Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 23.07.2020, Az.: 2 PA 245/20

Ausschluss vom Unterricht; Erziehungsmaßnahme; Erziehungsmittel; Gewalt; Ordnungsmaßnahme; Ordnungsmaßnahme: Schule; pädagogische Gesichtspunkte; pädagogischer Bewertungsspielraum; Pflichtverletzung; Schule; Schulveranstaltung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
23.07.2020
Aktenzeichen
2 PA 245/20
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2020, 71796
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 21.04.2020 - AZ: 6 A 336/18

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Bei dem Ausschluss von einer freiwilligen zweitägigen Schulveranstaltung handelt es sich um ein Erziehungsmittel im Sinne von § 61 Abs. 1 NSchG und nicht um eine Ordnungsmaßnahme, wenn die Schülerinn bzw. der Schüler in dieser Zeit einer Parallelklasse zugewiesen wird.
2. Erziehungsmittel betreffen allein das Schulverhältnis, nicht aber das Grundverhältnis der Schülerin bzw. des Schülers. Sie dürfen die Schwelle zu einem nachhaltigen Eingriff in die subjektiven Rechte der Schülerin bzw. des Schülers nicht überschreiten.
3. Sind die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 61 Abs. 1 Satz 2 NSchG erfüllt und liegt eine Pflichtverletzung der Schülerin bzw. des Schülers vor, besteht ein weiter pädagogischer Bewertungsspielraum der Lehrkraft bzw. der Klassenkonferenz.

Tenor:

Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Braunschweig - 6. Kammer - vom 21. April 2020 wird zurückgewiesen.

Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

Gründe

I.

Die Antragsteller begehren Prozesskostenhilfe für eine noch zu erhebende Klage gegen den Ausschluss von einem zweitägigen Schulprojekt.

Der Antragsteller zu 2. besuchte im Schuljahr 2017/2018 die 9. Klasse des antragsgegnerischen Gymnasiums. Im November/Dezember 2017 kam es zu mehreren körperlichen Auseinandersetzungen mit einem Mitschüler, nachdem der Antragsteller zu 2. von diesem verbal provoziert worden war. Dieses Verhalten, dem in der Vergangenheit ähnliche Vorfälle vorangegangen waren, nahm die Klassenkonferenz des Antragsgegners zum Anlass, den Antragsteller zu 2. von der Teilnahme an einer freiwilligen zweitägigen Schulveranstaltung („Projekt Hochseilgarten“), die im Juni 2018 stattgefunden hat, auszuschließen. Stattdessen sollte er den Unterricht in einer Parallelklasse besuchen. Dies teilte der Antragsgegner den Antragstellern mit Schreiben vom 12. Januar 2018 mit; in diesem Schreiben wird der Ausschluss ausdrücklich als Erziehungsmaßnahme bezeichnet.

Die Antragsteller beantragten daraufhin die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine Klage und einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz. Sie machten insbesondere geltend, dass der Anlass für die Maßnahme nicht klar dokumentiert und in der Sache nicht ausreichend sei, um diese zu rechtfertigen. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners handele es sich bei dem Ausschluss von dem Projekt nicht um ein Erziehungsmittel, sondern um eine Ordnungsmaßnahme.

Diese Anträge lehnte das Verwaltungsgericht Braunschweig mit Beschlüssen vom 31. Mai 2018 (vorläufiger Rechtsschutz) und vom 21. April 2020 (Hauptsacheverfahren) ab. Gegen den letztgenannten Beschluss richtet sich die Beschwerde der Antragsteller.

II.

Die zulässige Beschwerde bleibt ohne Erfolg.

Das Verwaltungsgericht hat zu Recht und mit zutreffender Begründung entschieden, dass die Antragsteller keinen Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe haben (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V. mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Die beabsichtigte Rechtsverfolgung hatte zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt der Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfegesuchs, die spätestens mit der Vorlage der ergänzenden Sachverhaltsdarstellung durch den Antragsgegner im Mai 2018 und damit noch vor Erledigung der Hauptsache eingetreten ist, keine hinreichende Aussicht auf Erfolg.

Rechtsgrundlage für den Ausschluss von dem Projekt Hochseilgarten ist § 61 Abs. 1 NSchG. Nach dieser Vorschrift sind Erziehungsmittel als pädagogische Einwirkungen gegenüber einer Schülerin oder einem Schüler zulässig, die oder der den Unterricht beeinträchtigt oder in anderer Weise ihre oder seine Pflichten verletzt hat. Sie können von einzelnen Lehrkräften oder von der Klassenkonferenz angewendet werden.

Erziehungsmittel nach § 61 Abs. 1 NSchG dienen pädagogischen Zwecken. Mit ihnen soll auf die Schülerin bzw. den Schüler eingewirkt werden, um diese bzw. diesen zukünftig zu einem regelgerechten Verhalten zu veranlassen (vgl. Senatsbeschl. v. 15.10.2009 - 2 ME 307/09 -, juris Rn.24). Gegenüber den in § 61 Abs. 3 NSchG abschließend aufgeführten Ordnungsmaßnahmen handelt es sich um mildere Mittel, die die Schwelle zu einem nachhaltigen Eingriff in die subjektiven Rechte der Schülerin bzw. des Schülers nicht überschreiten dürfen. Erziehungsmittel betreffen daher allein das Schulverhältnis, nicht aber das Grundverhältnis der Schülerin bzw. des Schülers. In Betracht kommen beispielsweise das erzieherische Gespräch, die Ermahnung, Gruppengespräche mit Schülern und Eltern, die mündliche oder schriftliche Missbilligung des Fehlverhaltens, der Ausschluss von der laufenden Unterrichtsstunde, Maßnahmen mit dem Ziel der Wiedergutmachung angerichteten Schadens und die Beauftragung mit Aufgaben, die geeignet sind, das Fehlverhalten zu verdeutlichen. Da sie nicht über den Rechtskreis der Schule hinausreichen, handelt es sich nicht um Verwaltungsakte im Sinne von § 1 Abs. 1 Nds. VwVfG i.V. mit § 35 Satz 1 VwVfG. Es fehlt an der erforderlichen Außenwirkung.

Dem stehen die in § 61 Abs. 2 bis 7 NSchG abschließend geregelten Ordnungsmaßnahmen gegenüber. Ordnungsmaßnahmen betreffen das Grundverhältnis des Schülers, weil sie sich auf die Schulpflicht (§ 58 NSchG) auswirken oder aber dauerhafte und schwerwiegende Auswirkungen auf die Art und Weise des Schulbesuchs haben. Derartige Maßnahmen werden durch Verwaltungsakt angeordnet; der Übergriff in die persönliche Rechtsstellung von Schülern und Eltern begründet die erforderliche unmittelbare Rechtswirkung nach außen. Wie bereits § 61 Abs. 2 NSchG belegt, rechtfertigt nicht jedes Fehlverhalten die Anordnung einer Ordnungsmaßnahme. Neben pädagogischen Erwägungen kommt dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besonderes Gewicht zu (vgl. dazu und zur gerichtlichen Überprüfung Senatsbeschl. v. 14.5.2019 - 2 PA 490/18 -, juris Rn. 6 m.w.N.).

Davon ausgehend handelt es sich bei dem Ausschluss von dem Projekt Hochseilgarten - wie der Antragsgegner und das Verwaltungsgericht zu Recht angenommen haben - um ein Erziehungsmittel. Es handelt sich um eine freiwillige Schulveranstaltung, die zwar in das pädagogische Konzept des Antragsgegners eingebunden ist, ohne dass die Teilnahme jedoch zwingend erwartet wird. Da der Antragsteller zu 2. stattdessen den Unterricht in einer Parallelklasse besuchen und daher nicht von Unterricht als solches ausgeschlossen werden sollte, greift die Maßnahme nicht in sein Grundverhältnis zur Schule ein und lässt die Schulpflicht und das damit korrespondierende Schulbesuchsrecht unberührt (vgl. zutreffend OVG Hamburg, Urt. v. 2.11.2001 - 1 Bf 413/00 -, juris Rn. 32; Beschl. v. 24.2.2015 - 1 Bs 28/15 -, juris Rn. 7).

Auch Erziehungsmittel sind gerichtlich überprüfbar. Sind die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 61 Abs. 1 Satz 2 NSchG erfüllt und liegt eine Pflichtverletzung der Schülerin bzw. des Schülers vor, besteht allerdings ein weiter pädagogischer Bewertungsspielraum der Lehrkraft bzw. der Klassenkonferenz. Das Gericht prüft lediglich, ob die Grenzen des Spielraums überschritten sind. Ihm ist es verwehrt, seine eigene Bewertung an die Stelle der Bewertung der entscheidungsbefugten Stellen zu setzen. Auch darin ist dem Verwaltungsgericht zuzustimmen.

Das zugrundegelegt hat die begehrte Rechtsverfolgung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg. Der Antragsteller zu 2. hat ausweislich des Protokolls der Klassenkonferenz von 10. Januar 2018, der eigenen Schilderung der Antragsteller und der in erster Instanz vorgelegten ergänzenden Schilderungen des Klassenlehrers auf Provokationen wiederholt mit Gewalt gegen einen Mitschüler reagiert. Er hat damit eine erhebliche Pflichtverletzung begangen, die grundsätzlich auch die Verhängung einer Ordnungsmaßnahme rechtfertigen kann. Es zählt - das Verwaltungsgericht hat dies zu Recht hervorgehoben - zu den allgemeinen und für Schülerinnen und Schüler selbstverständlich mit der Schulgemeinschaft verbundenen Pflichten, keine unerlaubte Gewalt gegen Personen und Sachen auszuüben. Vandalismus und Gewalt kann die Schule regelmäßig mit den Mitteln des § 61 NSchG konsequent entgegenwirken (vgl. Senatsbeschl. v. 8.6.2020 - 2 ME 179/20 -, juris Rn.9).

Die Einwände der Antragsteller verfangen nicht. Eine verbale Provokation kann einen gewaltsamen Übergriff nicht rechtfertigen. Das gilt hier in verstärktem Maße, weil der Antragsteller zu 2. zum Zeitpunkt des Vorfalls bereits 15 Jahre alt war und es sich nicht um einen Einzelfall, sondern um ein wiederholtes Verhalten handelt. Eine sonstige Rechtfertigung für dieses Verhalten ist weder dargetan noch ersichtlich.

Auch gegen die Auswahl des Erziehungsmittels bestehen unter Berücksichtigung des pädagogischen Bewertungsspielraums des Antragsgegners keine Bedenken. Der Antragsgegner hat bereits in seinen Erläuterungen zum Projekt Hochseilgarten im Verwaltungsvorgang und vertiefend durch Vorlage der ergänzenden Darstellung des Klassenlehrers plausibel dargelegt, warum er von anderen Maßnahmen abgesehen hat. Insbesondere ist die Überlegung, die Teilnahme des Antragstellers zu 2. an einem Kletterprojekt, bei dessen Durchführung es mit Blick auf die damit verbundenen Risiken besonders auf Verlässlichkeit ankommt, bringe im Fall eines erneuten Kontrollverlusts eine Gefährdung anderer Schülerinnen und Schüler mit sich, in jeder Hinsicht nachvollziehbar.

Nur ergänzend merkt der Senat an, dass die Beurteilung der Erfolgsaussichten nicht günstiger ausfallen würde, wenn man die ergänzenden Erläuterungen des Klassenlehrers, die erst im gerichtlichen Verfahren vorgelegt wurden, außer Acht lässt. Bereits der Verwaltungsvorgang und insbesondere das Protokoll der Klassenkonferenz lassen den Sachverhalt und die maßgeblichen Erwägungen hinreichend deutlich erkennen. Eine weitergehende Dokumentation war mit Blick auf die geringe Eingriffsintensität eines Erziehungsmittels von Rechts wegen nicht geschuldet.

Hinsichtlich der in erster Instanz erhobenen weiteren Einwände nimmt der Senat Bezug auf die zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts und macht sich diese zu eigen (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO (vgl. Ziffer 5502 der Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG). Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. mit § 127 Abs. 4 ZPO werden die Kosten des Beschwerdeverfahrens nicht erstattet.