Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 09.07.2020, Az.: 1 LA 162/18

Gewerbebetrieb; Kerngebiet; Lärm; Musik; nicht störend; nicht wesentlich störend; Tanzschule

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
09.07.2020
Aktenzeichen
1 LA 162/18
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2020, 71761
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 18.10.2018 - AZ: 12 A 4086/16

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Eine Tanzschule ist im Kerngebiet als sonstiger nicht (wesentlich) störender Gewerbebetrieb (§ 7 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO) allgemein zulässig.

Tenor:

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 12. Kammer (Einzelrichterin) - vom 18. Oktober 2018 wird abgelehnt.

Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind erstattungsfähig.

Der Wert des Streitgegenstandes für das Zulassungsverfahren wird auf 15.000 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Der Kläger wendet sich gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zum Betrieb einer Tanzschule, weil er sich unzumutbaren Lärmbelästigungen ausgesetzt sieht.

Der Kläger ist Eigentümer des mit einem Wohn- und Geschäftshaus bebauten Grundstücks A-Straße in der Innenstadt der Beklagten. Das Grundstück liegt ebenso wie das östlich benachbarte, ebenfalls mit einem Wohn- und Geschäftshaus bebaute Grundstück der Beigeladenen (A-Straße) in der Fußgängerzone, die von einer vielfältigen gewerblichen Nutzung (Einzelhandel, Gastronomie, Dienstleistungen) geprägt ist. Der geltende Bebauungsplan Nr. 36 „B-straße/A-Straße“ aus den Jahren 1972/1978 setzt für beide Grundstücke ein Kerngebiet fest, in dem Wohnungen oberhalb des Erdgeschosses allgemein zulässig sind.

Unter dem 19. September 2014 erteilte die Beklagte der Beigeladenen eine Baugenehmigung zum Betrieb einer Tanzschule. Gegen diese Genehmigung erhob der Kläger Widerspruch, den er mit unzumutbaren Lärmbeeinträchtigungen durch die Tanzmusik begründete. Daraufhin veranlasste die Beigeladene eine schalltechnische Untersuchung durch Messung der Lärmimmissionen am Wohnhaus des Klägers sowie eine ergänzende Betrachtung der Vorbelastung. Die Messung ergab, dass eine Überschreitung des Immissionsrichtwertes der TA Lärm für Kerngebiete zur Tagzeit von 60 dB(A) nur dann zu erwarten sei, wenn alle Lichtkuppeln dauerhaft geöffnet seien und während der maximalen Betriebszeit von neun Stunden durchgehend eine sehr laute Übungseinheit (Hip-Hop-Musik mit Kommandos des Tanzlehrers) erfolge. In diesem Fall betrage der Immissionswert 61,5 dB(A). Bei einer realistischen Betriebsführung mit maximal fünf Stunden mit sehr lauten und vier Stunden mit „normal lauten“ Übungseinheiten betrage der Immissionswert 56,5 dB(A). Die Vorbelastung aufgrund weiterer Betriebe in der Nachbarschaft sei nicht zu berücksichtigen, weil deren Einwirkungsbereich nach der TA Lärm nicht bis zum Klägergrundstück reiche. Daraufhin gab die Beklagte dem Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 17. Juni 2016 insoweit statt, als sie die schalltechnische Untersuchung und insbesondere deren Vorgaben zum unbedenklichen Umfang des Tanzschulbetriebs zum Gegenstand der Baugenehmigung erklärte. Den weitergehenden Widerspruch wies sie zurück.

Die dagegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht nach Einholung einer weiteren schalltechnischen Untersuchung zur den durch die Tanzschule verursachten tieffrequenten Geräuschimmissionen mit dem angegriffenen Urteil vom 18. Oktober 2018 abgewiesen. Die Tanzschule sei im Kerngebiet bei der gebotenen typisierenden Betrachtungsweise als sonstiger nicht störender Gewerbebetrieb allgemein zulässig. Sie sei auch nicht gemäß § 15 Abs. 1 BauNVO im Einzelfall unzulässig. Die Tanzschule liege ebenso wie das Grundstück des Klägers in einem Bereich, der von einer kerngebietstypischen Nutzung geprägt sei, sodass eine besondere Schutzwürdigkeit nicht bestehe. Von ihr gingen auch keine schädlichen Umwelteinwirkungen auf die Nachbarschaft aus. Der Immissionsrichtwert von 60 dB(A) werde nach Maßgabe der in die Baugenehmigung aufgenommenen Regelungen zum Lärmschutz am Grundstück des Klägers sicher eingehalten. Auch tieffrequente Geräusche in schädlichem Umfang verursache die Tanzschule im genehmigten Normalbetrieb nicht.

Gegen diese Entscheidung wendet sich der Kläger mit seinem auf die Zulassungsgründe ernstlicher Zweifel, besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten sowie einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gestützten Antrag auf Zulassung der Berufung. Die Beklagte und die Beigeladene treten dem Antrag entgegen.

II.

Der Zulassungsantrag hat keinen Erfolg.

Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Solche Zweifel setzen voraus, dass es dem Rechtsmittelführer gelingt, wenigstens einen tragenden Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung des erstinstanzlichen Urteils mit plausiblen Gegenargumenten derart in Frage zu stellen, dass sich dadurch etwas am Entscheidungsergebnis ändern könnte. Das ist dem Kläger nicht gelungen.

Der Kläger missversteht das Verwaltungsgericht, wenn er meint, das Gericht sei davon ausgegangen, dass er aufgrund der Lage seines Grundstücks im Kerngebiet weitergehende Lärmimmissionen als bei einer Lage im Mischgebiet hinnehmen müsse. Eine derartige Aussage hat das Verwaltungsgericht nicht getroffen, sondern es hat seiner Entscheidung zutreffend den auch für Mischgebiete geltenden Immissionsrichtwert von 60 dB(A) am Tag nach Nr. 6.1 lit. d) TA Lärm zugrunde gelegt. Weitergehende Belastungen will das Verwaltungsgericht dem Kläger nicht zumuten. Dagegen ist nichts zu erinnern.

Nicht zu beanstanden sind die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur allgemeinen Zulässigkeit von Tanzschulen im Kerngebiet gemäß § 30 Abs. 1 BauGB i.V. mit § 7 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO 1968/1977. Bei einer Tanzschule handelt es sich um einen sonstigen nicht störenden Gewerbebetrieb im Sinne der Vorschrift. Dabei ist – das Verwaltungsgericht hat das zutreffend dargestellt – eine typisierende Betrachtungsweise zugrunde zu legen. Ein konkreter Betrieb ist als baunutzungsrechtlich unverträglich einzustufen, wenn Betriebe seines Typs bei funktionsgerechter Nutzung üblicherweise für die Umgebung in diesem Sinne unzumutbare Störungen hervorrufen können; auf das Maß der konkret hervorgerufenen oder in Aussicht genommenen Störungen kommt es grundsätzlich nicht an. Eine typisierende Betrachtungsweise verbietet sich nur dann, wenn der zur Beurteilung stehende Betrieb zu einer Branche gehört, deren übliche Betriebsformen hinsichtlich des Störgrades eine große Bandbreite aufweisen, die von nicht wesentlich störend bis störend oder sogar erheblich belästigend reichen kann. (vgl. BVerwG, Beschl. v. 27.6.2018 - 4 B 10.17 -, BRS 86 Nr. 57 = juris Rn.8 f. zu § 6 BauNVO m.w.N.). Das zugrunde gelegt ist der Betrieb einer Tanzschule im Kerngebiet allgemein zulässig. Eine Tanzschule ist dadurch gekennzeichnet, dass überschaubaren Personengruppen Tanzunterricht erteilt wird. Tanzunterricht kommt zwar aufgrund der Musik und der Kommandos des Tanzlehrers nicht ohne eine gewisse Geräuschentwicklung aus. Diese Geräuschentwicklung erreicht jedoch typischerweise nicht das Maß etwa einer Diskothek, die durch einen großen Besucherkreis, eine in aller Regel besonders laute Musikbeschallung und zudem erheblichen An- und Abreiseverkehr gekennzeichnet ist und die dennoch zu den kerngebietstypischen Vergnügungsstätten im Sinne von § 7 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO zählt (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.2.2000 - 4 C 23.98 -, BRS 63 Nr. 80 = juris Rn. 11). Schon dieser Vergleich zeigt, dass eine Tanzschule zu den im Kerngebiet allgemein zulässigen Betrieben zählt. Die Bandbreite der Betriebsformen einer Tanzschule reicht nicht so weit, dass hinsichtlich der generellen bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit eine Einzelfallbetrachtung geboten wäre.

Einen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme aus § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO hat das Verwaltungsgericht ebenfalls zu Recht verneint. Von der Tanzschule gehen unter Zugrundelegung des hier allein maßgeblichen genehmigten Betriebs keine Belästigungen oder Störungen aus, die für den Kläger nach der Eigenart eines Kerngebietes unzumutbar sind. Die Beschränkung der Durchführung sehr lauter Kurse auf maximal fünf Stunden am Tag stellt zuverlässig sicher, dass der Immissionsrichtwert von 60 dB(A) auf dem Grundstück des Klägers eingehalten bzw. sogar deutlich unterschritten wird. Schallimmissionen von bis zu 60 dB(A) mögen dem Kläger nach dessen subjektiver Sicht unerträglich laut vorkommen. Es handelt sich indes um die für ein Kerngebiet typischen Immissionen; wer im Kerngebiet wohnt, muss diese hinnehmen und kann keinen weitergehenden Schutz beanspruchen. Das Versprechen besonderer Wohnruhe gehört gerade nicht zu den Vorzügen eines Kerngebietes.

Der Einwand, die Einhaltung der immissionsschutzrechtlichen Vorgaben der Baugenehmigung sei praktisch kaum zu überprüfen, geht fehl. Abgesehen davon, dass nach allen vorliegenden Beschreibungen des Tanzschulbetriebs der Beigeladenen bei der gebotenen realitätsnahen Betrachtung schon im Ausgangspunkt nicht damit zu rechnen ist, dass über mehr als fünf Stunden sehr laute Kurse stattfinden, hat die Beklagte die Auflage so gefasst, dass sie die Einhaltung bestimmter Innenpegel über bestimmte Zeiträume verbindlich vorgibt. Das ist – das Verwaltungsgericht hat dies zutreffend ausgeführt – nicht zu beanstanden; die entsprechende Regelung ist hinreichend bestimmt und vollziehbar. Ihre praktische Handhabung wird zudem dadurch erleichtert, dass die schalltechnische Untersuchung als Bestandteil der Baugenehmigung selbst eindeutige Hinweise dafür gibt, welcher Kurs als sehr laut und welcher Kurs als lediglich „normal laut“ einzustufen ist. Die Angaben der Betriebsbeschreibung zu der verwendeten Musikanlage sind vor diesem Hintergrund ohne Belang; sie zielen nicht darauf ab, die Einhaltung der zulässigen Innenpegel unter allen Umständen sicherzustellen.

Zu Unrecht meint der Kläger, die Beklagte habe Schalldämmmaße für bestimmte Bauteile sowie eine mechanische Entlüftung der Tanzräume anordnen müssen. Für eine derartige Anordnung bestand mit Blick auf die sicher eingehaltenen Immissionsrichtwerte weder Anlass noch Berechtigung.

Soweit der Kläger schließlich meint, die nachträgliche Untersuchung der tieffrequenten Geräusche habe nicht alle seine berechtigten Bedenken ausgeräumt, genügt dieser Vortrag nicht den Darlegungsanforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO. Es ist nicht ersichtlich, aus welchen Gründen die – dem Senat in jeder Hinsicht nachvollziehbaren – Ausführungen des Verwaltungsgerichts fehlerhaft sein könnten.

Die weiteren Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 3 VwGO liegen ebenfalls nicht vor. Die Bestimmung des geschuldeten Immissionsschutzes im Kerngebiet ist keinesfalls besonders schwierig, sondern folgt unmittelbar aus den §§ 7, 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO in Verbindung mit dem für ein Kerngebiet geltenden Immissionsrichtwert der TA Lärm. Gleiches gilt für die Frage der hier gelungenen Konkretisierung der Anforderungen des Immissionsschutzes in der Baugenehmigung. Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ist weder im Sinne des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargetan noch ersichtlich. Der Kläger geht erneut von der fehlerhaften Annahme aus, das Verwaltungsgericht habe seinem Wohnhaus nicht das „volle Schutzniveau“ zuerkannt. Das Gegenteil ist richtig.

Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind für erstattungsfähig zu erklären, weil sie einen Antrag gestellt und sich so einem Kostenrisiko ausgesetzt hat.

Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).