Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 16.07.2020, Az.: 13 LC 41/19
Einbürgerung; Erwerbsminderung; geringfügige Beschäftigung; Rente; gesetzliche Rentenversicherung
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 16.07.2020
- Aktenzeichen
- 13 LC 41/19
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2020, 71787
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 18.12.2018 - AZ: 10 A 1667/18
Rechtsgrundlagen
- § 8 SGB 2
- § 6 SGB 6
- § 11 Abs 4 SGB 12
- § 10 Abs 1 S 1 Nr 3 RuStAG
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - Einzelrichter der 10. Kammer - vom 18. Dezember 2018 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Der Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Einbürgerung in den deutschen Staatsverband.
Der Kläger wurde im Juli 1954 in F. im Irak geboren und ist irakischer Staatsangehöriger. Im Jahr 1995 reiste er in das Bundesgebiet ein und ist seit 1996 im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis, die seit dem 1. Januar 2005 als Niederlassungserlaubnis fortgilt.
Seit Januar 2005 war der Kläger beim zuständigen Jobcenter arbeitssuchend gemeldet und erhielt durchgängig bis Juni 2017 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes im Sinne des SGB II. Seit Juli 2017 erhält der Kläger ergänzend Leistungen nach dem SGB XII als Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Mit Rentenbescheid vom 12. Juni 2017 wurde dem Kläger von Januar 2017 bis Ende Februar 2020 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung in Höhe von 30,99 EUR monatlich gewährt. Aktuell erhält er neben Leistungen nach dem SGB XII eine Altersrente in Höhe von 41,61 EUR.
Laut einer ärztlichen Bescheinigung vom 7. Juli 2003 leidet der Kläger an funktionellen Herzbeschwerden, Herzrasen, Bluthochdruck, Durchblutungsstörungen beider Beine, einer degenerativen Veränderung der gesamten Wirbelsäule, Gelenkarthrosen, einer entzündeten Magenschleimhaut, einem Blähbauch, Fettleibigkeit und einer Fettstoffwechselstörung. In einem Befundbericht vom 16. Januar 2012 wurde dem Kläger eine chronische Entzündung der Schilddrüse diagnostiziert. Laut eines ärztlichen Attests vom 18. April 2012 konnte der Kläger aufgrund Beschwerden der gesamten Wirbelsäule und Arthrose an Kniegelenken nur noch leichte Tätigkeiten verrichten. Schweres Heben und Tragen von schweren Lasten, ohne Knien, Bücken und Beugen, sowie ein Überkopfarbeiten, Arbeiten in körperlicher Zwangshaltung, Einflüsse von Kälte, Zugluft und Nässe sollten vermieden werden.
Ein psychiatrisches Gutachten vom 12. Februar 2013, welches auf den Vorbefunden und auf Gesprächen aus Juni und Juli 2012 basierte, kam zu dem Ergebnis, dass der Kläger die Symptomatik einer schwergradigen Depression ohne psychotische Symptome zeigt. Er habe zudem Konzentrationsstörungen. Die Merkfähigkeit und die Speicherung von visuellen und verbalen Informationen seien beeinträchtigt. Die kognitiven Fähigkeiten und das Abstraktionsvermögen seien reduziert. Der Kläger sei, dies würden die Vorbefunde ergeben, nur in der Lage, weniger als drei Stunden täglich zu arbeiten. Aufgrund der schwergradigen psychischen Erkrankung sei auf absehbare Zeit das Ausmaß seiner Tätigkeit auf dem Arbeitsmarkt auf deutlich weniger als drei Stunden pro Tag eingeschränkt. Es fänden sich ausreichende Gründe für das Gewähren einer Erwerbsminderungsrente. Der Kläger sei auf Dauer nicht in der Lage, das Zertifikat Deutsch (B1 des Europäischen Referenzrahmens) zu erlangen.
Am 7. Januar 2016 beantragte der Kläger bei der Beklagten seine Einbürgerung. Er gab dabei an, die letzten 8 Jahre nicht arbeitstätig gewesen zu sein. Der unterschriebene Antrag enthielt eine Verpflichtung, bisherige Staatsangehörigkeiten aufzugeben und ein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung.
Laut Auskunft aus dem Bundeszentralregister vom 9. September 2016 liegen gegen den Kläger keine Eintragungen vor.
Das Jobcenter teilte der Beklagten mit Antwortbogen vom 14. Januar 2016 mit, Maßnahmen der beruflichen Bildung seien für den Kläger nicht möglich. Wegen der erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen hätten nur zwei Vermittlungsvorschläge unterbreitet werden können. Der Kläger sei nicht arbeitsunwillig, aber die gesundheitlichen Einschränkungen erschwerten den Zugang zum 1. Arbeitsmarkt erheblich. Eigenbemühungen zur Arbeitsbeschaffung lägen nicht vor. Mit weiterem Antwortbogen vom 29. November 2017 teilte es mit, der Kläger sei seinen Mitwirkungspflichten nachgekommen, Sanktionen seien nicht verhängt worden, Vermittlungsvorschläge seien wegen erheblicher gesundheitlicher Einschränkungen nicht unterbreitet worden. Der Kläger solle laut einer Prüfung des ärztlichen Dienstes des Jobcenters aus 2014 erwerbsfähig im Sinne des SGB II sein. Nachweise über diese Prüfung wurden nicht vorgelegt.
Mit Bescheid vom 30. Januar 2018 lehnte die Beklagte den Einbürgerungsantrag ab und führte zur Begründung aus, dass für den Zeitraum von 2005 bis 2017 keine Nachweise über eine krankheitsbedingte Erwerbsunfähigkeit des Klägers vorgelegen hätten. Ein zuletzt vorgelegtes Attest vom 18. April 2012 bescheinige dem Kläger Beschwerden der gesamten Wirbelsäule und Arthrose an den Kniegelenken, stelle aber seine Erwerbsfähigkeit hinsichtlich leichter Tätigkeiten ohne schweres Heben und Tragen schwerer Lasten, Knien, Bücken und Beugen und Überkopfarbeiten, Arbeiten in körperlicher Zwangshaltung oder unter Einfluss von Kälte, Zugluft oder Nässe fest. Wenigstens leichte Tätigkeiten seien dem Kläger daher zumutbar gewesen.
Der Kläger hat am 23. Februar 2018 Klage erhoben. Er hält die Versagung der Einbürgerung für rechtswidrig, weil er den Leistungsbezug - auch bei Berücksichtigung einer Fernwirkung früherer Versäumnisse - nicht zu vertreten habe. Er sei zwar formal nicht erwerbsunfähig gewesen, die Beklagte habe aber nicht dargelegt, was er zur Minderung seines Leistungsbezugs objektiv hätte leisten müssen. Das Jobcenter habe ihm keine Vermittlungsvorschläge mehr unterbreitet und keinerlei Eigenbemühungen von ihm verlangt. Er habe mit seinem Leistungsprofil keinerlei Aussichten gehabt, eine Beschäftigung zu finden, die ihm erhebliche Rentenanwartschaften oder auch nur seine Existenz gesichert hätten. Etwaige Versäumnisse seien daher keine wesentlich prägenden Ursachen für seinen Leistungsbezug gewesen.
Im Rahmen des Klageverfahrens legte er einen Arztbrief vom 10. August 2018 vor, wonach er sich seit 2012 in kardiologischer Behandlung befindet. Im Brief werden diverse Erkrankungen festgestellt, unter anderem Diabetes, Herzinsuffizienz, Durchblutungsstörungen und Depressionen.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 30. Januar 2018 zu verpflichten, ihn in den deutschen Staatsverband einzubürgern.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat die angefochtene Entscheidung verteidigt. Der Kläger sei vor Bewilligung der Erwerbsminderungsrente in der Lage gewesen, einer geringfügigen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Warum er dies nicht getan habe, habe er nicht dargelegt.
Das Verwaltungsgericht Hannover hat der Klage mit Urteil vom 18. Dezember 2018 stattgegeben. Die Voraussetzungen des allein streitigen § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Alt. 2 StAG lägen vor, der Kläger habe die Inanspruchnahme von Leistungen nach dem SGB XII nicht zu vertreten. Der Leistungsbezug beruhe wesentlich auf einer schwergradigen depressiven Erkrankung. Auch die Betrachtung des Zeitraums der letzten acht Jahre bis zur mündlichen Verhandlung ergebe nicht, dass der Kläger den aktuellen Leistungsbezug zu vertreten habe. Der Kläger hätte in diesem Zeitraum allenfalls geringe Anwartschaften erwerben können, bis Ende 2012 seien die für den Kläger am ehesten erreichbaren geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse zudem rentenversicherungsfrei gewesen. Selbständig tragend sei zudem, dass der Kläger aufgrund der vorgelegten Atteste den gesamten Zeitraum als erwerbsunfähig einzustufen sei. Das Verwaltungsgericht hat die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten. Zur Begründung trägt sie vor, der Kläger habe nicht ausreichend dargelegt, dass er seinen Leistungsbezug nicht zu vertreten habe. Ein psychiatrisches Gutachten aus 2013, welches auf Vorbefunden und Gesprächen aus Mitte 2012 basiere, sei nicht ohne weiteres geeignet, den Gesundheitszustand des Klägers von 2013 bis 2017 zu beurteilen. Das Gutachten selbst gehe auch von einer (verminderten) Erwerbsfähigkeit aus. Das Verwaltungsgericht habe verkannt, dass den Kläger eine Obliegenheit treffe, substantiierte Bemühungen zur Verminderung des Leistungsbezugs durch Bewerbungen um Erwerbsstellen zu unternehmen. Dies sei nicht von vornherein aussichtslos gewesen. Dabei genüge es bereits, wenn durch solche Tätigkeiten der Leistungsbezug vermindert werde; eine vollständige Unabhängigkeit von Sozialleistungen werde nicht verlangt. Darüber hinaus habe der Kläger es pflichtwidrig unterlassen, seine gesundheitliche Verfassung durch Behandlungen zu verbessern. Die Bewertung des Verwaltungsgerichts, der Kläger sei auch vor der Verrentung faktisch erwerbsunfähig gewesen, sei nicht haltbar. Sie basiere darauf, dass das Jobcenter festgestellt habe, dass der Kläger nicht arbeitsunwillig sei und ignoriere, dass das Jobcenter den Kläger als arbeitsfähig angesehen habe. Seine Erwerbsunfähigkeit habe der Kläger aber substantiierter darzulegen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - Einzelrichter der 10. Kammer - vom 18. Dezember 2018 zu ändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er sieht bereits im psychiatrischen Gutachten aus 2012 die Feststellung, dass er im sozialrechtlichen Sinne nicht erwerbsfähig sei. Die Beklagte leite allein aus dem Leistungsbezug nach dem SGB II eine Arbeitsfähigkeit des Klägers her, ohne die gesamten Umstände des Falls zu würdigen. Sie stelle überspannte Anforderungen an seine Darlegungslast und ignoriere sein Vorbringen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die Beiakten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
I. Die Berufung der Beklagten bleibt ohne Erfolg.
Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Recht stattgegeben. Die zulässige Klage ist begründet. Die Ablehnung der Einbürgerung in den deutschen Staatsverband durch Bescheid der Beklagten vom 30. Januar 2018 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 VwGO).
Der Kläger kann die Einbürgerung in den deutschen Staatsverband gemäß § 10 StAG beanspruchen.
Der Kläger erfüllt die allein im Streit stehende Voraussetzung des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG, wonach der Ausländer für eine Einbürgerung den Lebensunterhalt für sich und seine unterhaltsberechtigten Familienangehörigen ohne Inanspruchnahme von Leistungen nach dem SGB II oder dem SGB XII bestreiten können muss oder deren Inanspruchnahme nicht zu vertreten haben darf.
Die hier gegebene Inanspruchnahme von Leistungen nach dem SGB XII hat der Kläger nicht zu vertreten.
Der Begriff des Vertretenmüssens in diesem Sinne ist wertneutral auszulegen und setzt kein pflichtwidriges, schuldhaftes Verhalten voraus. Er beschränkt sich mithin nicht auf vorsätzliches oder fahrlässiges Handeln im Sinne des § 276 Abs. 1 Satz 1 BGB. Erforderlich, aber auch ausreichend ist vielmehr, dass der Ausländer durch ein ihm zurechenbares Handeln oder Unterlassen adäquat-kausal die Ursache für den - fortdauernden - Leistungsbezug gesetzt hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.2.2009 - 5 C 22.08 -, juris Rn. 23; Senatsbeschl. v. 13.2.2020 - 13 LA 491/18 -, juris Rn. 13; Urt. v. 23.6.2016 - 13 LB 144/15 -, juris Rn. 33; GK-StAR, § 10 StAG Rn. 251, Stand: November 2015; Hailbronner/Maaßen/Hecker/Kau, Staatsangehörigkeitsrecht, 6. Aufl. 2017, StAG, § 10 Rn. 39). Der von dem Begriff vorausgesetzte objektive Zurechnungszusammenhang zwischen zu verantwortendem Verhalten und Leistungsbezug ist aber in zweifacher Hinsicht begrenzt. Zum einen erfordert dieser Zusammenhang in quantitativer Hinsicht stets, dass das Verhalten des Verantwortlichen für die Verursachung oder Herbeiführung der Inanspruchnahme einbürgerungsschädlicher Sozialleistungen zumindest nicht nachrangig, sondern hierfür, wenn schon nicht allein ausschlaggebend, so doch maßgeblich bzw. prägend ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.2.2009 - 5 C 22.08 -, juris Rn. 23; Senatsbeschl. v. 13.2.2020 - 13 LA 491/18 -, juris Rn. 13; Urt. v. 23.6.2016 - 13 LB 144/15 -, juris Rn. 33 f.). Zum anderen kommt diesem Begriff ein qualitativ-zeitliches Moment zu. Ausgehend von dem Anliegen des Gesetzgebers, Personen mit achtjährigem rechtmäßigem Inlandsaufenthalt grundsätzlich einen Anspruch auf Zugang zur deutschen Staatsangehörigkeit einzuräumen, hat der Einbürgerungsbewerber für ein ihm zurechenbares und für einen aktuellen schädlichen Sozialleistungsbezug mitursächliches Verhalten in der Vergangenheit (dessen Wirkungen unabänderlich geworden sind) nach Ablauf einer Frist von acht Jahren nicht mehr einzustehen (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.2.2009 - 5 C 22.08 -, juris Rn. 28; Senatsbeschl. v. 13.2.2020 - 13 LA 491/18 -, juris Rn. 13; Urt. v. 23.6.2016 - 13 LB 144/15 -, juris Rn. 33).
Diese zunächst für das Vertretenmüssen der Inanspruchnahme von Leistungen nach dem SGB XII entwickelten Grundsätze gelten in gleicher Weise für das Vertretenmüssen der Inanspruchnahme von Leistungen nach dem SGB II (vgl. Senatsbeschl. v. 13.2.2020 - 13 LA 491/18 -, juris Rn. 15; v. 27.6.2017 - 13 PA 252/16 -, juris Rn. 10 ff.; Senatsurt. v. 23.6.2016 - 13 LB 144/15, juris Rn. 33 ff.; v. 13.11.2013 - 13 LB 99/12 -, juris Rn. 46 ff.; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 15.2.2018 - 19 E 129/17 -, juris Rn. 3 ff.; v. 21.7.2017 - 19 A 2368/15 -, juris Rn. 5 ff.; v. 8.3.2016 - 19 A 1670/13 -, juris Rn. 32 ff., insbesondere Rn. 43 f.; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 22.1.2014 - 1 S 923/13 -, juris Rn. 27 ff.; Beschl. v. 12.11.2014 - 1 S 184/14 -, juris Rn. 34 ff.). Ein Einbürgerungsbewerber hat mithin einen Bezug von Sozialleistungen nach dem SGB II insbesondere dann zu vertreten, wenn er in den vergangenen acht Jahren eine sozialrechtliche Obliegenheitspflicht dem Grunde nach verletzt hat und der Zurechnungszusammenhang dieser Pflichtverletzung mit dem aktuellen Leistungsbezug fortbesteht (vgl. Senatsbeschl. v. 13.2.2020 - 13 LA 491/18 -, juris Rn. 15 m.w.N.). Die Verhängung von Sperrzeiten durch die Arbeitsverwaltung oder sonstige leistungsrechtliche Reaktionen auf die Verletzung sozialrechtlicher Obliegenheiten können hierfür zwar eine gewisse Indizwirkung haben, sind aber nicht zwingende Voraussetzung. Sind solche Maßnahmen nicht verhängt worden, entfaltet dies keine die Einbürgerungsbehörde bindende Feststellungs- oder Tatbestandswirkung, dass ein Einbürgerungsbewerber den sozialrechtlichen Obliegenheiten zum Einsatz der eigenen Arbeitskraft stets in vollem Umfang nachgekommen ist. Bei ihrer Prüfung hat die Einbürgerungsbehörde indes zu berücksichtigen, dass bei einer einbürgerungsrechtlichen Neubewertung des in der Vergangenheit liegenden Verhaltens ein Einbürgerungsbewerber regelmäßig keine Möglichkeit hatte, ein etwa für den Einbürgerungsanspruch schädliches Verhalten aufgrund behördlicher Hinweise zu erkennen und zu ändern. Die Verletzung der Obliegenheit, durch den Einsatz der eigenen Arbeitskraft auch langfristig die eigene Altersversorgung sicherzustellen, muss daher nach Art, Umfang und Dauer von einigem Gewicht sein (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.2.2009 - 5 C 22.08 -, juris Rn. 20; GK-StAR, § 10 StAG Rn. 258, Stand: November 2015, m.w.N.). Zurechnungszusammenhang für Verletzungen sozialrechtlicher Obliegenheitspflichten besteht hiernach umso eher fort, je mehr die Einbürgerungs- oder Sozialbehörde diese Pflichten in einer für den Einbürgerungsbewerber eindeutigen und erkennbaren Art und Weise konkretisiert haben (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 31.7.2017 - 19 A 2368/15 -, juris Rn. 11). An einem Zurechnungszusammenhang fehlt es, wenn in Anbetracht des Alters und zahlreicher Erkrankungen und Einschränkungen keine konkreten Erfolgsaussichten eigenverantwortlicher Bewerbungsbemühungen bestanden (vgl. Senatsbeschl. v. 27.7.2017 - 13 PA 252/16 - juris Rn. 13).
Personen, die nach Alter, Gesundheitszustand oder sozialer Situation sozialrechtlich (§ 10 SGB II, § 11 SGB XII) nicht erwerbsverpflichtet sind, haben den Leistungsbezug normativ regelmäßig nicht zu vertreten (vgl. Senatsbeschl. v. 13.2.2020 - 13 LA 491/18 -, juris Rn. 14; Urt. v. 23.6.2016 - 13 LB 144/15 -, juris Rn. 34). Dies gilt auch bei dem Bezug einer Rente wegen vollständiger Erwerbsminderung (vgl. Senatsbeschl. v. 13.2.2020 - 13 LA 491/18 -, juris Rn. 20). Die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung setzt nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI auch den Nachweis einer vollen Erwerbsminderung voraus, die gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI dann gegeben ist, wenn der Versicherte wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. An diese Regelung zur Erwerbsminderung im Rentenversicherungsrecht knüpft auch § 8 Abs. 1 SGB II an, wonach sozialrechtlich nur erwerbsfähig ist, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (BT-Drs. 15/1516, S. 52). Beide Definitionen entsprechen einander (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 14.3.2019 - 2 L 120/16 -, juris Rn. 19).
Die Darlegungs- und Beweislast für das Nichtvertretenmüssen trägt angesichts der gesetzlichen Konstruktion von Regel und Ausnahme - und weil es sich typischerweise um Umstände handelt, die seiner persönlichen Sphäre entstammen - der Einbürgerungsbewerber (vgl. Senatsbeschl. v. 13.2.2020 - 13 LA 491/18 -, juris Rn. 16; Urt. v. 23.6.2016 - 13 LB 144/15 -, juris Rn. 34; v. 13.11.2013 - 13 LB 99/12 -, juris Rn. 35; GK-StAR, § 10 StAG Rn. 254, Stand: November 2015, m.w.N.). An den dem Einbürgerungsbewerber obliegenden Nachweis, dass er Zeiten der Nichtbeschäftigung nicht zu vertreten hat, sind allerdings keine überspannten Anforderungen zu stellen, weil der Einbürgerungsbewerber bei einer nachträglichen einbürgerungsrechtlichen Neubewertung seiner zurückliegenden Bemühungen um Arbeit in Beweisnot geraten kann, da er keinen Anlass hatte, entsprechende Bemühungen systematisch zu erfassen und beweissicher zu dokumentieren (vgl. BVerwG, Urt. V. 19.2.2009 - 5 C 22.08 -, juris Rn. 20; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 31.7.2017 - 19 A 2368/15 -, juris Rn. 9; GK-StAR, § 10 StAG Rn. 258, Stand: November 2015). Eine umfassende Dokumentation etwa der Arbeitsbemühungen ist dem Einbürgerungsbewerber im Einbürgerungsverfahren regelmäßig dann nicht abzuverlangen, wenn diese nach §§ 2 Abs. 1, 15 Abs. 1 SGB II vom Jobcenter verlangt und als sozialrechtlich hinreichend akzeptiert worden war (vgl. GK-StAR, § 10 StAG Rn. 255, Stand: November 2015).
Hieran gemessen hat der Kläger die derzeit gegebene Unfähigkeit, seinen Lebensunterhalt vollständig ohne die Inanspruchnahme von Leistungen nach dem SGB II oder dem SGB XII zu decken, nicht zu vertreten.
1. Aktuell, nach Erreichen der Regelaltersgrenze von 65 Jahren und 8 Monaten (§ 235 Abs. 2 Satz 2 SGB VI) im März 2020, hat der Kläger einen Leistungsbezug normativ nicht zu vertreten.
Gemäß § 11 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB XII darf Leistungsberechtigten eine Tätigkeit nicht zugemutet werden, wenn sie ein der Regelaltersgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung entsprechendes Lebensalter erreicht oder überschritten haben. Da dem Kläger als Empfänger von Leistungen nach dem SGB XII nach dieser Vorschrift eine Tätigkeit nicht zugemutet werden darf, hat er es auch normativ nicht zu vertreten, keiner Erwerbstätigkeit nachzugehen, um den aktuellen Leistungsbezug zu verringern oder ganz zu vermeiden.
2. Im Zeitraum der Bewilligung der Rente wegen voller Erwerbsminderung von Januar 2017 bis Ende Februar 2020 hatte der Kläger den Leistungsbezug ebenfalls normativ nicht zu vertreten.
3. Auch im Zeitraum vor Januar 2017 hat der Kläger den Leistungsbezug nicht zu vertreten.
a) Dies gilt zunächst im Hinblick auf die gesundheitsbedingte weitgehende Arbeitsunfähigkeit des Klägers. Zur Darlegung einer Arbeitsunfähigkeit sind die obigen Ausführungen zu Arbeitsbemühungen entsprechend heranzuziehen. Wenn dem Jobcenter ärztliche Atteste und Gutachten vorgelegt und von ihm sodann als sozialrechtlich hinreichend akzeptiert werden, kann von dem Kläger nunmehr nicht verlangt werden, darüber hinaus weitere Gutachten einzuholen oder sonst auf zusätzliche Weise zu dokumentieren, dass er arbeitsunfähig gewesen ist und seine Nichtbeschäftigung daher nicht zu vertreten hatte. Eine periodische Überprüfung der weiteren Gültigkeit von Gutachten allein auf Initiative des Einbürgerungsbewerbers kann jedenfalls dann nicht verlangt werden, wenn bereits eingeholten Gutachten Anhaltspunkte dafür zu entnehmen sind, dass eine Arbeitsunfähigkeit voraussichtlich von Dauer ist. Das Gutachten vom 12. Februar 2013 erfüllt diese Anforderungen, zieht es doch eine (dauerhafte) Erwerbsminderungsrente in Betracht. Es basiert auf Gesprächen aus Mitte 2012, d.h. etwa acht Jahre vor der hier getroffenen Entscheidung, und erstreckt sich somit über den gesamten in den Blick zu nehmenden Zeitraum. Das Jobcenter hat in dem Zeitraum nicht nur keine Sanktionen verhängt, es hat auch sonst in keiner Art und Weise erkennen lassen, dass der Kläger Obliegenheitspflichten verletzte, indem er sich auf weitgehende Arbeitsunfähigkeit berief.
Mangels Vorlage eines entsprechenden Prüfungsberichts kann der Senat die wohl 2014 vorgenommene Prüfung der Erwerbsfähigkeit des ärztlichen Dienstes des Jobcenters nicht berücksichtigen. Im Übrigen erscheint es dem Senat fernliegend, dass die Prüfung eine Erwerbsfähigkeit im Sinne einer möglichen uneingeschränkten Vollzeitbeschäftigung ergeben haben könnte. In dem Antwortbogen, in dem das Jobcenter auf die ärztliche Prüfung verweist, führt das Jobcenter unmittelbar davor aus, dass die gesundheitlichen Einschränkungen den Zugang zum 1. Arbeitsmarkt erheblich erschwerten. Naheliegend ist, dass der ärztliche Dienst zu einer mit dem Gutachten vom 12. Februar 2013 vergleichbaren Einschätzung gelangt ist, wonach der Kläger nur eingeschränkt (bis zu drei Stunden am Tag, nur gewisse Tätigkeiten) erwerbsfähig gewesen sein dürfte.
Soweit die Beklagte vorträgt, der Kläger habe es zu vertreten gehabt, dass er seine gesundheitlichen Einschränkungen nicht durch eine Therapie oder Ähnliches gemindert habe, so kann der Senat dem weder aus subjektiver noch aus objektiver Sicht folgen. In subjektiver Hinsicht stellt die Beklagte zu hohe Anforderungen an die dem Kläger mögliche Reaktion auf seine Krankheit. Laut Gutachten vom 12. Februar 2013 leidet der Kläger an einem durch die Depression bedingten fehlenden Antrieb und ist aufgrund von Konzentrationsstörungen nicht in der Lage, Dargebotenes ausreichend präzise zu erfassen. Die Merkfähigkeit des Klägers sei so beeinträchtigt, dass er nur mangelhaft in der Lage sei, neue Informationen wiederzuerkennen und abzurufen. Der Kläger verfüge nur über eine stark verminderte kognitive Leistungsfähigkeit. Unter diesen Bedingungen eine aktive Rolle des Klägers bei der Überwindung seiner Krankheit zu fordern, ist dem Kläger nicht zuzumuten. Aber auch in objektiver Hinsicht kann der Senat nicht erkennen, dass der Kläger, der der deutschen Sprache nicht mächtig ist, eine adäquate Therapiemöglichkeit hätte finden können.
b) Das fehlende Vertretenmüssen gilt schließlich auch im Hinblick auf die verbliebene Arbeitsfähigkeit des Klägers. Laut des Gutachtens vom 12. Februar 2013 wäre der Kläger nur in der Lage gewesen, täglich deutlich weniger als drei Stunden zu arbeiten, und dies ohne berufliche Qualifikation und ausreichende Sprachkenntnisse. Das Verwaltungsgericht hat deshalb zutreffend die Frage aufgeworfen, ob das Fehlen allenfalls geringer Anwartschaften für den jetzigen Leistungsbezug prägend sein kann (Urteilsabschrift S. 7). Diese Frage verneint auch der Senat.
In dem Rahmen, in dem der Kläger allenfalls zumutbar hätte arbeiten können, wäre alles andere als eine geringfügige Beschäftigung im Sinne des § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV nicht zu erwarten gewesen. Diese war bis Ende 2012 rentenversicherungsfrei (§ 5 Abs. 2 Nr. 1 SGB VI in der Fassung bis zum 31.12.2012), seitdem besteht eine Befreiungsmöglichkeit (§ 6 Abs. 1b Satz 1 SGB VI). Selbst wenn der Kläger sich also erfolgreich um eine Beschäftigung bemüht hätte, hätte er sich von der Rentenversicherungspflicht befreien lassen können, so dass keine Anwartschaften entstanden wären. Die Inanspruchnahme einer von Gesetz wegen eingeräumten Befreiungsmöglichkeit kann nicht als Verletzung einer sozialrechtlichen Obliegenheitspflicht gewertet werden. Prägend für den Leistungsbezug wären die erworbenen Anwartschaften, d.h. Rentenversicherungsbeiträge eines geringfügig Beschäftigten von Juli 2012 bis Dezember 2016, ohnehin kaum.
Darüber hinaus geht der Senat davon aus, dass in Anbetracht des Alters und zahlreicher Erkrankungen und Einschränkungen keine konkreten Erfolgsaussichten eigenverantwortlicher Bewerbungsbemühungen des Klägers bestanden haben. Der Kläger ist ungelernt, nicht der deutschen Sprache mächtig und kann gesundheitsbedingt nur sehr eingeschränkt Tätigkeiten nachgehen. Insoweit wird die nicht bindende Einschätzung des Jobcenters geteilt, dass der Zugang zum Arbeitsmarkt erheblich erschwert war.
II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VWGO.
III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
IV. Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.