im Hinblick auf die Forderung von Schmerzensgeld, da dieses erstmals mit Klageerhebung geltend gemacht wurde.

20

3) Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 92 Abs. 2 Nr. 1, 708 Nr. 11, 711 ZPO.

21

4) Gemäß §511 Abs. 4 Nr. 1 ZPO war die Berufung auf Antrag des beklagten Landes wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.