Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 14.03.2001, Az.: 4 L 160/99

Anrechnung; Behinderter; Eingliederungshilfe; Heim; Heimkosten; Pflege; Pflegezulage; Werkstatt für Behinderte; Wohnheim

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
14.03.2001
Aktenzeichen
4 L 160/99
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2001, 40456
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 11.06.1998 - AZ: 15 A 2772/98

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Ein Behinderter, der in einem Wohnheim, das einer von ihm besuchten Werkstatt für Behinderte angegliedert ist, Eingliederungshilfe und die notwendige Pflege erhält, muss von der Pflegezulage nach § 35 BVG - in Anlehnung an die pauschalierende Regelung in § 43 a SGB XI - nur bis zu 500,- DM monatlich zur Deckung der auf die Pflege entfallenden Heimkosten einsetzen.

Tatbestand:

1

Der im August 1961 geborene Kläger leidet aufgrund eines durch eine Pockenschutzimpfung im Jahre 1962 verursachten Impfschadens an einem frühkindlichen Autismus und - seit 1971 - an cerebralen Anfällen. Seit November 1994 ist er in einem Wohnheim der "Gemeinschaft A." in H. (Hessen) untergebracht. Von dem Wohnheim aus besucht er eine Werkstatt für Behinderte, in der er behinderungsgerecht beschäftigt wird. Für die Betreuung des Klägers in dem Wohnheim und der Werkstatt für Behinderte hatte die Einrichtung ab dem Jahr 1994 einen einheitlichen Pflegesatz von 132,55 DM berechnet, wobei auf den Werkstattbereich 66,30 DM entfielen. Bei der Festlegung dieses Pflegesatzes ist bereits berücksichtigt worden, dass die Einrichtung zwei Monate im Jahr geschlossen ist. Gemäß einer Auskunft der "Gemeinschaft A." vom 14. Mai 1996 an den Beklagten werden für den Kläger neben den Beschäftigungs- und Fördermaßnahmen auch pflegerische Leistungen erbracht. Der erforderliche Zeitaufwand beträgt im Bereich der Körperpflege täglich 50 Minuten sowie (für Baden, Einkleiden) wöchentlich weitere 1,5 Stunden und im Bereich der Seelenpflege (Fürsorge, bewusste Ansprache bei Orientierungsstörungen und Anfällen, Orientierungshilfe) täglich 35 Minuten.

2

Der Beklagte hat sich bereit erklärt, "die für die Unterbringung ... im Wohnheim ... entstehenden Kosten ab Aufnahmetag, 21.11.1994, gemäß § 27 d Abs. 1 Nr. 6 BVG in Verbindung mit § 39 Abs. 3 BSHG und § 15 EHVO unter Anrechnung der Pflegezulage Stufe 2 ... zu übernehmen" (Bescheid vom 11. Januar 1996 und "im Nachgang" dazu Bescheid vom 23. September 1996). In dem Bescheid vom 11. Januar 1996 heißt es unter Bezugnahme auf einen Erlass des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung vom 7. November 1995 ergänzend: "... daß Wohnheimkosten im Rahmen der Eingliederungshilfe gemäß § 27 d Abs. 1 Nr. 6 BVG zu übernehmen sind, wenn der Beschädigte werkstattfähig ist und die Unterbringung in einem der Werkstatt angegliederten Wohnheim erfolgt, um eine werkstattnahe Unterbringung zu gewährleisten. Laut o. a. Erlass sind in diesem Zusammenhang anfallende Pflegekosten aus der Pauschale nach § 35 Abs. 1 BVG (Pflegezulage) zu bestreiten." Der hiergegen gerichtete Widerspruch des Klägers wurde mit Widerspruchsbescheid vom 9. Januar 1997 zurückgewiesen. Es heißt darin u.a.: "Wird ein werkstattfähiger Beschädigter in einem der Werkstatt angegliederten Wohnheim für Behinderte untergebracht, dient dies in erster Linie der werkstattnahen Unterbringung und nicht der Sicherstellung der Pflege. Die Unterbringungskosten im Wohnheim sind somit ebenfalls als Bedarf im Rahmen der Eingliederungshilfe anzuerkennen. In diesem Zusammenhang anfallende Pflegekosten sind aus der pauschalen Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 BVG zu bestreiten (Erlass des BMA v. 7.11.1995)."

3

Gegen diese Bescheide - der Widerspruchsbescheid ist am 9. Januar 1997 zugestellt worden - hat der Kläger mit Schriftsatz vom 18. Januar 1997 Klage erhoben mit zunächst dem Antrag, die angefochtenen Bescheide aufzuheben und "die Inanspruchnahme der Pflegezulage zur Finanzierung der Wohnheimkosten auf 10 v. H. dieser Kosten zu begrenzen". Mit Schriftsatz vom 22. Juli 1997 hat der Kläger erklärt, dass er "seinen Klageantrag dahingehend korrigiert, dass auch die angebotene Inanspruchnahme eines Teils der Pflegezulage nicht in Betracht kommt". Er hat geltend gemacht: Die Voraussetzungen des § 35 Abs. 6 BVG lägen nicht vor, da er nicht dauernd der Hilfe bedürfe, eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung nicht nötig sei, es sich also nicht um eine rein pflegerische Betreuung handele. In seinem Fall stehe die soziale und/oder berufliche Eingliederung im Vordergrund.

4

Mit Urteil vom 15. Juni 1998 hat das Verwaltungsgericht den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 23. September 1996 und des Widerspruchsbescheides vom 9. Januar 1997 verpflichtet, "dem Kläger Eingliederungshilfeleistungen ohne Anrechnung der Pflegezulage zu bewilligen". Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:

5

Der Beklagte übernehme ausweislich seiner Bescheide die durch die Unterbringung des Klägers in dem Wohnheim entstehenden Kosten als Eingliederungshilfe. Eine Anrechnung der Pflegezulage auf die gewährte Eingliederungshilfe komme aber weder nach § 77 Abs. 1 BSHG noch, wenn es sich um "erweiterte Hilfe" handele, nach § 43 Abs. 3 BSHG in Betracht. Nach beiden Vorschriften sei Voraussetzung für eine Anrechnung, dass die Leistungen demselben Zweck dienten. Die Eingliederungshilfe und die Pflegezulage dienten aber nicht - auch nicht teilweise - dem selben Zweck, wie auch das Bundesverwaltungsgericht bereits entschieden habe (BVerwG, Urt. v. 11.3.1993 - BVerwG 3 C 18.90  -).

6

Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung des Beklagten, die der Senat mit Beschluss vom 5. Januar 1999 - 4 L 3859/908 - zugelassen hat.

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Der Beklagte hält an der von ihm vertretenen Auffassung fest, dass der Kläger die ihm gewährte Pflegezulage für die Abgeltung der ihm zuteil werdenden pflegerischen Leistungen - und nicht etwa für Leistungen im Rahmen der Eingliederungshilfe - einsetzen müsse, und beantragt,

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das Urteil des Verwaltungsgerichts zu ändern und die Klage "in dem Umfang abzuweisen, in dem die dem Kläger gewährte Pflegezulage der Stufe 2 zur Deckung der durch die ihm in der Einrichtung für Behinderte der Gemeinschaft A. erbrachten Hilfe zur Pflege und Betreuung im Sinne des § 35 Abs. 1 BVG verursachten Kosten eingesetzt verlangt werden kann".

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Der Kläger beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

11

Er verteidigt das angegriffene Urteil.

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Die dem Kläger gewährte Pflegezulage der Stufe 2 betrug ab dem 1. Juli 1996 803,-- DM monatlich und ab dem 1. Juli 1997 815,-- DM monatlich. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die Entscheidung ergeht im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§§ 125 Abs. 1 Satz 1, 101 Abs. 2 VwGO).

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Der Beklagte übernimmt die dem Kläger nach Abzug eines Betrags in Höhe der ihm gewährten Pflegezulage verbleibenden Kosten für seine Unterbringung und Betreuung in dem Wohnheim sowie für den Besuch der Werkstatt für Behinderte als Eingliederungshilfe gemäß §§ 51 Abs. 1 Bundesseuchengesetz (BSeuchenG), 27 d Abs. 1 Nr. 6 Bundesversorgungsgesetz (BVG) in Verbindung mit § 39 Abs. 3 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) und § 15 Eingliederungshilfeverordnung (EHVO). Das Begehren des Klägers, den Beklagten zur Übernahme der weiteren anfallenden Kosten zu verpflichten, ist (nur) teilweise begründet; insoweit ist das Urteil des Verwaltungsgerichts auf die Berufung des Beklagten zu ändern. 

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Der Kläger kann zunächst für den hier maßgeblichen Zeitraum bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides insoweit eine Kostenübernahme nicht beanspruchen, als er die Bewilligungsbescheide vom 11. Januar 1996 und 23. September 1996 hat bestandskräftig werden lassen. Innerhalb der Klagefrist von einem Monat nach Zustellung des Widerspruchsbescheides vom 9. Januar 1997 (§ 74 VwGO) hat er Klage erhoben mit dem Antrag, "die Inanspruchnahme der Pflegezulage zur Finanzierung der Wohnheimkosten auf 10 v. H. dieser Kosten zu begrenzen". Das heißt, er hat die Ablehnung des Begehrens auf Übernahme der Wohnheimkosten im Umfang von 10 v. H. dieser Kosten hingenommen und bestandskräftig werden lassen. Dieser Anteil an den Wohnheimkosten beträgt monatlich (66,30 DM x 30 = 1.989,-- DM : 10 =) 198,90 DM. Zwar hat er mit Schriftsatz vom 22. Juli 1997 erklärt, dass er "seinen Klageantrag dahingehend korrigiert, dass auch die angebotene Inanspruchnahme eines Teils der Pflegezulage nicht in Betracht kommt". Diese Erweiterung des ursprünglichen Klagebegehrens ist aber unzulässig, da es nach Ablauf der Klagefrist erfolgt ist (Kopp/Schenke, VwGO, 12. Aufl. 2000, Anm. 7 zu § 74).

16

Der Leistungsanspruch des Klägers erfasst jedoch auch einen noch darüber hinaus gehenden Kostenanteil nicht. Es handelt sich dabei um den Anteil der Kosten, die für pflegerische Leistungen erbracht werden.

17

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urt. v. 11. 3. 1993 - BVerwG 3 C 18.90 -, Buchholz 436.0 § 43 BSHG Nr. 6 = BR 1993, 173 = BayVBl. 1994, 152) darf Eingliederungshilfe nicht - auch nicht teilweise - für pflegerische Leistungen gewährt werden, die ein Behinderter während seines Aufenthalts in einer (teil-)stationären Einrichtung erhält, wenn der Behinderte eine hierfür bestimmte Leistung - hier eine Pflegezulage - erhält. Dies ergibt sich nach Meinung des Bundesverwaltungsgerichts aus den unterschiedlichen Zwecken von Eingliederungshilfe einerseits und Pflegezulage andererseits, wie sie sich aus den jeweiligen Leistungsgesetzen ergeben. Zweck der Eingliederungshilfe ist es nach § 39 Abs. 3 Satz 1 BSHG, - außer der Verhütung einer drohenden Behinderung - "eine vorhandene Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und den Behinderten in die Gesellschaft einzugliedern". Sie soll den Behinderten - wie es in § 39 Abs. 3 Satz 2 BSHG ausdrücklich heißt - so weit wie möglich unabhängig von Pflege machen. Die Eingliederungshilfe soll also die Pflege, soweit es geht, erübrigen. Demgegenüber soll die Pflegezulage die Pflege gerade sicherstellen. Sie wird nach § 35 Abs. 1 BVG einem Beschädigten gewährt, der infolge seiner Schädigung so hilflos ist, dass er für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen  Lebens in erheblichem Umfang fremder Hilfe dauernd bedarf. Sie deckt in pauschalierter Form den Aufwand für Pflege ab und macht damit grundsätzlich eine exakte Ermittlung der Pflegekosten, die der Beschädigte tatsächlich aufwenden muss, entbehrlich. Damit erweisen sich nach Meinung des Bundesverwaltungsgerichts, die der Senat teilt, die mit den beiden in Rede stehenden Leistungen verfolgten Zwecke nicht einmal als teilweise identisch.

18

Der stationäre Aufenthalt des Klägers in der "Gemeinschaft A." dient gemäß dem Gemeinschaftsvertrag vom 21. November 1994 in erster Linie dem Zweck seiner Eingliederung in dem vorbeschriebenen Sinn. Auch wenn aufgrund der Art seiner Behinderung Eingliederungsmaßnahmen und Pflegeleistungen praktisch nicht voneinander zu trennen sind - er benötigt die pflegerischen Leistungen im Laufe des Tages je nach Bedarf neben den Eingliederungsmaßnahmen -, sind doch die anteiligen Kosten für die Pflegeleistungen nicht aus der Eingliederungshilfe zu übernehmen. Das gilt jedenfalls insoweit, als dem Kläger zur Deckung dieser Kosten die ihm gewährte Pflegezulage zur Verfügung steht. Für die Ermittlung des Anteils der Pflegekosten an den Gesamtkosten der vollstationären Betreuung hält der Senat eine detaillierte Kostenermittlung nicht für erforderlich (und hier wegen der Ausgestaltung der dem Kläger durch die "Gemeinschaft A." gewährte Betreuung als einheitliche Leistung auch nicht für möglich), sondern sieht es als zulässig an, in Anlehnung an pauschalierende gesetzliche Vorgaben diesen Anteil zu bestimmen. Nach § 35 Abs. 1 Satz 6 BVG erhalten erwerbsunfähige Hirnbeschädigte wie der Kläger eine Pflegezulage mindestens nach Stufe I (in dem vom vorliegenden Verfahren erfassten Zeitraum betrug die dem Kläger gewährte Zulage der Stufe II 803,-- DM bzw. 815,-- DM monatlich). Dabei kommt es für die Mindestleistung nicht darauf an, ob dem Beschädigten tatsächlich ein pflegerischer Aufwand in dieser Höhe entsteht. Demgegenüber enthält § 43 a SGB XI für den Fall der Pflege eines Behinderten in vollstationären Einrichtungen der Behindertenhilfe eine Begrenzung der berücksichtigungsfähigen Kosten der Höhe nach (Deckelung). Nach dieser Bestimmung übernimmt die Pflegekasse für Pflegebedürftige in einer vollstationären Einrichtung der Behindertenhilfe, in der (u.a.) die berufliche und soziale Eingliederung im Vordergrund des Einrichtungszwecks stehen, zur Abgeltung der pflegebedingten Aufwendungen (§ 43 Abs. 2 SGB XI) 10 v. H. des vereinbarten Heimentgelts; dabei dürfen die Aufwendungen der Pflegekasse im Einzelfall je Kalendermonat 500,-- DM nicht überschreiten. Aus dieser Regelung entnimmt der Senat, dass nach der Einschätzung des Gesetzgebers bei Betreuung eines Behinderten in einer vollstationären Einrichtung der Behindertenhilfe der im Einzelfall erforderliche pflegerische Aufwand im Regelfall nicht mehr als 500,-- DM der monatlichen Gesamtkosten ausmacht, während der Aufwand bei häuslicher Pflege als höher eingeschätzt wird.

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Im Fall des Klägers beträgt der regelmäßige tägliche pflegerische Aufwand in den Zeiten seiner vollstationären Betreuung 98 Minuten (bzw. 49 Stunden monatlich). Dass damit der von § 43 a SGB XI vorgegebene Kostenrahmen von 500,-- DM monatlich zumindest ausgefüllt wird, ist offensichtlich. Zur Deckung dieser Kosten steht ihm die nach § 35 Abs. 1 BVG gerade hierfür gewährte Pflegezulage zur Verfügung. In diesem Umfang hat der Kläger deshalb nicht Anspruch auf die Gewährung von Eingliederungshilfe.

20

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 155 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 11 ZPO.

21

Der Senat lässt die Revision zu wegen der grundsätzlichen Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) der Frage, ob und ggf. in welcher Höhe die einem vollstationär betreuten Behinderten gewährte Pflegezulage zur Deckung der anteiligen Kosten von dem Behinderten neben Maßnahmen zur Eingliederung gewährten pflegerischen Leistungen einzusetzen ist - das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. 3. 1993 (- BVerwG 3 C 18.90 -, a.a.O.) betraf einen Fall der teilstationären Betreuung -.