Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 22.07.2020, Az.: 13 ME 223/20
allgemein anerkannte Regeln der Technik; Frist, angemessene; Gesundheitsgefährdung; Trinkwasser; Trinkwasserversorgung; Unterbrechung; Wasserversorgungsanlage; Wiederinbetriebnahme
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 22.07.2020
- Aktenzeichen
- 13 ME 223/20
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2020, 71790
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 20.05.2020 - AZ: 4 B 47/20
Rechtsgrundlagen
- § 9 Abs 3 TrinkwV
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Die sofortige Unterbrechung des Betriebs einer Wasserversorgungsanlage nach § 9 Abs. 3 Satz 2 TrinkwV ist nur für den Zeitraum einer akuten Gefährdung der menschlichen Gesundheit zulässig.
Das Erfordernis der Beachtung der allgemein anerkannten Regeln der Technik bei der
Wiederinbetriebnahme einer Wasserversorgungsanlage in § 9 Abs. 3 Satz 3 TrinkwV betrifft den Vorgang der Wiederinbetriebnahme, nicht den Zustand der wieder in Betrieb
genommenen Anlage.
Bei der Anordnung der Unterbrechung des Betriebs einer Wasserversorgungsanlage nach
§ 9 Abs. 3 Satz 1 TrinkwV ist ebenso wie bei der Anordnung einer anderweitigen Versorgung oder der Erteilung
von Auflagen nach § 9 Abs. 2 TrinkwV aus Gründen der Verhältnismäßigkeit eine angemessene Frist zu setzen.
Tenor:
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Göttingen - 4. Kammer - vom 20. Mai 2020 wird zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 EUR festgesetzt.
Gründe
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Göttingen vom 20. Mai 2020 bleibt ohne Erfolg.
Zu Recht hat das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 21. Januar 2020 angeordnet. Die mit der Beschwerdebegründung hiergegen geltend gemachten Gründe, auf deren Prüfung sich der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu beschränken hat, rechtfertigen keine andere Entscheidung.
Die Antragsgegnerin wendet sich gegen die Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass sie den Betrieb der Wasserversorgungsanlage Steinatalsperre zwar habe unterbrechen dürfen, die Voraussetzungen für eine Unterbrechung „mit sofortiger Wirkung“ allerdings nicht vorlägen. Sie sieht ihre Verfügung vom 21. Januar 2020, mit der sie der Antragstellerin „mit sofortiger Wirkung“ die Wiederinbetriebnahme der Wasserversorgungsanlage Steinatalsperre untersagt hat, bis durch eine geeignete Aufbereitung im Sinne des § 5 Abs. 5 TrinkwV die Anforderungen an das Trinkwasser i.S.d. § 1 TrinkwV erfüllt werden können, durch § 9 Abs. 3 Satz 3 TrinkwV gerechtfertigt.
Dieser Argumentation vermag der Senat nicht zu folgen. Nach § 9 Abs. 3 Satz 3 TrinkwV haben die Unterbrechung des Betriebs und die Wiederinbetriebnahme der betroffenen Wasserversorgungsanlage unter Berücksichtigung der allgemein anerkannten Regeln der Technik zu erfolgen. Diese Bestimmung steuert indes allein den Vorgang der Unterbrechung bzw. der Wiederinbetriebnahme. In der Praxis hat sich gezeigt, dass die Unterbrechung der Wasserversorgung und insbesondere auch die Wiederinbetriebnahme großen Einfluss auf die Wasserqualität haben können. Daher müssen beide Vorgänge fachgerecht ausgeführt werden. Um dies sicherzustellen, wurde die Forderung nach Beachtung der allgemein anerkannten Regeln der Technik aufgenommen (vgl. BR-Drs. 530/10 S. 72). Damit kann auf diese Norm nur die Verpflichtung gestützt werden, die für den Unterbrechungsvorgang bzw. den Vorgang der Wiederinbetriebnahme allgemein anerkannten Regeln der Technik zu beachten. Eine Forderung, die wieder in Betrieb genommene Wasserversorgungsanlage müsse nunmehr den allgemein anerkannten Regeln der Technik entsprechen, lässt sich dieser Vorschrift hingegen nicht entnehmen. Dies wird auch daraus deutlich, dass die Erhebung einer derartigen Forderung für den in gleicher Weise geregelten Fall der Unterbrechung keinen Sinn ergäbe.
Eine sofortige Unterbrechung, der die mit „sofortiger Wirkung“ versehene Untersagung der Wiederinbetriebnahme der Wasserversorgungsanlage gleichzusetzen ist, kann aufgrund ihres Ausnahmecharakters nur unter den Voraussetzungen des § 9 Abs. 3 Satz 2 TrinkwV erfolgen. Die Anordnung einer sofortigen Unterbrechung der Wasserversorgung ist demnach nur zulässig, wenn das Trinkwasser im Leitungsnetz mit Krankheitserregern im Sinne des § 5 TrinkwV in Konzentrationen verunreinigt ist, die unmittelbar eine Schädigung der menschlichen Gesundheit erwarten lassen, und keine Möglichkeit besteht, das verunreinigte Wasser entsprechend § 5 Abs. 5 TrinkwV hinreichend zu desinfizieren, oder durch chemische Stoffe in Konzentrationen verunreinigt ist, die eine akute Schädigung der menschlichen Gesundheit erwarten lassen. Diese Voraussetzungen waren zum maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheides vom 21. Januar 2020 nicht erfüllt. Die am 13. Januar 2020 erneut aufgetretene Belastung mit Clostridium perfringens, die zu einer Einstellung des Betriebs der Wasserversorgungsanlage führte, war am 16. Januar 2020 nicht mehr nachzuweisen. In der Beschwerdebegründung führt die Antragsgegnerin auch keine weiteren Gesichtspunkte an, die eine sofortige Unterbrechung der Wasserversorgung durch die Wasserversorgungsanlage Steinatalsperre rechtfertigte. Der Umstand, dass diese Wasserversorgungsanlage - auch nach Auffassung des Landesgesundheitsamtes (vgl. Schreiben vom 20. Januar 2020, GA, Bl. 91 ff.) - sowohl hinsichtlich der Wassergewinnung als auch der Wasseraufbereitung nicht mehr den allgemein anerkannten Regeln der Technik entspricht und deshalb insbesondere in Zeiten der Schneeschmelze und bei Starkregenereignissen die Gefahr einer mikrobiologischen Verunreinigung besteht, reicht dazu nicht aus. § 9 Abs. 3 Satz 2 TrinkwV schreibt lediglich für den Zeitraum einer akuten Gefahrenlage die sofortige Unterbrechung der Wasserversorgung vor. Dies ist im vorliegenden Fall am 13. Januar 2020 augenscheinlich durch die Antragstellerin selbst vorgenommen worden. Für eine Unterbrechung über den Zeitraum einer akuten Gefährdung hinaus bildet § 9 Abs. 3 Satz 2 TrinkwV keine Rechtsgrundlage.
Allerdings hat das Verwaltungsgericht aufgrund der seit 2007 mehrfach aufgetretenen Verunreinigung des in der Trinkwasserversorgungsanlage Steinatalsperre gewonnenen Rohwassers mit Escherichia coli, coliformen Bakterien, Enterokokken und Clostridium perfringens die Voraussetzungen einer Unterbrechung der Wasserversorgung nach § 9 Abs. 3 Satz 1 TrinkwV bejaht. Aufgrund der erkennbaren Anfälligkeit der Anlage für derartige Verunreinigungen ist eine Gefährdung der menschlichen Gesundheit durchaus zu besorgen. Jedoch wäre diese Gefährdung nach § 9 Abs. 2 TrinkwV durch die Anordnung einer anderweitigen Wasserversorgung oder die Auflage, die Anlage soweit zu ertüchtigen, dass sie sowohl im Normalbetrieb als auch bei Akutereignissen wie Schneeschmelze oder Starkregen den Anforderungen der Trinkwasserverordnung genügt, grundsätzlich auszuschließen. Erst wenn dies nicht auf zumutbare Weise möglich ist, kommt eine - erforderlichenfalls auch dauerhafte - Unterbrechung nach § 9 Abs. 3 Satz 1 TrinkwV in Betracht. In beiden Fällen ist aus Gründen der Verhältnismäßigkeit jedoch eine angemessene Frist zu setzen. Diese hat insbesondere den Grad der Gefährdung und die Möglichkeit der Antragstellerin zu berücksichtigen, ohne längere Unterbrechung der leitungsgebundenen Trinkwasserversorgung für Abhilfe zu sorgen. Aufwand der Maßnahme und Schwere der Gefährdung sind gegeneinander abzuwägen. In diesem Zusammenhang können aber auch schnell umsetzbare Auflagen für eine vorübergehende Weiternutzung der Wasserversorgungsanlage Steinatalsperre bis zu ihrer Ertüchtigung oder der Umstellung der Wasserversorgung auf den Brunnen Bartolfelde II erteilt werden. Dazu kann im Hinblick auf die vorliegende Gefahr einer mikrobiellen Verunreinigung erforderlichenfalls letztlich auch ein gegenüber der betroffenen Bevölkerung auszusprechendes Abkochgebot gehören (vgl. BR-Drs. 721/00, S. 72 f.).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1, Abs. 2 GKG sowie Nr. 1.5 Satz 1 des Streitwertkatalogs (NordÖR 2014, 11).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).