Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 15.03.2001, Az.: 1 K 2405/00

Abwägungsgebot; Bebauungsplan; Bebauungsplanfestsetzung; Erforderlichkeit; Flächensicherung; Freifläche; Freihaltung; Normenkontrollantrag; Normenkontrolle; Normenkontrollverfahren

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
15.03.2001
Aktenzeichen
1 K 2405/00
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2001, 40477
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Gemeinden können nach § 9 Abs. 1 Nr. 10 BauGB Flächen, die von der Bebauung freizuhalten sind, auch dann festsetzen, wenn sie damit den Verlust einer sich konkret abzeichnenden städtebaulichen Gestaltungschance abwehren wollen, für die eine positive Festsetzung (u.a.) auf der Grundlage von § 9 Abs. 1 Nrn. 9, 11 oder 12 BauGB noch nicht getroffen werden kann. Eine solche Festsetzung ist indes erst dann im Sinne des § 1 Abs. 3 BauGB erforderlich, wenn die Planung dieses Ziel vorbereitet wird und eine gewisse Verdichtung erreicht hat.

2. Die Gemeinde darf um ältere Bäume herum auch dann einen von Bebauung freizuhaltenden Korridor durch Baulinien, welche vorhandene Gebäude durchschneiden, festsetzen, wenn der Schutz dieser Bäume nicht durch andere Rechtsvorschriften geboten ist.

Tatbestand:

1

Der Antragsteller erstrebt die Nichtigerklärung des Bebauungsplanes Nr. 614 ("Alte Schmiede") der Antragsgegnerin, soweit seine Grundstücke betroffen sind.

2

Der Antragsteller ist Eigentümer zweier Grundstücke im Planbereich. Sie liegen auf der Ostseite der W Straße. Das eine (Flurstück 59/23) bildet das Eckgrundstück des hier von Nordosten her in die W Straße einmündenden H Weges (H Weg 2); das andere (Flurstück 54/11) liegt südlich davon, von dem ersten durch das Grundstück W Straße 317 getrennt. Es grenzt mit 20 m Breite an die W Straße und erstreckt sich 70 m nach Osten (W Straße 313/315). Es ist gepflastert und eingezäunt. Auf dem Grundstück hat der Antragsteller mit Genehmigung zwei Container aufgestellt. Ferner erteilte ihm die Antragsgegnerin unter dem 20. Dezember 1984 und dem 14. November 1989 positive Bauvorbescheide für die Bebauung mit Anlagen für das Kfz-Gewerbe. Das Grundstück liegt unmittelbar gegenüber der Einmündung der E Straße.

3

Das Grundstück H Weg 2 ist mit zwei eingeschossigen Gebäuden besetzt; das eine, die als Bestand in dem Bebauungsplan eingezeichnete Halle, ist an ihrer Nordseite erneuert. Der Bereich zwischen der Baugrenze und dem H Weg südlich der Halle wird als gepflasterter Waschplatz genutzt. Der Antragsteller hat das Anwesen an die Firma "K Kraftfahrzeuge" ... vermietet, die dort einen Kfz-Handel mit Anhängervermietung und -verkauf betreibt. Der Betrieb existiert seit 1977. Das Grundstück W Straße 313/315 wird ebenfalls für Kfz-Gewerbe genutzt. Die Mieteinnahmen aus den Grundstücken betragen 9.000,-- DM monatlich.

4

Der H Weg überquert im Nordosten, von der W Straße ca. 500 m entfernt, die Eisenbahntrasse H-C. Außer diesem schienengleichen Bahnübergang gibt es noch zwei weitere ..., die Verkehr aus und zu dem Plangebiet aufnehmen. Die Deutsche Bahn AG plant, den Bahnverkehr auf dieser Trasse unter anderem mit einer S-Bahn-Linie auszubauen; hierzu müssen die schienengleichen Bahnübergänge aufgehoben werden. Für eine Untertunnelung kommen sie nach der Begründung des angefochtenen Bebauungsplanes nicht in Frage. Möglich wäre aber, unter Inanspruchnahme des dem Antragsteller gehörenden Grundstückes W Straße 313/315 in Verlängerung der E Straße eine Verbindung zu den nordöstlich gelegenen Neubau- und Gewerbegebieten zu schaffen, die die Bahn-Trasse durch ein Trogbauwerk unterquert. Nach dem Planfeststellungsbeschluss vom 3. April 1996 muss die technische Sicherung des Bahnüberganges H Weg an den neuen Ausbauzustand angepasst werden. Im Zuge des S-Bahn-Ausbaues ist die Aufhebung des Bahnüberganges Xstraße vorgesehen. Nach der Planfeststellung vom 26. Mai 1999 wird jedoch auf den Bau der planfestgestellten Unterführung für Fußgänger und Radfahrer aus Kostengründen verzichtet.

5

Die Antragsgegnerin beabsichtigt nach ihrem Vorbringen in der mündlichen Verhandlung, ein Neubaugebiet im Norden von K mit einer "Ostspange" über die E Straße an das städtische Straßennetz anzuschließen. Sie hält diesen Anschluss neben der bereits vorhandenen "Nordspange" zur verbesserten Anbindung des Flughafens an das Neubaugebiet für wichtig. Flächen im Bereich des geplanten Trogbauwerkes hat sie bereits angekauft. Ferner verweist sie auf eine schon vorliegende "Rahmenbetrachtung Umweltverträglichkeit" und eine fortgeschrittene Trassenplanung. Die Aufnahme der neuen Straßenverbindung in den Flächennutzungsplan sei für die bevorstehende nächste Änderung des Flächennutzungsplanes vorgesehen.

6

Die Festsetzungen für die Grundstücke des Antragstellers lauten GEe (eingeschränktes Gewerbegebiet), Grundflächenzahl 0,6 und Geschossflächenzahl 1,0; die im Norden des Grundstückes H Weg 2 gelegene Halle wird durch die Baugrenze durchschnitten; sie grenzt an dieser Stelle an die Festsetzungen von zwei zu erhaltenden Eichen an. Der Hallenanbau reicht bis etwa 1 m an die östliche Eiche heran. Beide Bäume sind etwa 100 Jahre alt, aber in gutem Zustand. Das Grundstück W Straße 313/315 ist bis auf einen kleinen, unregelmäßig geschnittenen Bereich im Norden als Fläche, die von der Bebauung freizuhalten ist, mit ihrer Nutzung nach anderen gesetzlichen Vorschriften festgesetzt (gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 10 und Abs. 6 BauGB). Nach Ziff. 5 der textlichen Festsetzungen sind folgende Nutzungen zulässig: Grünfläche, Lagerplatz, Stellplätze und Zufahrten. Zu der von Bebauung freizuhaltenden Fläche gehören außer der Parzelle des Antragstellers auch Teile der benachbarten Flurstücke 54/4, 54/12 und 54/13.

7

Der Normenkontrollantrag hatte teilweise Erfolg.

Entscheidungsgründe

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1. Die Festsetzung der zu erhaltenden Eichen mit der entsprechend durch die vorhandene Bebauung geführten Baugrenze hält den Angriffen des Antragstellers stand. Die Festsetzung ist zulässig nach § 9 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. Nr. 25b BauGB. Das in der angefochtenen Festsetzung zum Ausdruck kommende Abwägungsergebnis ist fehlerfrei. Nach § 1 Abs. 6 BauGB sind bei der Aufstellung der Bauleitpläne die öffentlichen und privaten Belange gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen. Gegen dieses Abwägungsgebot hat die Antragsgegnerin nicht verstoßen. Das Abwägungsgebot ist verletzt, wenn eine Abwägung überhaupt nicht stattfindet (Abwägungsausfall), wenn in die Abwägung ein Belang nicht eingestellt wird, der nach Lage der Dinge in sie eingestellt werden muss (Abwägungsdefizit) oder wenn die Bedeutung der privaten Belange verkannt wird; ferner, wenn der Ausgleich zwischen den berührten öffentlichen Belangen außer Verhältnis zu ihrer objektiven Gewichtigkeit steht (Abwägungsfehleinschätzung, vgl. BVerwG, Urt. v. 12.12.1969 -- IV C 105.66 --, BVerwGE 34, 301 309). Ein solcher Abwägungsmangel liegt nicht vor. Die Begründung des Bebauungsplanes erwähnt zwar nur das Ziel, das Ortsbild prägende Bäume zusätzlich zur bestehenden Baumschutzsatzung durch Festsetzung zu schützen; die Festsetzung selbst trägt aber die entsprechende Abwägung mit den privaten Belangen (Einschränkung der bebaubaren Fläche, Durchschneidung des vorhandenen Gebäudes) in sich. Zwar besteht hier keine Rechtspflicht zur Unterschutzstellung; die Planungshoheit der Antragsgegnerin umfasst aber das Recht, in dieser Weise dem Naturschutz Priorität vor dem privaten Eigentum einzuräumen. Darin liegt auch keine Verkennung der Bedeutung der privaten Belange. Das Eigentum ist nur in den Schranken der Gesetze gewährleistet (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG). Die Heranführung der Bebauung in den Wurzelbereich der rund 100-jährigen Bäume und die Nutzung "bis dicht an den Stamm" betätigen eine Wahrnehmung der privaten Belange, der die Antragsgegnerin entgegentreten kann (§ 28 NNatSchG); es kommt hinzu, dass die betroffene Bausubstanz im Bedarfsfall ohne Hintanstellung wesentlicher Nutzungsinteressen des Antragstellers so ersetzt werden kann, dass sie die Baugrenze nicht überschreitet. Insbesondere würde der Gewerbebetrieb dadurch nicht in einem Umfang beeinträchtigt, der nicht durch das billigenswerte Bestreben der Antragsgegnerin aufgewogen würde, diese Bäume in ihrer Substanz und ihrem Erscheinungsbild zu schützen.

9

2. Die Festsetzung einer von Bebauung freizuhaltenden Fläche auf dem südlichen Grundstück des Antragstellers (W Straße 313/315) ist wegen Verletzung einer Verfahrensvorschrift rechtswidrig und unwirksam (§§ 8 Abs. 2 Satz 1, 214 Abs. 2 Nr. 2, 215 a Abs. 1 BauGB).

10

aa) Der angefochtene Bebauungsplan scheitert nicht schon an der Voraussetzung des § 1 Abs. 3 BauGB, wonach die Aufstellung eines Bauleitplanes für die städtebauliche Entwicklung und Ordnung "erforderlich" sein muss. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich bei der Erforderlichkeit um einen "groben Maßstab" handelt; für die Erforderlichkeit reicht es aus, wenn der Plan "vernünftigerweise geboten" ist; und maßgebend für die Erforderlichkeit ist die planerische Konzeption der Gemeinde (zusammenfassend BVerwG, Urt. v. 25.1.1993 -- 8 C 46/91 --, NVwZ 1993, 1102 ff., 1103 [BVerwG 22.01.1993 - BVerwG 8 C 46.91]). Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Zwar schließt das Merkmal der Erforderlichkeit aus, dass sich die planende Gemeinde durch einen Bebauungsplan die konkrete Entscheidung für einen völlig unbestimmten Zeitraum offen hält; das wäre mit dem Sinn der Bauleitplanung unvereinbar (vgl. Urt. d. erk. Sen. v. 22.4.1998 -- 1 K 2132/96 --, NVwZ 1998, 548 [LG Aachen 02.07.1997 - 4 O 322/96]). Andererseits kann im Einzelfall ein Bebauungsplan auf die Deckung eines langfristigen Bedarfs gerichtet sein, zum Beispiel einer weit vorausschauenden Flächensicherung dienen (vgl. Gaentzsch, in: Schlichter/Stich, Herausgeber, Berliner Kommentar zum BauGB, 2. Aufl. 1995, S. 328, Rdn. 14 zu § 1). Hier hat die Planung einer Straßenverbindung bereits eine weitgehende Vorbereitung und Verdichtung erfahren, wie sich aus dem Stand der Trassenplanung, der schon eingeleiteten Umweltverträglichkeitsprüfung und dem vorsorglichen Grunderwerb ergibt. Damit ist der "Erforderlichkeit" der Festsetzung Genüge getan.

11

bb) Die angefochtene Festsetzung ist auch zulässig nach § 9 Abs. 1 Nr. 10 BauGB. Nach dieser Vorschrift können im Bebauungsplan aus städtebaulichen Gründen Flächen festgesetzt werden, die von der Bebauung freizuhalten sind, und ihre Nutzung. Dies bietet nicht nur die Grundlage für die Verwirklichung "positiver" städtebaulicher Ziele wie Herstellung von Frischluftschneisen oder Gestaltung des Ortsbildes bzw. Schutz von Baudenkmalen durch Freihaltung von Flächen. Der "weite Wortlaut" der Vorschrift sowie ihre systematische Stellung zeigen vielmehr, dass auf der Grundlage dieser Vorschrift auch das städtebauliche Ziel verfolgt werden darf/kann, den Verlust einer sich konkret abzeichnenden städtebaulichen Chance -- hier: Neutrassierung einer Straße -- abzuwenden, für die eine positive Festsetzung nach § 9 Abs. 1 Nr. 9, 11 oder 12 BauGB noch nicht getroffen werden kann. Zulässig ist mit anderen Worten die Festsetzung von "Flächen zur Freihaltung von künftigen Fachplanungen" (Gierke, in: Brügelmann, Kohlhammer-Kommentar zum BauGB, Rdn. 211 zu § 9, S. 94). Mit ihrer "Nutzung" kann dann nur die dem Sinn der Freihaltung entsprechende, möglicherweise vorübergehende Nutzung gemeint sein, die eine künftige Fachplanung offen hält, indem sie widersprechende Nutzungen hindert. Die Festsetzung nach § 9 Abs. 1 Nr. 11 BauGB (Verkehrsflächen) setzt dagegen weitergehende Planungsreife voraus.

12

cc) Der Bebauungsplan verletzt aber das Entwicklungsgebot des § 8 Abs. 2 Satz 1 BauGB mit der Rechtsfolge des § 215 a BauGB. Der Flächennutzungsplan in der Fassung der 48. Änderung enthält das Verkehrskonzept der Antragsgegnerin, das sich in der Darstellung der örtlichen Hauptverkehrszüge (§ 5 Abs. 2 Nr. 3 BauGB) niederschlagen müsste, bisher nicht. Es handelt sich nicht um eine Abweichung, die sich schon aus dem Übergang in eine stärker konkretisierende Planstufe ergeben dürfte (vgl. BVerwG, Urt. v. 28.2.1975 -- IV C 74.72 --, BVerwGE 48, 70 ff., 73). Der Flächennutzungsplan stellt für den Bereich des angefochtenen Bebauungsplanes lediglich die Art der baulichen Nutzung, nicht aber die beabsichtigte großräumige Verkehrsführung dar. Die Abweichung ist auch nicht im Sinne des § 214 Abs. 2 Nr. 2 BauGB unbeachtlich, weil sie die sich aus dem Flächennutzungsplan ergebende geordnete städtebauliche Entwicklung beeinträchtigt. Denn die Festsetzung einer für die Trasse im Zuge der "Ostspange" freizuhaltende Fläche ist nicht nur für das Plangebiet von entscheidender Bedeutung, in dem sie quasi Zwangspunkte für die neue Straßenverbindung schafft. Sie wirkt darüber hinaus als Vorgabe für die anderen betroffenen Baugebiete und schränkt das Planungsermessen der Antragsgegnerin insoweit ein, ohne dass bisher eine einschlägige übergreifende Legitimation durch den Rat der Antragsgegnerin als "Hauptorgan" (§ 31 Abs. 1 Satz 1 NGO) bewirkt worden wäre. Daraus folgt ferner, dass das Planungsermessen nach § 5 Abs. 2 Nr. 3 BauGB hier zur Rechtspflicht verdichtet ist.