Landgericht Hannover
Urt. v. 30.01.2003, Az.: 19 O 3202/99

Bibliographie

Gericht
LG Hannover
Datum
30.01.2003
Aktenzeichen
19 O 3202/99
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 39514
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LGHANNO:2003:0130.19O3202.99.0A

In dem Rechtsstreit

Klägers,

Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte

Gegen

1. ...

2. ...

Beklagte,

Prozessbevollmächtigter zu 1, 2: ... Rechtsanwalt

hat die 19. Zivilkammer des Landgerichts Hannover auf die mündliche Verhandlung vom 05.12.2002 durch den Vorsitzenden Richters am Landgericht und der Richterinnen am Landgericht

für Recht erkannt:

Tenor:

  1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld i. H. v. 178 952,16 € (= 350 000,00 DM) nebst 4 % Zinsen seit dem 27.05.2000 zu zahlen.

    Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger allen materiellen Schaden zu ersetzen, der diesem aus Anlass der fehlerhaften Behandlung bei seiner Geburt am 25.06.1997 in der gynäkologisch-geburtshilflichen Abteilung des ..., noch entstehen wird, soweit der Anspruch nicht auf einen Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen ist.

    Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Beklagten als Gesamtschuldner.

    Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung i. H. v. 110 % des aus diesem Urteil vollstreckbaren Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1

Der Kläger nimmt die Beklagten auf Zahlung von Schmerzensgeld und Feststellung ihrer Einstandspflicht für zukünftige materielle Schäden wegen angeblicher Fehler im Zusammenhang mit seiner Geburt am 25.06.1997 in Anspruch.

2

Der Kläger wurde am 25.06.1997 im Krankenhaus der Beklagten zu 1) geboren; im Verlauf der Geburt kam es zu einer Schulterdystokie. Er ist seit der Geburt schwerstgeschädigt und kann weder sprechen, sitzen, gehen, greifen oder seinen Kopf kontrollieren. Andere Mimik als Lächeln ist nicht möglich. Eine Besserung seines Zustandes ist nicht zu erwarten.

3

Die Mutter des Klägers, ..., war zum Zeitpunkt der Geburt 33 Jahre alt und hatte bereits 1994 ein 3.840 Gramm schweres Mädchen spontan geboren. Im Verlauf der Schwangerschaft nahm ..., die 1,65 m groß ist und vor der Schwangerschaft 60 kg wog, 22 kg zu. Errechneter Geburtstermin war der 15.06.1997. Am 23.06.1997 begab sich ... in das Krankenhaus der Beklagten, wo eine Ultraschalluntersuchung durchgeführt wurde. Anhand der Befunde ... - biparietaler Kopfdurchmesser 10,28 cm, frontooccipipaler Durchmesser 11,33 cm, Thorax anterior-posterior Durchmesser 12,57 cm, Thoraxumfang 35,06 cm und Femurlänge 8,64 cm - ... errechnete der Computer ein geschätztes Geburtsgewicht von 4.200 Gramm. Frau wurde stationär aufgenommen und für den 25.06.1997 die Einleitung der Geburt geplant. Dazu kam es jedoch nicht, weil ... am 25.06.1997 gegen 2.00 Uhr Wehen bekam. Um 08.50 Uhr wurde zur Unterstützung der Wehentätigkeit ein Wehentropf gesetzt. Ab 15.00 Uhr war außer der Hebamme noch die Beklagte zu 2) anwesend, die sich seinerzeit im 4. Weiterbildungsjahr befand und bereits etwa 450 Geburten selbstständig geleitet hatte. Ausweislich der Behandlungsdokumentation stellt sich der Geburtsverlauf in der hier interessierenden kritischen Phase wie folgt dar: Nach 2 Kristellerhilfen von der Beklagten zu 2) um 15.08 Uhr und 15.10 Uhr wurde der Kopf des Klägers um 15.12 geboren. Der Kopf war auf die Vulva gepreßt und wirkte gestaut. Die Hebamme versuchte die Schultern durch ein Senken des Kopfes bei hochgelagertem Steiß der Mutter zu entwickeln. Um 15.13 Uhr wurde Frau ... erneut zum Pressen angeleitet, die Beklagte zu 2) leistete Kristellerhilfe und die Hebamme versuchte den Kopf zu senken. Der anschließende Versuch, dass Kind zu drehen, blieb erfolglos. Um 15.14 Uhr leistete die Hebamme Kristellerhilfe während die Beklagte zu 2) versuchte, die Schultern zu entwickeln. Die Oberärztin und der Anästhesist wurden informiert. Danach wurde zweimal vergeblich versucht, die Schultern durch ein Überstrecken und anschließendes Anteflektieren der Beine von Frau ... zu entwickeln. Um 15.15 Uhr trafen die Oberärztin und der Anästhesist sowie eine weitere Ärztin ein. Man versuchte erneut, das Kind durch ein Überstrecken und anschließendes Anteflektieren der Beine von Frau ... zu entwickeln. 15.20 Uhr wurde der Kläger geboren. Das Geburtsgewicht betrug 5470 g und nicht wie geschätzt 4200 g. Der Kläger war leblos und wurde sofort künstlich beatmet. Nach 20 Minuten konnte er reanimiert werden; die Spontanatmung setzte nach einer Stunde ein. Nach 8 Tagen wurde er extubiert und nach 2 Monaten mit einer Nahrungssonde nach Hause entlassen, die nach 3 Monaten entfernt werden konnte. Es bestand und besteht eine Schwerstschädigung.

4

Der Kläger wirft den Beklagten im Zusammenhang mit seiner Geburt schwere Behandlungsfehler vor. Er behauptet, dass es sich bei der ultraschallgestützten Schätzung des Geburtsgewichtes mit 4.200 Gramm in Anbetracht des tatsächlichen Geburtsgewichts von 5.470 Gramm um eine vorwerfbare Fehleinschätzung gehandelt habe. Bei einer korrekten Schätzung hätte ein Kaiserschnitt durchgeführt werden müssen. In diesem Fall wäre er gesund geboren worden, weil die Behinderungen auf eine Sauerstoffunterversorgung während des Geburtsstillstandes zurückzuführen seien. Unabhängig von der Fehleinschätzung des Geburtsgewichtes hätte bereits in Anbetracht der Gewichtszunahme seiner Mutter um 22 kg, seines geschätzten Gewichts von 4.200 Gramm und der ersten Geburt eines großen Kindes ein Kaiserschnitt durchgeführt, jedenfalls aber - so meint der Kläger - über diese Entbindungsmöglichkeit aufgeklärt werden müssen. Seine Mutter hätte sich in diesem Fall - was die Beklagten nicht bestreiten - für eine Kaiserschnittentbindung entschieden.

5

Auch die Geburtsleitung selbst sei fehlerhaft gewesen. Nach der Geburt des Kopfes hätte man sofort eine Schulterdystokie diagnostizieren und weiteres Kristellern unterlassen müssen. Durch die beiden vergeblichen Kristellerversuche zwischen 15.12 Uhr und 15.14 Uhr habe sich der Geburtsvorgang um 2 Minuten verlängert, was die Behinderungen des Klägers, wenn auch nicht allein verursacht, so doch erheblich verstärkt habe.

6

Der Kläger beantragt,

1.

7

die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

8

2.

festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihm allen materiellen Schaden zu ersetzen, der ihm aus Anlass der fehlerhaften Behandlung bei seiner Geburt am 25.06.1997 in der gynäkologischgeburtshilflichen Abteilung ..., noch entstehen wird, soweit der Anspruch nicht auf einen Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen ist.

9

Die Beklagten beantragten,

10

die Klage abzuweisen.

11

Sie behaupten, die fehlerhafte Berechnung des Geburtsgewichtes sei weder auf einen Computerfehler noch auf eine fehlerhafte Bedienung zurückzuführen und deshalb den Beklagten nicht zu zurechnen. In Anbetracht der Risiken einer Kaiserschnittgeburt für die Mutter sei es richtig gewesen, eine Vaginalgeburt durchzuführen. Die Geburtsleitung sei korrekt gewesen. Die gesicherte Diagnose einer Schulterdystokie habe erst bestanden, nachdem trotz zweifachen Kristellerns nach dem Geburt des kindlichen Kopfes die Schultern nicht entwickelt werden konnten.

12

Erstmals in der mündlichen Verhandlung am 05.12.2002 haben die Beklagten behauptet, dass die dokumentierten Zeitangaben jedenfalls ab 15.12 Uhr nicht zuträfen. Es sei nur deshalb ein Minutenabstand dokumentiert worden, weil dies der üblichen Dokumentationsform entspräche. Tatsächlich seien zwischen dem Geburtsstillstand nach der Geburt des Kopfes und dem ersten Versuch, die Schultern des Kindes durch ein Überstrecken und Beugen der Beine der Mutter zu entwickeln, allenfalls 30 Sekunden vergangen. Dies hat der Kläger bereits in der mündlichen Verhandlung bestritten.

13

Das Gericht hat in dem Parallelverfahren ... (19 O 3297/00) Beweis erhoben gemäß Beweisbeschlüssen vom 05.10.2002 und 17.06.2002 durch Einholung von Sachverständigengutachten. Wegen des Ergebnisses der ... Beweisaufnahme wird auf die schriftlichen Gutachten von ... vom 16.10.2001 und von ... vom 16.05.2002 und 08.07.2002 sowie das Sitzungsprotokoll vom 05.12.2002 Bezug genommen. Die Parteien haben sich mit der Verwertung des Beweisergebnisses in diesem Verfahren einverstanden erklärt.

14

Wegen des Vortrages der Parteien im einzelnen und übrigen wird auf den vorgetragenen Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

Entscheidungsgründe

15

Die Klage ist begründet.

16

I.

Dem Kläger steht dem Grunde nach ein Schmerzensgeldanspruch aus §§ 847, 823 BGB gegen die Beklagten zu, weil vor und während seiner Geburt Fehler unterlaufen sind, deren Kausalität für die bei ihm vorhandenen Behinderungen in dem rechtlich erforderlichen Maß festgestellt werden kann. Auf der Grundlage des überzeugenden Sachverständigengutachtens von ... war die Geburtsleitung unter zwei Gesichtspunkten fehlerhaft: Zum einen war die Schätzung des Geburtsgewichts von 4200 Gramm falsch, wofür die allerdings nur die Beklagte zu 1) einzustehen hat (dazu unter 1.), zum anderen haben die Beklagte zu 2) und die Hebamme nach dem Stillstand der Geburt grob fehlerhaft Kristellerhilfe geleistet, wofür beide Beklagte haften (dazu unter 2.).

17

1. Das Schätzgewicht ist objektiv falsch berechnet worden, was der Beklagten zu 1) zuzurechnen ist (a) und zu einer mangelhaften Aufklärung über die Entbindungsmöglichkeiten geführt hat (b); bei der gebotenen Aufklärung über die Möglichkeit eines Kaiserschnitts hätten sich die Komplikationen vermeiden lassen (c).

18

a) Bei der Ultraschalluntersuchung am 23.06.1997 errechnete der Computer anhand der dokumentierten Befunde - biparietaler Kopfdurchmesser 10,28 cm, frontooccipipaler Durchmesser 11,33 cm, Thorax anterior-posterior Durchmesser 12,57 cm, Thoraxumfang 35,06 cm und Femurlänge 8,64 cm - ein geschätztes Geburtsgewicht von 4.200 Gramm. Das tatsächliche Geburtsgericht von des Klägers betrug allerdings 5.470 Gramm. Damit war die Bestimmung des Schätzgewichts objektiv falsch. Die Abweichung ist insbesondere nicht mit systemimmanenten Ungenauigkeiten sonographischer Gewichtsschätzungen, die gerade im oberen Bereich der Gewichtsskala auftreten (Bl. 13 des Gutachtens), zu erklären (Sitzungsprotokoll vom 05.12.2002).

19

Diese objektive Fehleinschätzung ist den behandelnden Ärzten und damit der Beklagten zu 1) subjektiv zuzurechnen. Treten bei der Benutzung eines technischen Gerätes objektiv Fehler auf, so ist es nicht Aufgabe des Patienten, den behandelnden Ärzten nachzuweisen, dass dies auf ein fehlerhaftes Verhalten ihrerseits - wie unzureichende Gerätewartung, falsche Eingabe oder falsches Ablesen - zurückzuführen ist. Vielmehr greift unter dem Gesichtspunkt, dass es sich bei der Nutzung technischer Geräte um einen von den Ärzten voll beherrschbaren Gefahrenbereich handelt, eine Verschuldensvermutung zu Lasten der Behandler ein, so dass sich diese entlasten müssen (BGH NJW 1978, 584 ff. [BGH 11.10.1977 - VI ZR 110/75]). Objektiv steht fest, dass die Ursache für die Fehlschätzung in dem Ultraschallgerät selbst oder in dessen Nutzung zu finden ist. Andere Möglichkeiten sind nicht denkbar. Außerdem hat der Sachverständige im Rahmen der Gutachtenerstattung anhand der Ultraschallbefunde, die Grundlage der Computerschätzung waren, und unter Zugrundelegung der Hansmann-Tabelle, nach der auch das Ultraschallgerät arbeitet, ein zu erwartendes Schätzgewicht von mehr als 4.500 Gramm errechnet. Insofern muß ein Geräte- oder Bedienungsfehler vorgelegen haben.

20

Der Beklagten zu 1) ist es nicht gelungen, die Verschuldensvermutung zu widerlegen. Der Sachverständige hat ausgeführt, man könne im Nachhinein nicht mehr feststellen, woran die Fehleinschätzung gelegen habe. Er könne zwar anhand der Unterlagen keine Fehler erkennen. Die Abweichung zwischen seinen Berechnungen und denen des Ultraschallgeräts könne er letztlich nicht erklären (Sitzungsprotokoll vom 05.12.2002). Die vom Sachverständigen festgestellte Unaufklärbarkeit der fehlerhaften Bestimmung des Schätzgewichts geht jedoch zu Lasten der Beklagten. Die beantragte Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens ist in Anbetracht der eindeutigen und auch plausiblen Feststellung von ..., dass sich die Ursache der Fehleinschätzung im Nachhinein nicht mehr klären lasse, nicht erforderlich.

21

b) Als Folge der fehlerhaften Bestimmung des Schätzgewichts haben die behandelnden Ärzte die gebotene Aufklärung von Frau ... über die Möglichkeit eines Kaiserschnitts unterlassen, weshalb sie nicht wirksam in die vaginale Entbindung eingewilligt hat. Der Sachverständige hat anhand der Ultraschallbefunde ein zu erwartendes Schätzgewicht von mehr als 4.500 Gramm errechnet (Bl. 11 des Gutachtens). Im Verhandlungstermin hat ... erläutert, dass nach der Fachliteratur bei einem Geburtsgewicht ab 4.500 Gramm die Wahrscheinlichkeit einer Schulterdystokie erheblich steige. Bei einem Schätzgewicht ab 4.500 Gramm müsse die Mutter deshalb über die Möglichkeit eines Kaiserschnitts zur Vermeidung einer Schulterdystokie aufgeklärt werden (Sitzungsprotokoll vom 05.12.2002, zum Teil nicht protokolliert). Dem schließt sich die Kammer aus rechtlicher Sicht an. Die Wahl der richtigen Behandlungsmethode ist zwar grundsätzlich Sache des Arztes. Er muss den Patienten allerdings dann über Behandlungsalternativen aufklären, wenn eine echte Alternative mit gleichwertigen Chancen, aber andersartigen Risiken besteht. So lag es hier. Wäre das Geburtsgewicht richtigerweise mit mehr als 4.500 Gramm geschätzt worden, so hätte sich unter diesen Aspekt entscheidend das gesteigerte Risiko einer Schulterdystokie ergeben. Zudem lagen weitere Risikofaktoren für die Entwicklung einer Schulterdystokie vor, nämlich die pathologische Gewichtszunahme in der Schwangerschaft von mehr als 22 kg, die Terminüberschreitung von 10 Tagen sowie der protrahierte Geburtsverlauf (Bl. 12 des Gutachtens). Insgesamt wäre danach die Kaiserschnittentbindung eine ernsthafte Alternative zu der vaginalen Geburt gewesen, bei der sich die Schulterdystokie, wenn auch nicht mit Sicherheit, so doch mit großer Wahrscheinlichkeit hätte vermeiden lassen. Auch in Anbetracht der Risiken des Kaiserschnitts für die Mutter hätte man ihr durch Aufklärung die Möglichkeit geben müssen, sich für die mit weitaus geringeren Risiken für das Kind verbundene Entbindungmethode des Kaiserschnitts zu entscheiden. Dies gilt insbesondere auch deshalb, weil Frau ... im Verhandlungstermin am 05.12.2002 - unbestritten - erklärt hat, bereits bei Aufnahme in das Krankenhaus der Beklagten zu 1) gefragt zu haben, ob eine Kaiserschnittgeburt in Betracht käme, weil bereits ihr Frauenarzt zu ihr gesagt habe, dass sie ein großes Kind erwarte.

22

Unstreitig ist Frau ... nicht über die Möglichkeit einer Kaiserschnittentbindung aufgeklärt worden. Sie hat bei ihrer Anhörung im Termin am 05.12.2002 glaubhaft und für die Kammer überzeugend geäußert, dass sie sich bei entsprechender Aufklärung im Interesse ihres Kindes für eine Schnittentbindung entschieden hätte.

23

c) Die bei der Geburt aufgetretene Schulterdystokie hat die Behinderungen des Klägers verursacht. Nach der Geburt des Kopfes trat um 15.12 Uhr eine Schulterdystokie auf, die erst 15.20 Uhr gelöst werden konnte. Durch die Schulterdystokie wurde die Nabelschnur eingeklemmt, was zu der Sauerstoffunterversorgung in diesem Zeitraum führte (so ... im Termin am 05.12.2002). Die Sauerstoffunterversorgung in der Zeit von 15.12 Uhr bis 15.20 Uhr hat zu den schweren Behinderungen geführt. Dies ergibt sich aus dem überzeugenden Gutachten von ... vom 16.05.2002. Auch die Beklagten behaupten im übrigen nicht, dass die Ursache für die Behinderungen bereits in einer Sauerstoffunterversorgung vor der Geburt zu sehen ist.

24

2.

Nach Auftreten der Schulterdystokie war die Geburtsleitung - vorübergehend - grob fehlerhaft, was die Behinderungen des Klägers zumindest mitverursacht hat.

25

a)

Ausweislich der Behandlungsunterlagen wurde der Kopf des Klägers um 15.12 Uhr geboren, war auf die Vulva gepresst und wirkte gestaut. Die Hebamme versuchte, die Schultern durch Senken des Kopfes bei hochgelagertem Steiß zu entwickeln. Anschließend leistete einmal die Beklagte zu 2) und einmal die Hebamme Kristellerhilfe, ... führt überzeugend aus, das die beiden Kristellerversuche fehlerhaft waren. Die Diagnose einer Schulterdystokie hätte gestellt werden müssen, nachdem der Kopf auf die Vulva gepresst und gestaut wirkte, und es nicht gelang, die Schultern durch ein Senken des Kopfes bei hochgelagertem Steiß der Mutter zu entwickeln. Wenn man Frau ... unter gleichzeitiger zweimaliger Kristellerhilfe weiter pressen ließ, so war dies fehlerhaft und darauf zurückzuführen, dass die Schulterdystokie nicht rechtzeitig erkannt wurde (Bl. 11 des Gutachtens). Diese Einschätzung des Sachverständigen stimmt mit den von der Beklagten in dem Verfahren 19 O 3297/00 vorgelegten Leitlinien Gynäkologie und Geburtshilfe (dort Bl. 240 ff. d. A.) überein. Danach ist die Diagnose einer Schulterdystokie zu stellen, wenn der geborene Kindskopf in den Vulva-Dammbereich zurückweicht und trotz vorsichtiger Traktion am Kopf nach kaudal und dorsal die anteriore Schulter nicht entwickelt werden kann. Als Hilfsmaßnahme ist das sogenannte McRoberts-Manöver, nämlich das mehrmalige Überstrecken und Beugen der Beine in Kombination mit suprasymphysärem Druck anzuwenden. Dies haben die Beklagte zu 2) und die Hebamme jedoch erst nach dem zweimaligen Kristellern durchgeführt.

26

Das verspätete Erkennen der Schulterdystokie und daraus folgend das zweimalige Kristellern nach der Geburt des Kopfes, auch nachdem die Schultern nicht durch ein Senken des Kopfes bei hochgelagertem Steiß der Mutter entwickelt werden konnten, wertet die Kammer als grob fehlerhaft. Ein grober Behandlungsfehler liegt vor, wenn ein Fehlverhalten aus objektiver ärztlicher Sicht nicht mehr verständlich und verantwortbar erscheint, weil es schlechterdings nicht unterlaufen darf (BGH NJW 1983, 2080, 2081 [BGH 10.05.1983 - VI ZR 270/81]). Dies kann etwa der Fall sein, wenn auf eindeutige Befunde nicht nach den gefestigten Regeln der ärztlichen Kunst reagiert wird. So lag es hier. ... hat zwar zunächst im Verhandlungstermin am 05.12.2002 ausgeführt, dass die Kristellerversuche nach dem Geburtststillstand für sich betrachtet nicht völlig unverständlich gewesen seien. Auf weitere Nachfrage hat er allerdings ausdrücklich erklärt, für ihn sei es unverständlich, dass man die Schulterdystokie nach der Geburt des Kopfes und nachdem die Schultern durch ein Senken des Kopfes nicht entwickelt werden konnten (im Sitzungsprotokoll heißt es insoweit lediglich "Maßnahme"), nicht erkannt habe. Unter diesem Gesichtspunkt war auch das zweifache Kristellern unverständlich. Die Beklagte selbst behauptet, dass man erst nach den erfolglosen Kristellerversuchen überhaupt die Schulterdystokie habe feststellen können. Genau dies trifft nach Ansicht des Sachverständigen jedoch nicht zu. Vielmehr ist es für ihn unverständlich, die Schulterdystokie nicht vorher erkannt zu haben. Auf diesen eindeutigen Befund hat man entgegen dem ärztlichen Standard, wie er auch in den Leitlinien Gynäkologie und Geburtshilfe festgelegt ist, nicht wie erforderlich sofort den McRoberts-Manöver, sondern zunächst mit zweimaliger Kristellerhilfe reagiert. Dies war grob fehlerhaft.

27

b)

Der grobe Behandlungsfehler in der Geburtsleitung ist für die Behinderungen von des Klägers kausal geworden. Nach der Rechtsprechung des BGH kommt dem Patienten bei einem groben Behandlungsfehler hinsichtlich des Kausalverlaufs eine Beweislastumkehr zu Lasten des behandelnden Arztes zugute, sofern der Fehler zur Herbeiführung des fraglich Gesundheitsschadens generell geeignet und der Kausalzusammenhang nicht gänzlich unwahrscheinlich ist, wobei eine Mitursächlichkeit ausreicht (BGH NJW 1997, 796 ff. [BGH 01.10.1996 - VI ZR 10/96]). Durch das fehlerhafte zweimalige Kristellern nach der Geburt des Kopfes ist es zu einer Verzögerung der Geburt gekommen, die nicht nur generell geeignet war, die Behinderungen mitzuverursachen, sondern diese sogar mit großer Wahrscheinlichkeit mitverursacht hat. Dies ergibt sich aus den überzeugenden Ausführungen von ... im Gutachten vom 16.05.2002 und im Verhandlungstermin am 05.12.2002, wonach jede Minute, um die der Geburtsvorgang bei einer Sauerstoffunterversorgung geeignet ist, das Behinderungsausmaß zu verringern. Dies gelte insbesondere hier, weil der Kläger in der Zeit zwischen 15.12 Uhr und 15.20 Uhr aufgrund der durch die Schulterdystokie abgeklemmten Nabelschnur nicht nur mit zu wenig Sauerstoff, sondern überhaupt nicht mehr mit Sauerstoff versorgt wurde (nicht protokolliert).

28

Ausgehend von der Behandlungsdokumentation hat sich der Geburtsvorgang wegen des fehlerhaften zweimaligen Kristellerns um etwa anderthalb Minuten verzögert. Nach der Dokumentation wurde der Kopf um 15.12 Uhr geboren. Es wurde versucht, durch Senken des Kopfes bei hochgelagertem Steiß der Mutter die Schultern zu entwickeln. Um 15.13 Uhr wurde ... erneut zum Pressen angeleitet. Die Beklagte zu 2) leistete Kristellerhilfe. Die Hebamme versuchte, den Kopf zu senken und anschließend das Kind zu drehen. Um 15.14 Uhr übernahm die Hebamme das Kristellern und die Beklagte zu 2) versuchte, die kindlichen Schultern zu entwickeln. Danach wurde das McRoberts-Manöver angewandt. Ausgehend von den dokumentierten Zeitangaben kommt ... im Gutachten vom 16.10.2001 zu dem Ergebnis, dass sich die Geburt durch das fehlerhafte zweimalige Kristellern zwischen 15.12 Uhr und 15.14 Uhr um 2 Minuten verzögert hat. Im Termin hat der Sachverständige diese zeitliche Berechnung allerdings insoweit relativiert, als es zulässig war, nach der Geburt des Kopfes zunächst die Schultern ohne Einleitung des McRoberts-Manövers zu entwickeln. Dafür seien etwa 15 bis 20 Sekunden einzurechnen (nicht protokolliert). Damit verringert sich die vorwertbare Geburtsverzögerung auf ca. anderthalb Minuten. Dieser Zeitraum reicht jedoch nach den Erläuterungen von ..., um eine Mitursächlichkeit der verzögerten Geburt für die Behinderungen mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen.

29

c) Die erstmals im Verhandlungstermin am 05.12.2002 aufgestellte Behauptung der Beklagten, die nachträglich angefertigte Geburtsdokumentation geben den Zeitablauf nicht richtig wieder, sondern die Abfolge sei nur deshalb in Minuten erfolgt, weil dies die übliche Dokumentationsform sei, tatsächlich seien nach der Geburt des Kopfes etwa um 15.12 Uhr lediglich Sekunden vergangen, bis man nach der Diagnose der Schulterdystokie das McRoberts-Manöver angewandt habe, ist gem. §296 Abs. 2 ZPO verspätet.

30

Der Kläger hat die entsprechenden Behauptungen der Beklagten bereits im Verhandlungstermin bestritten. Die Berücksichtigung des Sachvortrages würde zu einer Verzögerung des Rechtsstreits führen. Der neue Sachvortrag ist für die Entscheidung über das Vorliegen eines kausalen Behandlungsfehlers erheblich, weil eine Verzögerung der Geburt lediglich um Sekunden keine maßgebliche Bedeutung für den Umfang der Behinderungen des Klägers gehabt hätte (Gutachten von ... vom 08.07.2002). Das Gericht müsste deshalb den Sachverhalt durch Vernehmung der von der Beklagten im Schriftsatz vom 13.12.2002 angebotenen Zeugin ... und ggfs. auch durch Parteivernehmung der Beklagten zu 2.) den Sachverhalt klären. Diese Verzögerung konnte im Verhandlungstermin am 05.12.2002 nicht aufgefangen werden, weil weder die Beklagte zu 2.) noch die Zeugin ... anwesend waren und ein entsprechender Beweisantritt auch noch gar nicht vorlag. Der verspätete Sachvortrag ist auch auf grobe Nachlässigkeit der Beklagten zurückzuführen. Es ist für die Kammer völlig unverständlich, weshalb der Sachvortrag zum tatsächlichen Zeitablauf erstmals in der mündlichen Verhandlung am 05.12.2002 erfolgte. Bereits aufgrund des auf Antrag der Beklagten eingeholten Ergänzungsgutachtens von ... vom 08.07.2002 müsste der Beklagten die Bedeutung des Zeitablaufs zwischen dem Geburtsstillstand und der erstmaligen Anwendung des McRoberts-Manövers klar sein. Denn in dem Gutachten heißt es bereits, dass eine Verzögerung von 10, 15 oder 20 Sekunden für den Umfang der Behinderungen in Anbetracht der Gesamtdauer der Sauerstoffunterversorgung keine entscheidende Bedeutung gespielt haben dürfte. Dennoch geht die Beklagte in ihrer Stellungnahme auf das Gutachten vom 08.07.2002 im Schriftsatz vom 16.07.2002 (Bl. 233 ff. d. A.) selbst noch von dem Zeitablauf entsprechend der Behandlungsdokumentation aus.

31

II.

Das Gericht hält in Anbetracht der unstreitigen Behinderungen des Klägers ein Schmerzensgeld i. H. v. 350.000,00 DM für angemessen. Es bestehen seit der Geburt schwerste Hirnschäden mit der Folge, dass der Kläger nicht sprechen, sitzen, laufen, greifen oder seinen Kopf kontrollieren kann. Andere Gestik als ein Lächeln ist nicht möglich. Eine Besserung des Zustandes ist nicht zu erwarten. Insgesamt bietet damit der Kläger das Bild eines völlig hilfslosen Kindes, das auch als Erwachsener auf ständige intensive Pflege angewiesen sein wird. Die weitgehende Zerstörung der Persönlichkeit des Klägers rechtfertigt als materiellen Ausgleich jedenfalls ein Schmerzensgeld von 350.000,00 DM. Da die Folgen zwischen den Parteien unstreitig sind und in der Klage sowie in dem vom Kläger vorgelegten Bericht des ... vom 21.05.1999 (Bl. 19 ff d. A.) jedenfalls insoweit anschaulich dargelegt werden, als es als Grundlage für die Zuerkennung des beantragen Schmerzensgeldes erforderlich ist, musste über den Umfang der Behinderungen nicht weiter Beweis erhoben werden.

32

III.

Der Feststellungsantrag ist begründet. Insoweit ist es ausreichend, dass der geltend gemachte Anspruch mit hoher Wahrscheinlichkeit in irgendeiner Höhe besteht. Dies ist der Fall. Aufgrund der Behinderungen des Klägers fallen ständig weitere Kranken- und Pflegekosten an.

33

IV.

Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §91 Abs. 1 ZPO (Kosten) und 709 Satz 1 ZPO (vorläufige Vollstreckbarkeit).