Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 17.08.2020, Az.: 2 ME 301/20

Betreuungsbedürftigkeit; Gestattung; Grundschule; Nachmittagsbetreuung; pädagogische Gründe; Pflichtschule; Schulanfänger; Schulbezirk; Schulweg; unzumutbare Härte; Wunschschule

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
17.08.2020
Aktenzeichen
2 ME 301/20
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2020, 72043
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 09.07.2020 - AZ: 6 B 3296/20

Fundstelle

  • SchuR 2023, 174-175

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Zur Abgrenzung der Tatbestandsmerkmale der "unzumutbaren Härte" in § 63 Abs. 3 Satz 4 Nr. 1 NSchG und der "pädagogischen Gründe" im Sinne des § 63 Abs. Satz 4 Nr. 2 NSchG.

Tenor:

Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - Einzelrichter der 6. Kammer - vom 9. Juli 2020 wird zurückgewiesen.

Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstands wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Die Antragsteller begehren die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung zum Besuch einer außerhalb des Schulbezirks gelegenen Grundschule für ihre Tochter, die im Schuljahr 2020/2021 eingeschult wird.

Die Antragsteller beantragten im Oktober 2019 die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung zum Besuch der Grundschule D. in A-Stadt anstelle der dem Schulbezirk zugeordneten Grundschule A-Stadt-Mitte. Zur Begründung trugen sie vor, sie seien beide in Vollzeit berufstätig und es sei ihnen aufgrund ihrer Arbeitszeiten und der Entfernung zu ihren Arbeitsorten selbst bei Inanspruchnahme eines Hortplatzes bis 16.00 Uhr nicht möglich, ihre Tochter rechtzeitig von der Schule abzuholen. Im Bezirk der Wunschschule wohnten die Großeltern mütterlicherseits des Kindes, die die Nachmittagsbetreuung übernehmen könnten.

Die Antragsgegnerin lehnte den Antrag mit Bescheid vom 17. Januar 2020 ab und führte zur Begründung im Wesentlichen an, die Antragsteller hätten zwar nachgewiesen, dass sie ihre Tochter auch mit nachmittäglicher Betreuung im Hort nicht rechtzeitig von der Schule abholen könnten. Jedoch sei es den Großeltern des Kindes möglich, dieses ohne großen zeitlichen Aufwand mit öffentlichen Verkehrsmitteln von der Pflichtschule abzuholen. Zudem sei es der Tochter der Antragsteller nach vorheriger Einübung möglich und zumutbar, den Weg von der Grundschule zur Wohnung der Großeltern selbständig mit öffentlichen Verkehrsmitteln inklusive Umsteigen und Fußweg in einem Zeitraum von rund 30 Minuten zurückzulegen.

Die Antragsteller haben daraufhin Klage erhoben, über die noch nicht entschieden ist. Unter dem 16. Juni 2020 haben sie einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt, den das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 9. Juli 2020 abgelehnt hat. Dagegen richtet sich die Beschwerde der Antragsteller, der die Antragsgegnerin entgegentritt.

II.

Die zulässige Beschwerde bleibt ohne Erfolg. Die dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen keine Änderung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung. Das Verwaltungsgericht hat vielmehr zu Recht und mit zutreffender Begründung, auf die der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen gemäß § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO Bezug nimmt, entschieden, dass die Antragsteller die begehrte Ausnahmegenehmigung nicht beanspruchen können.

§ 63 Abs. 3 Satz 1 NSchG bestimmt, dass die Schülerinnen und Schüler im Fall der Festlegung von Schulbezirken grundsätzlich diejenige Schule der von ihnen gewählten Schulform zu besuchen haben, in deren Schulbezirk sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben. Der Besuch einer anderen Schule kann gemäß § 63 Abs. 3 Satz 4 NSchG gestattet werden, wenn der Besuch der zuständigen Schule für die betreffenden Schülerinnen oder Schüler oder deren Familien eine unzumutbare Härte darstellen würde (1.) oder der Besuch der anderen Schule aus pädagogischen Gründen geboten erscheint (2.). Diese Voraussetzungen liegen auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens nicht vor.

Der Senat geht im Folgenden mit dem Verwaltungsgericht davon aus, dass im vorliegenden Fall entgegen der Einschätzung der Antragsteller in ihrer Klage- und Antragsbegründung nicht ein Fall der Nr. 2, sondern ein solcher der Nr. 1 des § 63 Abs. 3 Satz 4 NSchG in Rede steht. Während pädagogische Gründe im Sinne der Nr. 2 dann gegeben sein können, wenn der Besuch einer anderen Schule pädagogisch als geboten erscheint, wobei insbesondere das besondere Profil der Schulen oder pädagogisch-psychologische Gründe in der Person der Schülerin oder des Schülers eine Rolle spielen können (vgl. hierzu Brockmann, in: Brockmann/Littmann/Schippmann, NSchG, § 63 Anm. 5.2.2 m.w.N.), werden die - von den Antragstellern allein geltend gemachte - Betreuungssituation außerhalb des Unterrichts und insbesondere die Entfernung zwischen Wohnort des Schülers oder der Schülerin und etwaigen Betreuungspersonen einerseits und der Pflicht- und Wunschschule andererseits unter den Begriff der unzumutbaren Härte im Sinne der Nr. 1 subsumiert (vgl. hierzu Brockmann, in: Brockmann/Littmann/Schippmann, NSchG, § 63 Anm. 5.2.1 m.w.N.).

Nach den vom Senat in ständiger Rechtsprechung angelegten und vom Verwaltungsgericht zutreffend wiedergegebenen Entscheidungsmaßstäben verlangt die Darlegung einer unzumutbaren Härte im Sinne des § 63 Abs. 3 Satz 4 Nr. 1 NSchG mehr als das Anführen sachlicher Gründe oder den Hinweis auf reine Unbequemlichkeiten, die sich mit dem Besuch der zuständigen, sich aus der Schulbezirksfestsetzung ergebenden Schule ergeben könnten. Eine solche Härte ist auch mit Blick auf die von den Antragstellern in ihrer Beschwerdebegründung angeführte Bedeutung der sich aus Art. 6 Abs. 1 GG ergebenden Vereinbarkeit von Beruf und Familie erst dann anzunehmen, wenn die Nachteile, die eine Schülerin oder ein Schüler bei dem Besuch der zuständigen Pflichtschule zu erleiden hätte, ungleich schwerer wiegen als das öffentliche Interesse an einer Beibehaltung der Schulbezirkseinteilung und der damit verbundenen sinnvollen Verteilung der Schülerinnen und Schüler auf die von einem Schulträger angebotenen Schulen. Die Annahme einer unzumutbaren Härte muss sich aus der besonderen Situation des Einzelfalls ergeben, der es schließlich rechtfertigt, dem sich hierauf berufenden Schüler und/oder seinen Erziehungsberechtigten im Verhältnis zu dem öffentlichen Interesse an der Beachtung der Schulbezirkseinteilung ausnahmsweise eine Sonderstellung einzuräumen (vgl. Senatsbeschl. v. 20.7.2020 - 2 ME 288/20 -, juris Rn. 7 m.w.N.).

Die Antragsteller berufen sich in diesem Zusammenhang auf die - unstreitig vorliegende - nachmittägliche Betreuungsbedürftigkeit ihrer Tochter, die sie selbst aufgrund ihrer Berufstätigkeiten nicht leisten können. Der Senat geht aber auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens mit dem Verwaltungsgericht davon aus, dass eine Fremdbetreuung der Tochter der Antragsteller durch die Großeltern auch bei Besuch der Pflichtschule in zumutbarer Weise gewährleistet ist. Das Verwaltungsgericht hat entscheidungserheblich darauf abgestellt, dass die Tochter der Antragsteller den 2,2 km langen Weg von der Pflichtschule in zumutbarer Weise zwar nicht fußläufig, aber mittels öffentlicher Verkehrsmittel bewältigen kann. In der Rechtsprechung des Senats ist geklärt, dass es auch Schulanfängern wie der Tochter der Antragsteller grundsätzlich zumutbar ist, den Schulweg nach einer gewissen Einübungszeit ohne Begleitung Dritter zurückzulegen (Senatsbeschl. v. 20.7.2020 - 2 ME 288/20 -, juris). Das Beschwerdevorbringen der Antragsteller rechtfertigt keine andere Entscheidung.

Soweit die Antragsteller in ihrer Beschwerdebegründung wie bereits in erster Instanz darauf hinweisen, dass sie abweichend von der überwältigenden Mehrzahl der Fälle beide nicht in der Lage seien, ihre Tochter rechtzeitig von der Schule abzuholen und hieraus einen atypischen Umstand herleiten, übersehen sie, dass das Verwaltungsgericht diesen Umstand seiner Prüfung zugunsten der Antragsteller zugrunde gelegt und entscheidungserheblich darauf abgestellt hat, eine Fremdbetreuung durch die Großeltern sei möglich und zumutbar. Entgegen dem Beschwerdevorbringen der Antragsteller ist der von ihrer Tochter am Nachmittag zurückzulegende Weg von der Pflichtschule zu ihren Großeltern nicht unzumutbar.

Zum einen besteht aus Sicht des Senats die Möglichkeit, dass die Großeltern und insbesondere die Großmutter ihre Enkelin am Nachmittag durch Inanspruchnahme öffentlicher Verkehrsmittel von der Pflichtschule abholen, zumal diese trotz der Corona-Pandemie und der damit verbundenen Risiken für ältere Menschen zur zeitweisen Betreuung bereit sind. Die erstinstanzlich lediglich in pauschaler Weise vorgetragenen gesundheitlichen Beschwerden der Großeltern stehen dem nicht entgegen. Zum anderen haben die Antragsteller die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, ihre Tochter könne den Weg von der Pflichtschule zur Wohnung ihrer Großeltern angesichts der bestehenden Busverbindungen auch eigenständig und ohne Begleitung eines Erwachsenen in zumutbarer Weise bewältigen, mit ihrem Beschwerdevorbringen nicht erfolgreich infrage gestellt. Soweit die Antragsteller einwenden, die von dem Verwaltungsgericht angeführte (erste) Busverbindung von der Pflichtschule zur Haltestelle „A-Stadt-Mitte Schulzentrum“ bis zur (Umstiegs-)Haltestelle „…“ mit anschließendem Bus bis zur Haltestelle „….“ sei für ihre Tochter zu kompliziert, weil an der Umstiegshaltestelle etliche Buslinien mit dreistelligen Busnummern abfahren würden und ihre Tochter noch keine Zahlen und insbesondere keine dreistelligen Zahlen lesen könne, zumal ein Einstieg in den Bus zurzeit nur durch die hinteren Türen möglich und der Bereich zum Busfahrer abgesperrt sei, sodass eine Kontaktaufnahme mit dem Busfahrer nicht möglich sei, übersehen sie, dass ihre Tochter neben dieser Verbindung auch die von dem Verwaltungsgericht angeführte (zweite) Busverbindung von der Haltestelle „A-Stadt-Mitte Schulzentrum“ bis zur Haltestelle „A-Stadt“ ohne Umsteigenotwendigkeit nehmen kann. Der Senat geht mit dem Verwaltungsgericht davon aus, dass die Tochter der Antragsteller ungeachtet ihrer zurzeit noch bestehenden Rechen- und Leseschwierigkeiten jedenfalls den richtigen Bus mit der dreistelligen Nummer nach Einübung optisch sicher identifizieren kann. Die von den Antragstellern auch in ihrer Beschwerdebegründung hervorgehobene derzeitige besondere Beförderungssituation im öffentlichen Personennahverkehr mit dem aus ihrer Sicht damit verbundenen Ansteckungsrisiko und einer angesichts der „Vermummung“ der Busfahrgäste erschwerten Kontaktaufnahme durch ihre noch unsichere Tochter rechtfertigen nicht die Annahme einer besonderen Atypik. Dieser (zweite) Weg ist zwar nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts anders als der andere Weg mit einem längeren Fußweg von der Bushaltestelle bis zur Wohnung der Großeltern verbunden. Es ist aber nicht ersichtlich, dass dieser Fußweg auch unter Berücksichtigung ihres kindlichen Alters und unterschiedlicher Witterungsverhältnisse für die Tochter der Antragsteller nicht zumutbar ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG. Eine Vorwegnahme der Hauptsache liegt hier nicht vor, sodass nach der ständigen Senatsrechtsprechung der Regelstreitwert in Orientierung an Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (NordÖR 2014, 11) zu halbieren ist (vgl. Senatsbeschl. v. 20.8.2018 - 2 OA 504/18 -, juris Rn. 8 m.w.N.).