Landgericht Göttingen
Urt. v. 16.09.2002, Az.: 9 S 47/02

Betrieb einer Schrankenanlage; Fahrzeugverkehr; Fehlfunktion; Funktionsfähigkeit; Fußgänger; Größe und Intensität der Gefahr; Schranke; Sicherungsmaßnahme; Verkehrssicherungspflicht; Verletzung; zumutbar; Zumutbarkeit

Bibliographie

Gericht
LG Göttingen
Datum
16.09.2002
Aktenzeichen
9 S 47/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2002, 43582
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG - 19.06.2002 - AZ: 21 C 18/02

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Göttingen vom 19.6.2002 - 21 C 18/02 - abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Die Klage wird auf Kosten der Klägerin abgewiesen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Berufungsstreitwert: 1.022,58 Euro.

Tatbestand:

1

I. Die Klägerin verlangt von der Beklagten Schmerzensgeld wegen eines Vorfalles vom 25.03.2001. Die Beklagte ist Eigentümerin des G. in Göttingen, wo sich an der Einfahrt zur Bahnhofsallee eine Schrankenanlage befindet. Neben der Einfahrt verläuft ein Fußweg, der durch eine Reihe von Metallpfosten von der Fahrbahn abgetrennt ist. Der Weg wird vielfach von Fußgängern benutzt, die vom gegenüberliegenden Parkhaus her kommend Veranstaltungen in der H. oder aber das I. besuchen wollen. Auch die Klägerin hatte an jenem Tag einen Kinobesuch im I. unternommen. Als sie in Richtung Bahnhofsallee zurückging, benutzte sie nicht den Fußweg sondern beging die Fahrbahn. Die linke Schranke stand zu diesem Zeitpunkt offen. Als die Klägerin sie passierte, senkte sich die Schranke und verletzte die Klägerin am Kopf. Die damals hochschwangere Klägerin wurde deswegen drei Tage lang im Klinikum J. behandelt. Sie litt auch danach noch längere Zeit unter heftigen Kopfschmerzen.

2

Die Beklagte hatte die Schrankenanlage Ende des Jahres 2000 installieren lassen. Sie hatte sie bei einem renommierten Markenhersteller erworben. Bis zum Unfallzeitpunkt waren ihr noch keine auch nur annähernd vergleichbaren Vorfälle gemeldet worden; auch sonst war es noch nicht zu einer ähnlichen Fehlfunktion der Anlage gekommen. Die Beklagte hatte einen Wachdienst damit betraut, das gesamte Gelände des G. mehrmals täglich und auch über Nacht abzustreifen; der Wachdienst hatte die Aufgabe, auch die Funktionsfähigkeit der Schrankenanlage im Auge zu behalten.

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Die Klägerin hat behauptet, die Schrankenanlage habe schon offen gestanden, als sie in Richtung I. gegangen sei. Auf dem Rückweg habe sich dieselbe plötzlich und unvermittelt gesenkt. Das Personal des herbeigerufenen Krankenwagens habe die Schranke nicht wieder öffnen können. Es sei deshalb davon auszugehen, dass eine Fehlfunktion der Anlage vorgelegen habe. Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, der Beklagten falle eine Verletzung ihrer Verkehrssicherungspflichten zur Last. Die Beklagte habe dafür Sorge tragen müssen, dass Besucher des Veranstaltungszentrums nicht die Schrankenanlage durchschreiten können. Sie hat ein Schmerzensgeld von 1.022,58 Euro für angemessen gehalten.

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Die Klägerin hat beantragt,

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die Beklagte zu verurteilen, an sie ein angemessenes Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 1.022,58 Euro nebst 5 % Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz zu zahlen.

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Die Beklagte hat beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Sie hat die Auffassung vertreten, die Klägerin könne sich schon deswegen nicht auf eine Verkehrssicherungspflichtverletzung berufen, weil sie die Fahrbahn unberechtigter Weise als Fußgängerin benutzt habe. Die Beklagte hat bestritten, die Schranke habe sich unvermittelt gesenkt. Der Vorfall lasse sich damit erklären, dass infolge der ausströmenden Menge von Kinobesuchern es zu einem erheblichen Anstoß an die Schrankenanlage gekommen sein müsse, was zu deren Irritation geführt habe.

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Das Amtsgericht hat die Beklagte antragsgemäß mit der Begründung verurteilt, die Verkehrssicherungspflichten schützten auch solche Personen, die die gefährlichen Einrichtungen in einer naheliegend missbräuchlichen Weise benutzen. Das sei hier der Fall gewesen. Eine Verkehrssicherungspflichtverletzung sei sowohl auf der Grundlage des Klägers- wie des Beklagtenvortrages gegeben. Das von der Klägerin geltend gemachte Schmerzensgeld sei angemessen.

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Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer rechtzeitig eingelegten und begründeten Berufung. Sie trägt vor:

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Angesichts der Lage der Örtlichkeit widerspreche es der Lebenserfahrung zu erwarten, dass auch Fußgänger den Schrankenbereich gefahrlos passieren könnten. Mit einem derartigen Verhalten der Klägerin habe die Beklagte nicht rechnen müssen. Deshalb sei in der Rechtsprechung auch anerkannt, dass derjenige, der sich unbefugt in den Schließbereich einer Schrankenanlage begebe, seinen Schaden selbst zu tragen habe.

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Das Amtsgericht habe unberücksichtigt gelassen, dass die Beklagte schon erstinstanzlich ein unvermitteltes Senken der Schranke bestritten habe. Es sei genauso gut vorstellbar, dass die Klägerin direkt hinter einem Kraftfahrzeug die Schrankenanlage durchquert habe.

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Jedenfalls aber treffe die Klägerin ein beträchtliches Mitverschulden, das anspruchsausschließend wirke.

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Der Vortrag der Klägerin zum Umfang ihrer Verletzungen und Beeinträchtigungen sei so unsubstantiiert, dass das Amtsgericht daraufhin kein Schmerzensgeld habe zusprechen dürfen.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage unter Abänderung des angefochtenen Urteils abzuweisen.

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Die Klägerin beantragt,

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die Berufung zurück zu weisen.

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Sie verteidigt das angefochtene Urteil und legt Arztberichte zu ihren Verletzungen vor.

Entscheidungsgründe

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II. Die Berufung ist zulässig und begründet. Die Klägerin hat keinen Schmerzensgeldanspruch gegen die Beklagte, denn es fehlt an einer rechtswidrigen und schuldhaften Verursachung der Körperverletzung der Klägerin durch die Beklagte. Diese hat die ihr obliegenden Verkehrssicherungspflichten nicht verletzt.

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1. Verkehrssicherungspflichtig ist derjenige, der auf Grundstücken oder Straßen einen Verkehr eröffnet. Er hat dann den sich daraus ergebenden Gefahren im Rahmen des Zumutbaren zum Zwecke der Sicherheit des Verkehrs entgegen zu wirken. Dazu gehört insbesondere, dass die Verkehrsteilnehmer vor Gefahren geschützt oder mindestens gewarnt werden, die sich aus der Beschaffenheit der dem Verkehr eröffneten Sache ergeben und nicht ohne Weiteres erkennbar sind (BGHZ 108, 273, 274 f; Soergel/Zeuner, BGB, 12. Auflage, § 823 Rdnr. 188).

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Allerdings kann eine völlige Ausschaltung aller erdenkbaren Gefahren sinnvoller Weise nicht verlangt werden. Für die nähere Bestimmung dessen, was im Einzelfall zu fordern ist, spielen entsprechend dem jeweiligen Stand der Erkenntnis namentlich Größe und Intensität der Gefahren, Möglichkeit und Zumutbarkeit von Sicherheitsmaßnahmen sowie insbesondere auch die Frage eine Rolle, inwieweit vernünftiger- und realistischerweise davon ausgegangen werden kann, dass die von der Gefahr Bedrohten sich ihrerseits vor Schädigungen vorzusehen und zu sichern wissen (BGH a.a.O.; Soergel/Zeuner, § 823 Rdnr. 204). Die Sicherungspflicht kann auch gegenüber Personen bestehen, die sich der Gefahr durch unbefugtes Verhalten aussetzen; abzustellen ist darauf, ob es sich um ein Verhalten handelt, mit dem in Anbetracht der Eigenart der Gefahr typischerweise gerechnet werden muss (Soergel/Zeuner, § 823 Rdnr. 205).

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2. Vor diesem Hintergrund fällt der Beklagten nicht schon deshalb eine Verletzung ihrer Verkehrssicherungspflichten zur Last, weil sie es an hinreichenden Maßnahmen hat fehlen lassen, einen Fußgängerverkehr durch den Bereich der Schrankenanlage überhaupt zu unterbinden. Denn für jeden Benutzer des Weges ist schon auf den ersten Blick erkennbar, dass sich der fußläufige Zugang zu dem G. aus Richtung Bahnhofsallee links neben der Schrankenanlage befindet. Denn dort existiert ein gepflasterter Bürgersteig, der mit Hilfe von Metallpfosten von der Fahrbahn abgegrenzt ist. Die Fahrbahn, die von der Schrankenanlage unterbrochen wird, ist als solche eindeutig erkennbar und wird von ihrer Beschaffenheit her ohne Weiteres von einsichtigen Benutzern dem Fahrzeugverkehr zugeordnet. Die von dem Fahrzeugverkehr auf der Grundstückszufahrt ausgehende Gefahr für Fußgänger, die gleichwohl die Fahrbahn überschreiten, ist nicht größer als die von Fahrbahnen im öffentlichen Verkehr ausgehende Gefahr. Die mit Schrankenanlagen allgemeinen verbundenen Gefahren sind allgemein bekannt. Jedermann weiß, dass - nachdem ein Auto hindurch gefahren ist - eine Schranke sich in aller Regel automatisch alsbald wieder senkt. Deshalb brauchte die Beklagte keine weiteren Sicherungsmaßnahmen zu ergreifen, um das Betreten der Fahrbahn durch Fußgänger im Bereich der Schrankenanlage zu unterbinden, beispielsweise durch eine Kette zwischen den Pfosten, welche die Fahrbahn vom Gehsteig abgrenzt. Auch weiterer Warnhinweise bedurfte es nicht.

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3. Eine Verkehrssicherungspflichtverletzung durch die Beklagte kommt deshalb von vornherein nur insoweit in Betracht, als diese sich die Fehlfunktion der Schrankenanlage am Tage des Unfalles zurechnen lassen muss. Dieser ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme so abgelaufen, wie die Klägerin ihn geschildert hat.

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Die Beklagte kann der Klägerin nicht mit Erfolg entgegen halten, sie habe die Fahrbahn im Bereich der Schrankenanlage gar nicht betreten dürfen. Denn dass Fußgänger eine Abkürzung in der Weise wählen, dass sie direkt von dem Fußweg durch die Einfahrtschranke auf das Gelände des G. gehen, ist naheliegend. Hierbei handelt es sich nämlich um den kürzesten Weg, der im Falle einer geöffneten Schranke durch keinerlei Hindernisse verstellt ist.

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Gleichwohl ist die Beklagte nicht haftbar. Denn sie hat alles Erforderliche getan, um den erkennbaren Gefahren, die auch für den Fußgängerverkehr von der Schrankenanlage ausgehen können, vorzubeugen. Sie hat die Schrankenanlage bei einem Markenhersteller erworben und einen Wachdienst angewiesen, dieselbe täglich mehrfach und auch noch in den Abendstunden auf Fehlfunktion zu kontrollieren. Bis zum Unfallzeitpunkt war ihr eine vergleichbare Fehlfunktion wie am 25.3.2001 nicht gemeldet worden. Die Klägerin konnte und durfte deshalb davon ausgehen, die Schrankenanlage sei in Ordnung und gefährde die Besucher des G. nicht.

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Hierin unterscheidet sich der vorliegende von dem Fall, den der BGH in NJW 1986, 2757 zu entscheiden hatte. Der BGH hat dort ausgesprochen, der Betreiber eines Großmarktes habe strenge Anforderungen bei Auswahl und Unterhaltung des in dem Großmarkt ausgelegten Fußbodens zu erfüllen. Er müsse schlechthin vermeiden, dass sich der Fußboden in einem verkehrsgefährlichen Zustand befinde. Es kann dahinstehen, ob für die streitbefangene Schrankenanlage überhaupt vergleichbar strenge Anforderungen gelten, was zweifelhaft erscheint. Jedenfalls aber ergibt sich aus den unbestritten gebliebenen Darlegungen der Beklagten im Termin, dass diese von vornherein alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat, um Unfallgefahren vorzubeugen. Sie hat eine Schrankenanlage gewählt, die größtmögliche Sicherheit gewährleistete. Die Funktionsfähigkeit dieser Anlage hat sie ständig und in hinreichend großen Abständen überwacht, insbesondere auch regelmäßig während der Zeiten, zu denen im Zusammenhang mit dem Besuch von Abendvorstellungen im I. mit erhöhtem Fußgängerverkehr zu rechnen war.

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Dem steht der Umstand nicht im Wege, dass es gleichwohl zu dem Unfall der Klägerin gekommen ist. Denn ist denkbar, dass die Schrankenanlage in dem Zeitpunkt, als sie von dem Wachdienst am Unfalltage in den Abendstunden kontrolliert wurde, abgesenkt war. Die Zeugin Rosenthal und Meyer haben bekundet, die Schranke habe sich auf Fußgängerverkehr hin an jenem Abend mehrfach herauf und herab bewegt. Es kann deshalb nicht ausgeschlossen werden, dass die Anlage, als der Wachdienst dort vorbei streifte, keinen Anlass bot, an ihrer Funktionsfähigkeit zu zweifeln.

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Der Gefahr, die sich im vorliegenden Falle realisiert hat, hätte die Beklagte deshalb nur dadurch durchgreifend begegnen können, dass die Anlage entweder ständig überwachte oder aber von Hand betreiben ließ. So weit gehen ihre Verkehrssicherungspflichten indessen nicht. Denn diese hängen - wie bereits dargelegt - von Größe und Intensität der Gefahr und von der Zumutbarkeit von Sicherungsmaßnahmen ab. Mit den vorbezeichneten Maßnahmen wäre ein ganz erheblicher Personalaufwand verbunden gewesen. Die dem gegenüber stehende Gefahr hingegen ist denkbar gering, weil vergleichbare Schäden zuvor noch nicht beobachtet worden waren. Die Klägerin scheint Opfer eines singulären Ereignisses geworden zu sein. Vorkehrungen vor allen auch nur theoretischen denkbaren Gefahren müssen indessen nicht getroffen werden. Die Klägerin muss ihren Schaden daher selbst tragen.

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO, diejenige zur vorläufigen Vollstreckbarkeit aus §§ 708 Nr. 11, 713 ZPO.

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Die Zulassung der Revision war nicht veranlasst, weil die vorliegende Entscheidung nicht von den Grundsätzen der BGH-Rechtssprechung abweicht, wie oben dargestellt (§ 543 Abs. 2 Nr. 2 ZPO); die Rechtssache hat auch keine grundsätzliche Bedeutung, da nicht über neue Rechtsfragen zu entscheiden war und ein singulärer Sachverhalt zur Beurteilung anstand (§ 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO).