Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
v. 06.09.2010, Az.: 5 LA 298/09
Beihilfefähigkeit von Aufwendungen für zahnärztliche Leistungen nach den Gebührenpositionen 610 und 611 Gebührenordnung für Zahnärzte (GOZ); Angemessenheit der Aufwendungen für ärztliche Leistungen nach dem Gebührenrahmen der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ); Berechtigung einer ärztlichen Liquidation als eine der Beihilfegewährung vorgreifliche Rechtsfrage
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 06.09.2010
- Aktenzeichen
- 5 LA 298/09
- Entscheidungsform
- Entscheidung
- Referenz
- WKRS 2010, 24147
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2010:0906.5LA298.09.0A
Rechtsgrundlage
- § 5 Abs. 1 S. 1 BhV
Redaktioneller Leitsatz
Schwierigkeiten bei einer zahnärztlichen Behandlung, die nicht außergewöhnlich, sondern bloß über dem Durchschnitt liegen, können die Überschreitung des 2- bis 3-Fachen des Gebührensatzes rechtfertigen.
Gründe
Der Antrag auf Zulassung der Berufung, mit dem der Kläger ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) geltend macht, hat Erfolg.
Ernstliche Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils sind zu bejahen, wenn bei der Überprüfung im Zulassungsverfahren, also aufgrund der Begründung des Zulassungsantrags und der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts, gewichtige, gegen die Richtigkeit der Entscheidung sprechende Gründe zutage treten, aus denen sich ergibt, dass ein Erfolg der erstrebten Berufung mindestens ebenso wahrscheinlich ist wie ein Misserfolg. Das ist der Fall, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird. Die Richtigkeitszweifel müssen sich auch auf das Ergebnis der Entscheidung beziehen; es muss also mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein, dass die Berufung zur Änderung der angefochtenen Entscheidung führt (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 10.7.2008 - 5 LA 182/07 -, [...]).
Ausgehend von diesen Grundsätzen hat der Kläger die das angefochtene Urteil tragenden Erwägungen im Zulassungsverfahren mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt. Der Kläger hat zu Recht ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Auffassung des Verwaltungsgerichts geäußert, dass sein Begehren, die Gebührenpositionen 610 und 611 GOZ in Höhe des 3,5fachen des Gebührensatzes als beihilfefähig anzuerkennen und ihm insoweit eine weitere Beihilfe zu gewähren, nicht berechtigt sei.
Das Verwaltungsgericht hat zunächst zutreffend angenommen, dass für das Begehren des Klägers die Bestimmungen der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift für Beihilfen in Krankheits-, Pflege- und Geburtsfällen vom 1. November 2001 (- BhV -, GMBl. S. 919), zuletzt geändert durch Art. 1 der Verwaltungsvorschrift vom 30. Januar 2004 (GMBl. S. 379) maßgeblich sind.
Nach § 5 Abs. 1 Satz 1 BhV sind Aufwendungen beihilfefähig, wenn sie dem Grunde nach notwendig und soweit sie der Höhe nach angemessen sind. Gemäß Satz 2 der Vorschrift beurteilt sich die Angemessenheit der Aufwendungen für ärztliche Leistungen ausschließlich nach dem Gebührenrahmen der Gebührenordnung für Ärzte; soweit keine begründeten besonderen Umstände vorliegen, kann nur eine Gebühr, die den Schwellenwert des Gebührenrahmens nicht überschreitet, als angemessen angesehen werden. Danach verzichten die Beihilfevorschriften auf eine eigenständige Konkretisierung des Begriffs "angemessen" und begrenzen die Kostenerstattung grundsätzlich auf die Gebühren, die den Schwellenwert des Gebührenrahmens nicht überschreiten. Somit knüpft die Beihilfefähigkeit von Aufwendungen für ärztliche Leistungen grundsätzlich an den Leistungsanspruch des Artzes an und setzt voraus, dass dieser seine Leistungen bei zutreffender Auslegung der Gebührenordnung in Rechnung stellt. Ob der Arzt seine Forderung zu Recht geltend macht, ist eine der Beihilfegewährung vorgreifliche Rechtsfrage, die nach der Natur des Rechtsverhältnisses zwischen Arzt und (Privat-)Patient dem Zivilrecht zuzuordnen ist. Den Streit über die Berechtigung einer ärztlichen Liquidation entscheiden letztverbindlich die Zivilgerichte. Deren Beurteilung präjudiziert die Angemessenheit der Aufwendungen für ärztliche Leistungen im beihilferechtlichen Sinne. Auf Grund seiner Fürsorgepflicht hat der Dienstherr die Beihilfe nach den Aufwendungen zu bemessen, die dem Beamten, Richter oder deren Hinterbliebenen wegen der notwendigen Inanspruchnahme eines Arztes in Übereinstimmung mit der Rechtslage tatsächlich entstehen. Ist eine Entscheidung im ordentlichen Rechtsweg nicht ergangen, hat der Dienstherr zu prüfen, ob die Abrechnung des Arztes den Vorgaben des Beihilferechts entspricht, insbesondere ob die vom Arzt geltend gemachten Ansprüche nach materiellem Recht begründet sind. Ist eine Rechtsfrage, die der Kläger und die Beklagte unterschiedlich beurteilt hatten, abschließend zivilgerichtlich entschieden worden, ist sie für die Bestimmung der Angemessenheit maßgebend, auch wenn diese Entscheidung nicht zu der von dem Kläger geltend gemachten Gebührenforderung ergangen ist. Vielmehr ist für die Entscheidung, ob nach den Maßstäben des Beihilferechts Aufwendungen für ärztliche Leistungen angemessen sind, die Auslegung des ärztlichen Gebührenrechts durch die Zivilgerichte maßgebend. Die behördliche Entscheidung darüber, ob die Aufwendungen notwendig und angemessen sind, ist keine Ermessensentscheidung und unterliegt uneingeschränkter verwaltungsgerichtlicher Kontrolle (vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 28.10.2004 - BVerwG 2 C 34.03 -, Buchholz 270 § 5 BhV Nr. 15 = DVBl. 2005 - 509 = NVwZ 2005, 710 = ZBR 2005, 169, zitiert nach [...], Rn. 11, 14).
Vor diesem Hintergrund bestehen ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils, soweit das Verwaltungsgericht für die Angemessenheit von den Schwellenwert überschreitenden beihilfefähigen Aufwendungen besonders außergewöhnliche Schwierigkeiten verlangt, mit denen im Rahmen einer zahnärztlichen Behandlung regelmäßig nicht zu rechnen sei, während Schwierigkeiten, die bloßüber dem Durchschnitt lägen, nur die volle Ausschöpfung des Schwellenwertes und nicht dessen Überschreitung rechtfertigen können sollen. Denn der Bundesgerichtshof hat in seinem Urteil vom 8. November 2007 (- III ZR 54/07 -, BGHZ 174, 101 = NJW-RR 2008, 436) die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Arzt persönlich-ärztliche Leistungen mit dem Höchstsatz der Regelspanne des 2,3-fachen des Gebührensatzes abrechnen darf, abschließend abweichend hiervon entschieden.
Nach § 5 Abs. 1 Satz 1 GOZ bemisst sich für Leistungen des Gebührenverzeichnisses die Höhe der einzelnen Gebühr nach dem Einfachen bis Dreieinhalbfachen des Gebührensatzes. Gemäß § 5 Abs. 2 Satz 1 GOZ sind innerhalb des Gebührenrahmens die Gebühren unter Berücksichtigung der Schwierigkeit und des Zeitaufwandes der einzelnen Leistung sowie der Umstände bei der Ausführung nach billigem Ermessen zu bestimmen. In der Regel darf eine Gebühr nur zwischen dem Einfachen und dem 2,3fachen des Gebührensatzes bemessen werden; ein Überschreiten des Gebührensatzes ist nur zulässig, wenn Besonderheiten der in Satz 1 genannten Bemessungskriterien dies rechtfertigen (§ 5 Abs. 2 Satz 4 GOZ). Die Überschreitung des 2,3fachen Gebührensatzes ist gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 GOZ schriftlich zu begründen. Auf Verlangen ist die Begründung näher zu erläutern (§ 10 Abs. 3 Satz 2 GOZ).
In Anwendung dieser Grundsätze hat der Bundesgerichtshof in Auseinandersetzung mit der zivilgerichtlichen Judikatur und auch der von dem Verwaltungsgericht zitierten bundesverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung sowie insbesondere unter Berücksichtigung der Entwicklung der Abrechnungspraxis ärztlicher Gebühren es nicht als ermessensfehlerhaft angesehen, wenn persönlich-ärztliche Leistungen, die sich in einem Bereich durchschnittlicher Schwierigkeiten und einem durchschnittlichen Zeitaufwand befinden sowie nicht durch Erschwernisse gekennzeichnet sind, zum Schwellenwert abgerechnet werden (vgl. BGH a.a.O., zitiert nach [...] Langtext, Rn. 11 ff. <18, 21>). Hiermit erweist sich die verwaltungsgerichtliche Auffassung, über dem Durchschnitt liegende Schwierigkeiten könnten eine Überschreitung des Schwellenwerts bei der Gebührensabrechnung nicht rechtfertigen, als unvereinbar.
Vorliegend hat der behandelnde Arzt den starken Speichelfluss, die enge Mundöffnung sowie den erhöhten Wangenturnus als Erschwernisse bei der Behandlung des berücksichtigungsfähigen Sohnes des beihilfeberechtigten Klägers zur Begründung der Schwellenwertüberschreitungen angegeben. Es ist nicht ersichtlich, weshalb am Maßstab der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes diese Erschwernisse nicht geeignet sein sollen, eine Schwellenwertüberschreitung zu rechtfertigen, sondern statt dessen noch dem Bereich der durchschnittlichen Schwierigkeiten zugeordnet werden müssten. Auch das Verwaltungsgericht hat diesen Erschwernissen lediglich die Qualifizierung als "außergewöhnliche Besonderheiten" abgesprochen und im Übrigen lediglich in Bezug auf die Begründung "starker Speichelfluss" durchschnittliche Schwierigkeiten angenommen, ohne sich mit den weiteren Begründungen auseinanderzusetzen.
Ob darüber hinaus ernstliche Richtigkeitszweifel an dem erstinstanzlichen Urteil bestehen, weil das Verwaltungsgericht den Beweisanregungen des Klägers in Bezug auf den tatsächlichen höheren Aufwand des Arztes nicht nachgegangen ist, kann dahingestellt bleiben.
Das Zulassungsverfahren wird als Berufungsverfahren fortgeführt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht (§ 124a Abs. 5 Satz 5 VwGO).