Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 03.06.2024, Az.: 2 LB 37/20

Anspruch eines syrischen Staatsangehörigen arabischer Volks- und sunnitischer Religionszugehörigkeit mit subsisiärem Schutzstatus auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
03.06.2024
Aktenzeichen
2 LB 37/20
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2024, 16065
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2024:0603.2LB37.20.00

Verfahrensgang

vorgehend
VG Osnabrück - 18.09.2018 - AZ: 7 A 440/16

Amtlicher Leitsatz

Grenzen der Entscheidung des Berufungsgerichts im Asylrechtsstreit ohne mündliche Verhandlung im Beschlussverfahren (§ 130a VwGO).

  1. 1.

    Das Berufungsgericht darf im Asylrechtsstreit nicht im Wege des Beschlussverfahrens nach § 130a VwGO entscheiden, wenn das Verwaltungsgericht verfahrensfehlerhaft ohne mündliche Verhandlung entschieden hat.

  2. 2.

    Hat der Kläger im erstinstanzlichen Verfahren wirksam auf mündliche Verhandlung verzichtet und hat sich diese Prozesserklärung nicht vor der Entscheidung des Verwaltungsgerichts verbraucht, kann im Berufungsverfahren im Wege des Beschlussverfahrens (§ 130a VwGO) entschieden werden, wenn der anwaltlich vertretenen Kläger hinreichend Gelegenheit zur Äußerung hatte. 3. Die Prozessordnung sieht für das Berufungsverfahren im Asylstreit einen generellen Anspruch des anwaltlich vertretenen Klägers auf eine persönliche Anhörung im Rahmen einer mündlichen Verhandlung nicht vor.

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück - Einzelrichter der 7. Kammer - vom 18. September 2018 geändert.

Die Klage wird insgesamt abgewiesen.

Die Kläger des erstinstanzlichen Verfahrens tragen die dort angefallenen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens jeweils zu einem Sechstel. Der Kläger trägt zudem die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Der Beschluss ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des auf Grund des Beschlusses vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

Der Kläger, der über den subsidiären Schutzstatus verfügt, begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Der im ... 1983 geborene Kläger ist syrischer Staatsangehöriger arabischer Volks- und sunnitischer Religionszugehörigkeit. Nach eigenen Angaben lebte er zuletzt mit seiner Ehefrau und vier Kindern in der im gleichnamigen Gouvernement gelegenen Stadt F. Gemeinsam mit seiner Ehefrau und vier Kindern reiste er Ende Oktober 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Hier stellten der Kläger und seine Ehefrau für sich und die Kinder einen Asylantrag, den sie bei der persönlichen Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 3. August 2016 auf die Gewährung internationalen Schutzes beschränkten. Bei seiner Anhörung beim Bundesamt gab der Kläger zu seinen persönlichen Verhältnissen und den Gründen für seine Ausreise aus Syrien im Wesentlichen an, er habe in Syrien bis zur neunten Klasse die Schule besucht und seinen Wehrdienst als einfacher Soldat bereits von 2002 bis 2004 geleistet. Den Lebensunterhalt der Familie habe er als Kfz-Mechatroniker verdient. Syrien hätten sie wegen des Krieges und der Unruhen verlassen. Er sei ursprünglich bei der Stadt F. angestellt gewesen, aber nachdem die Kämpfer des sogenannten Islamischen Staats (IS) nach F. gekommen seien, habe er zuletzt kein Geld mehr bekommen. Die Menschen in F. hätten unter einer Hungersnot gelitten, weil der IS verhindert habe, dass Lebensmittel in die Stadt kommen konnten. Der Krieg sei bis vor ihre Haustür gekommen. Auf der einen Seite seien die Leute des IS gewesen und auf der andern die syrische Regierung und die Kampfjets der Koalition. Sie hätten vielleicht IS-Stellungen treffen wollen, in Wirklichkeit seien aber meistens Zivilisten getroffen worden. Er habe oft Leichen von Menschen auf der Straße gesehen, die von den Leuten des IS getötet worden seien. Im Falle einer Rückkehr befürchte er, von der syrischen Armee erneut zum Militär eingezogen zu werden. Zudem befürchte er, von den Kämpfern des IS getötet zu werden, denn die gingen durch die Häuser und kontrollierten, ob die Besitzer zu Hause seien. Da sie nun wüssten, dass er ausgereist sei, würden sie ihn als Feind ansehen.

Mit Bescheid vom 31. August 2016 erkannte das Bundesamt dem Kläger ebenso wie seiner Ehefrau und den Kindern den subsidiären Schutzstatus zu (Ziffer 1), lehnte aber die weitergehenden Asylanträge ab (Ziffer 2).

Mit der gegen die Versagung der Flüchtlingseigenschaft erhobenen Klage haben die Kläger geltend gemacht, ihr Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sei ungeachtet ihres individuellen Vortrags bereits unter Beachtung des Grundsatzes der Gleichbehandlung gerechtfertigt. In der bisherigen Praxis habe die Beklagte Antragstellern die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, weil Rückkehrer aufgrund ihrer Ausreise aus Syrien, der Asylantragstellung und dem Verbleib im Ausland vom Assad-Regime als Regimegegner betrachtet und deshalb politisch verfolgt würden. Seit Beginn des Jahres 2016 erhielten Antragsteller aus Syrien nur noch den subsidiären Schutzstatus; die Beklagte könne aber von ihrer Entscheidungspraxis nicht einfach abweichen. Zudem würden die Kläger auch im Vergleich zu anderen Familienangehörigen, die dasselbe Flüchtlingsschicksal erlitten hätten und als Flüchtlinge anerkannt worden seien, ungleich behandelt. Im Übrigen sei das individuelle Verfolgungsschicksal des Klägers, der sich im wehrpflichtigen Alter befinde, seitens des Bundesamtes nicht ausreichend gewürdigt worden. Der Kläger habe darauf hingewiesen, dass er erneut zum Wehrdienst herangezogen werden sollte. Durch seine Ausreise habe er sich dem Wehrdienst entzogen, und wegen einer ihm deshalb unterstellten regimefeindlichen Gesinnung drohe ihm im Falle einer Rückkehr nach Syrien Verhaftung und politische Verfolgung.

Die Kläger haben sinngemäß beantragt,

  1. 1.

    die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids vom 31. August 2016 zu verpflichten, die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG festzustellen, sowie festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG erfüllt sind.

  2. 2.

    hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Mit Beschluss vom 9. November 2016 hat das Verwaltungsgericht dem Prozesskostenhilfeantrag der Kläger entsprochen und zur Erfolgsaussicht der Klage ausgeführt, die überwiegende Rechtsprechung bejahe derzeit einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für Rückkehrer nach Syrien. Unter Hinweis auf die eigene Rechtsprechung und diejenige des Verwaltungsgerichts Sigmaringen, die zum damaligen Zeitpunkt einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für Rückkehrer nach Syrien für begründet erachteten, hat das Verwaltungsgericht die Beteiligten mit Verfügung vom 19. Januar 2017 um Mitteilung gebeten, ob Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung bestehe. Daraufhin haben die Kläger am 24. Januar 2017 ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt. Am 14. Dezember 2017 hat das Verwaltungsgericht den Beteiligten sodann, unter Hinweis auf die Entscheidung des Senats vom 27. Juni 2017 (- 2 LB 91/17 -, juris) sowie weitere verfestigende Senatsbeschlüsse mitgeteilt, dass die Kammer erwäge, ihre Rechtsprechung aufzugeben und sich der genannten Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts anzuschließen. Im Interesse effektiven Rechtsschutzes und um zu klären, ob aufgrund eines vertiefenden individuellen Vortrags der Kläger eine mündliche Verhandlung geboten sei, gab das Verwaltungsgericht den Klägern Gelegenheit, ihre Klage binnen vier Wochen weiter zu begründen. Davon haben die Kläger Gebrauch gemacht und mit zwei Schriftsätzen vom 22. Dezember 2017 weiter inhaltlich Stellung bezogen. Der Kläger zu 1. hat zudem geltend gemacht, er sei von dem Dolmetscher bei seiner Befragung beim Bundesamt nicht detailliert zu seinem Verfolgungsschicksal befragt worden. Daher müsse er im verwaltungsgerichtlichen Verfahren die Möglichkeit erhalten, sein Verfolgungsschicksal in einer mündlichen Verhandlung persönlich zu schildern. Der in Ansehung der gerichtlichen Verfügung vom 17. Januar 2017 erklärte Verzicht auf mündliche Verhandlung werde daher zurückgezogen und die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung beantragt.

Mit dem ohne mündliche Verhandlung ergangenen Urteil hat das Verwaltungsgericht die Beklagte verpflichtet, dem Kläger zu 1. die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen, und den Bescheid der Beklagten aufgehoben, soweit er dieser Verpflichtung entgegensteht. Im Übrigen hat das Verwaltungsgericht die weitergehenden Begehren der Kläger zu 2.- 6. für unbegründet erachtet und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das Gericht zusammenfassend ausgeführt, nach Auswertung der vorliegenden Erkenntnismittel sei davon auszugehen, dass dem Kläger zu 1. bei einer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung drohe. Er habe sich durch seine Ausreise aus Syrien der Einberufung zum Militärdienst entzogen, und infolge einer ihm deshalb (jedenfalls) unterstellten oppositionellen Gesinnung drohten ihm im Falle seiner (hypothetischen) Rückkehr nach Syrien seitens des syrischen Regimes mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Misshandlung und Folter. Eine innerstaatliche Fluchtalternative bestehe nicht. Ein Anspruch der Kläger zu 2. bis 6., die nicht vorverfolgt seien, sei zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung unter Berücksichtigung nach der geänderten Rechtsprechung der Kammer (Urt. v. 4.6.2018 - 7 A 15/16 u. 7 A 432/16 -) nicht unter dem Aspekt einer illegalen Ausreise, der Asylantragstellung und dem längeren Aufenthalt im Ausland begründet. Auch unter dem Aspekt der Gefahr einer eigenen, an die Verfolgung des Klägers zu 1. anknüpfenden Verfolgung (sog. Sippenhaft) sei den Klägern zu 2. bis 6. die Flüchtlingseigenschaft nicht zuzuerkennen.

Gegen das stattgebende Urteil richtet sich die vom Senat zugelassene Berufung der Beklagten, die zur Begründung u.a. unter Bezugnahme auf ihren Antrag auf Zulassung der Berufung im Wesentlichen vorträgt, geflohenen Wehrdienstpflichtigen, die eine Einberufung erhalten oder denen eine solche bevorgestanden habe, drohe im Falle einer Rückkehr nach Syrien keine politische Verfolgung; ein Anspruch des Klägers auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sei nicht begründet.

Die Beklagte beantragt,

das erstinstanzliche Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück zu

ändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung, wiederholt und vertieft seinen bisherigen Vortrag und verweist auf die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 19. November 2020 (- C 238/19 -). Zudem rügt der Kläger die Verletzung rechtlichen Gehörs. Das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht ohne mündliche Verhandlung entschieden. Die Kläger hätten ihr zunächst erklärtes Einverständnis infolge der gerichtlichen Verfügung vom 14. Dezember 2017 mit Schriftsatz vom 22. Dezember 2017 wiederrufen und die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung beantragt. Hätte es eine mündliche Verhandlung gegeben, hätte der Kläger geschildert, dass es in Syrien konkrete Absichten gegeben habe, ihn zum Kriegsdienst einzuziehen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Beiakte Bezug genommen. Die der Entscheidung vom Senat zugrunde gelegten Erkenntnismittel ergeben sich aus der dem Kläger mit der Anhörung zu einer Entscheidung im Wege des Beschlusses nach § 130a VwGO übersandten Erkenntnismitteliste.

II.

Der Senat entscheidet über die Berufung der Beklagten, mit der sie sich ausweislich der Berufungsbegründung allein gegen das stattgebende Urteil des Verwaltungsgerichts wendet (§ 125 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 88 VwGO), nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 130a Satz 1 VwGO durch Beschluss.

1. Nach § 130a Satz 1 VwGO kann das Oberverwaltungsgericht dann über die Berufung durch Beschluss entscheiden, wenn es sie einstimmig für begründet oder einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Dem Erfordernis der Einstimmigkeit bei der Beurteilung der Begründetheit oder Unbegründetheit der Berufung kommt eine verfahrenssichernde, auf erhöhte Richtigkeitsgewähr angelegte Funktion zu. Es soll gewährleisten, dass von der mündlichen Verhandlung als Kernstück des Berufungsverfahrens zur Entlastung des Oberverwaltungsgerichts nur in den Fällen abgesehen werden kann, die von allen Mitgliedern des Spruchkörpers im Ergebnis einheitlich beurteilt werden. Ist das sich auf die Begründetheit oder Unbegründetheit der Berufung beziehende Einstimmigkeitserfordernis erfüllt, steht die Entscheidung, ob ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss befunden wird, im Ermessen des Gerichts. Die Grenzen des dem Berufungsgericht eingeräumten Ermessens sind weit gezogen. Sie sind indes erreicht, wenn im Berufungsverfahren ohne mündliche Verhandlung entschieden wird, obwohl die Sache nach den Gesamtumständen des Einzelfalls in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht außergewöhnlich große Schwierigkeiten aufweist. Die Entscheidung zum Beschlussverfahren nach § 130a VwGO bedingt zugleich - wie sich aus dem Verweis in § 130a Satz 2 VwGO auf die entsprechende Anwendung der Regelung des § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO ergibt -, dass die Beteiligten zuvor ordnungsgemäß angehört worden sind. Dies verlangt, dass die Anhörung unmissverständlich erkennen lässt, wie das Berufungsgericht zu entscheiden beabsichtigt. Die Beteiligten müssen der Anhörungsmitteilung oder den sonstigen Umständen entnehmen können, ob das Gericht die Berufung für begründet oder für unbegründet hält. Nur durch eine Konkretisierung der Anhörungsmitteilung kann ihrer Funktion, den Beteiligten eine auch dem Fairnessgebot entsprechende verfahrensangemessene Äußerungsmöglichkeit zu eröffnen, Rechnung getragen und damit der Wegfall der mündlichen Berufungsverhandlung kompensiert werden (vgl. im Ganzen zu den Voraussetzungen der Durchführung des vereinfachten Berufungsverfahrens und den Grenzen der Ermessensentscheidung gemäß § 130a Satz 1 VwGO, Senatsbeschl. v. 5.9.2017 - 2 LB 186/17 -, juris Rn. 18 ff. aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, BVerwG, Beschl. v. 21.1.2020 - 1 B 2.20 -, juris Rn. 4 ff., Urt. v. 21.3.2000 - 9 C 39.99 -, juris Rn. 6 ff. und Beschl. v. 17.1.2022 - 1 B 95.21 -, juris Rn. 11 ff. - zum Senatsbeschl. v. 3.11.2021 - 2 LB 139/21 -, n.v.).

Nach diesen Maßstäben kann der Senat im vorliegenden Berufungsverfahren von einer mündlichen Verhandlung absehen und im Wege des Beschlussverfahrens entscheiden. Die Sache bietet nach den Gesamtumständen des Einzelfalls weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht außergewöhnlich große Schwierigkeiten. Vielmehr sind die aufgeworfenen rechtlichen und tatsächlichen Fragen in der Senatsrechtsprechung seit längerem geklärt (vgl. Senatsurt. v. 27.6.2017 - 2 LB 91/17 - und v. 22.4.2021 - 2 LB 147/18 u. 2 LB 408/20 -, Senatsbeschl. z.B. v. 28.4.2022 - 2 LB 57/22 -, v. 11.5. 2022 - 2 LB 52/22 - und v. 15.5.2023 - 2 LB 444/19 -, jeweils veröffentlicht in juris).

Eine mündliche Verhandlung ist im vorliegenden Berufungsverfahren auch nicht deshalb geboten, weil das Verwaltungsgericht ohne mündliche Verhandlung entschieden hat. Zwar darf das Berufungsgericht im Regelfall nicht im Wege des Beschlussverfahrens nach § 130a VwGO entscheiden, wenn das Verwaltungsgericht verfahrensfehlerhaft gänzlich ohne mündliche Verhandlung oder ohne Beteiligung eines nicht ordnungsgemäß geladenen Klägers an der mündlichen Verhandlung entschieden hat (BVerwG, Beschl. v. 8.8.2007 - 10 B 74/07 - u.a., juris Rn. 6 m.w.N.). Ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor, denn der Kläger hat gegenüber dem Verwaltungsgericht wirksam den Verzicht auf Durchführung der mündlichen Verhandlung erklärt (§ 101 Abs. 2 VwGO). Als Prozesserklärung ist dieser Verzicht grundsätzlich nicht widerruflich und ermächtigt das Gericht auch ohne Hinweis auf das voraussichtliche Entscheidungsergebnis, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden (BVerwG, Beschl. v. 27.1.2022 - 1 B 91/21 -, juris Rn. 7 m.w.N.; vgl. auch Senatsurt. v. 24.3.2022 - 2 LB 210/20 -, juris Rn. 50). Auch ein möglicher "Verbrauch" der Verzichtserklärung (BVerwG, Beschl. v. 27.1.2022 - 1 B 91/21 -, juris Rn. 7 m.w.N.) infolge einer grundlegend geänderte Prozesslage liegt hinsichtlich der hier allein maßgeblichen Prozesserklärung des Klägers nicht vor. Eine solche grundlegend veränderte Prozesslage ergibt sich nicht aus dem Hinweis des Verwaltungsgerichts auf die Grundsatzentscheidung des Senats und den geäußerten Überlegungen der Kammer, sich dieser Rechtsprechung anzuschließen, denn das Verwaltungsgericht hat im Ergebnis gleichwohl zum Vorteil des Klägers entschieden und seinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für begründet erachtet.

Hat das Verwaltungsgericht mithin - jedenfalls - gegenüber dem Kläger verfahrensfehlerfrei ohne mündliche Verhandlung entschieden, so hat der Kläger auch im Berufungsverfahren keine Gesichtspunkte vorgetragen, die die Durchführung einer mündlichen Verhandlung gebieten.

Einer mündlichen Verhandlung bedarf es auch nicht zur Wahrung des Rechts des Klägers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) und/oder zur Wahrung des Untersuchungsgrundsatzes (§ 125 Abs. 1 i.V.m. § 86 VwGO). Dem Einwand des Klägers, er sei weder im Asylverfahren noch im erstinstanzlichen Verfahren hinreichend zu seinem Verfolgungsschicksal angehört worden, folgt der Senat nicht. Ausweislich des Inhalts des Verwaltungsvorgangs und der beigezogenen Gerichtsakte hatte der anwaltlich vertretene Kläger hinreichend Gelegenheit, sich zur Sache zu äußern. Davon hat er - jedenfalls - im erstinstanzlichen Verfahrens auch Gebrauch gemacht. Gleiches gilt für das Berufungsverfahren, in dem der Kläger - insbesondere im Zuge der Anhörungen zur Entscheidung zum Beschlussverfahren (§ 130a Satz 2 i.V.m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO) und den damit zugleich ergangenen konkreten Hinweisen zur Senatsrechtsprechung zu den Erfolgsaussichten der Berufung - hinreichend Gelegenheit hatte, sich zur Sach- und Rechtslage zu äußern und seinen Vortrag ggf. zu ergänzen. Und auch davon hat der Kläger Gebrauch gemacht.

Danach ist der entscheidungserhebliche Sachverhalt geklärt. Soweit der Kläger im Berufungsverfahren vorträgt, es habe in Syrien konkrete Absichten gegeben, ihn zum Kriegsdienst einzuziehen, kann sein Vortrag als wahr unterstellt werden. Einer persönlichen Anhörung des Klägers oder eines persönlichen Eindrucks von ihm in einer mündlichen Verhandlung bedarf es deshalb und auch im Übrigen nicht etwa zur Überprüfung seiner Glaubwürdigkeit oder Glaubhaftigkeit seiner Angaben.

Auch die Prozessordnung sieht im Asylstreit einen generellen Anspruch auf eine persönliche Anhörung des anwaltlich vertretenen Klägers nicht vor (BVerwG, Beschl. v. 8.8.2007 - 10 B 74.07 - u.a. -, im Nachgang zum Senatsbeschl. v. 13.11.2006 - 1 LB 116/06 -, juris). § 130a Satz 1 VwGO lässt vielmehr ausdrücklich eine Entscheidung des Berufungsverfahrens nicht nur in Fällen der "Unbegründetheit", sondern auch - wie hier - in denen der "Begründetheit" der Berufung und mithin (hier) zum Nachteil des Klägers zu.

2. Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Die Klage ist unter entsprechender Änderung des angegriffenen Urteils insgesamt abzuweisen, denn der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG.

Maßgebliche Rechtsgrundlage für die Beurteilung des Verpflichtungsbegehrens auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist das Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798), zuletzt geändert durch das Gesetz zur Verbesserung der Rückführung (Rückführungsverbesserungsgesetz) vom 21. Februar 2024 (BGBl. I S. 54). Unionsrechtlich entscheidend sind die Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) - ABl. L 337 S. 9, ber. ABl. 2017 L 167 S. 58 (weiter zitiert: RL 2011/95/EU) und die Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Neufassung) - ABl. L 180 S. 60 (weiter zitiert: RL 2013/32/EU).

Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Verfolgungsgründe) außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

Gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 und 2 AsylG gelten Handlungen als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). In § 3a Abs. 2 Nrn. 1 bis 6 AsylG werden einzelne Beispiele für Verfolgungshandlungen genannt, unter anderem die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt (Nr. 1), eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung (Nr. 3) oder eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen (Nr. 5). Gemäß § 3c AsylG sind Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, u. a. der Staat oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen.

Zwischen den in § 3 Abs. 1 AsylG genannten und in § 3b Abs. 1 AsylG jeweils näher erläuterten Verfolgungsgründen sowie den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG beschriebenen Verfolgungshandlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Dabei ist unerheblich, ob der Ausländer tatsächlich z. B. die religiösen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger nur zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG). Für den Bereich des Asylrechts hat das Bundesverfassungsgericht diese Verknüpfung von Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund dahingehend konkretisiert, dass es für eine politische Verfolgung ausreicht, wenn der Ausländer der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zugerechnet wird, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Unerheblich ist dabei, ob der Betreffende aufgrund der ihm zugeschriebenen Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung (überhaupt) tätig geworden ist (BVerfG, Beschl. v. 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, juris Rn. 5; Senatsurt. v. 27.6.2017 - 2 LB 91/17 -, juris Rn. 31). Die Maßnahme muss darauf gerichtet sein, den von ihr Betroffenen gerade in Anknüpfung an einen oder mehrere Verfolgungsgründe zu treffen (vgl. näher zu den Voraussetzungen Senatsurt. v. 22.4.2021 - 2 LB 147/18 und 2 LB 408/20 -, juris Rn. 21 bzw. 20).

Die Furcht vor Verfolgung ist im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, das heißt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ("real risk") drohen (st. Rspr., vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013 - 10 C 23.12 -, juris Rn. 19, 32; Beschl. v. 15.8.2017 - 1 B 120.17 -, juris Rn. 8). Für die anzustellende Verfolgungsprognose gilt - unabhängig von der Frage, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht - ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Die Privilegierung des Vorverfolgten erfolgt durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU, nicht (mehr) durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Nach dieser Vorschrift besteht eine tatsächliche Vermutung, dass sich eine frühere Verfolgung bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen wird. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften (vgl. BVerwG, Urt. v. 1.6.2011 - 10 C 25.10 -, juris Rn. 21 f.; Senatsurt. v. 27.6.2017 - 2 LB 91/17 -, juris Rn. 34). Eine Verfolgung ist beachtlich wahrscheinlich, wenn einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Ausländers nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Herkunftsstaat als unzumutbar erscheint (vgl. hierzu sowie zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt und den Maßgaben der richterlichen Überzeugungsbildung im Einzelnen Senatsurt. v. 22.4.2021 - 2 LB 147/18 - und - 2 LB 408/20 -, juris Rn. 22 ff. bzw. 21 ff.).

Nach diesen Maßgaben besteht für den Kläger bei einer - hypothetischen - Rückkehr nach Syrien zur Überzeugung des Senats keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung aus den in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Gründen.

a) Der Kläger ist nicht vorverfolgt ausgereist, sodass ihm die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU nicht zugutekommt.

Eine Vorverfolgung ergibt sich - auch unter Berücksichtigung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 19. November 2020 (- C-238/19 -, juris) - nicht im Hinblick darauf, dass sich der Kläger bereits zum Zeitpunkt seiner Ausreise dem Wehrdienst auf Seiten des syrischen Staats entzogen haben könnte. Dies gilt auch im Hinblick auf eine mögliche Verfolgungshandlung gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG, das heißt eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen der Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG (Art. 9 Abs. 2 Buchst. e RL 2011/95 EU). Strafverfolgung in diesem Sinne erfasst das Handeln der mit der Aufklärung von Straftaten und der Anklagevorbereitung befassten Strafverfolgungsorgane des Staates oder einer staatsähnlichen Organisation, d.h. der Strafverfolgungsbehörden (Staatsanwaltschaft, Polizei). Der Begriff der "Strafverfolgung" umfasst alle strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.1.2023 - 1 C 22.21 -, juris Rn. 28). Demgegenüber erfasst der Begriff der "Bestrafung" das Urteil des Strafgerichts selbst und dessen Vollstreckung durch die Strafvollstreckungsorgane. Ein weiteres, über derartige strafrechtliche Maßnahmen hinausgehendes, auch eine Zwangsrekrutierung mit anschließendem Fronteinsatz ohne hinreichende militärische Ausbildung umfassendes Begriffsverständnis kommt der Regelung des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG (Art. 9 Abs. 2 Buchst. e RL 2011/95 EU) nicht zu (BVerwG, Urt. v. 19.1.2023 - 1 C 22.21 -, juris Rn. 28 f.).

Der Kläger hat vor seiner Ausreise aus Syrien entsprechende Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG nicht erlitten.

Die Annahme einer bei der Ausreise unmittelbar drohenden Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes i. S. d. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG (Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU) kann nach der Senatsrechtsprechung nur dann in Betracht kommen, wenn sich ein im militärdienstpflichtigen Alter befindlicher Mann aus Sicht des syrischen Staates bereits vor dem Moment seiner Ausreise erkennbar dem Militärdienst entzogen hatte, und er gerade aus diesem Grund der beachtlich wahrscheinlichen Gefahr unterlag, Verfolgungsmaßnahmen erleiden zu müssen (vgl. im Einzelnen Senatsurt. v. 22.4.2021 - 2 LB 147/18 und 2 LB 408/20 -, juris Rn. 32 ff. bzw. 31 ff.).

Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Zwar hat der Kläger vorgetragen, dass es konkrete Absichten gegeben habe, ihn (als Reservist) erneut zum Wehrdienst einzuziehen. Es ist aber weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass er in diesem Zusammenhang vor seiner Ausreise ein Verhalten gezeigt haben könnte, das sich aus Sicht des syrischen Regimes erkennbar als Wehrdienstentziehung dargestellt hat, und dass er eben aus diesem Grund zum Zeitpunkt seiner Ausreise einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit unterlag. Dagegen, dass der Kläger zum Zeitpunkt seiner Ausreise in flüchtlingsrechtlich relevanter Weise in den Fokus des syrischen Regimes geraten und von Verfolgung bedroht war, dürfte zudem die Tatsache sprechen, dass der am ... 2014 geborene Sohn des Klägers G. A. - ausweislich des vorgelegten syrischen Familienbuchs - noch am 14. April 2015 durch die syrischen Behörden (Standesamt) registriert wurde, der Kläger zudem augenscheinlich bis zu seiner Ausreise mit seiner Familie zusammen in einem Haus gelebt hat und aus Syrien gemeinsam mit seiner Familie unbehelligt ausgereist ist.

Ob zudem die Furcht des Klägers vor dem IS eine Vorverfolgung zu begründen vermag, bedarf keiner Klärung. Denn die im Fall der Annahme einer Vorverfolgung bestehende Vermutung, dass sich eine solche Verfolgung seitens des IS bei der Rückkehr nach Syrien wiederholen wird, kann - wie oben ausgeführt - widerlegt werden. Das ist hier der Fall, denn es liegen stichhaltige Gründe vor, die die Wiederholungsträchtigkeit einer erneuten Verfolgung durch den IS entkräften. Diese ergeben sich - worauf auch das Verwaltungsgericht zutreffend hingewiesen hat - aus der veränderten Lage in Syrien. Nach den Erkenntnissen des Senats (vgl. z.B. AA, Lagebericht v. 29.3.2023, S. 8 u. v. 4.12.2020, S. 10; Die Karte der Mächte in Syrien, Der Spiegel, Nr. 8/2018 v. 17.2.2018, "Der Krieg der fremden Mächte") ist die Terrormiliz des IS in Syrien - auch aus dem Gebiet aus dem die Kläger stammen - weitgehend zurückgedrängt worden. Der IS übt keine territoriale Kontrolle mehr aus und von ihm geht für den Kläger keine beachtliche Gefahr mehr aus (vgl. zur Verfolgung durch die Terrormiliz des IS auch Senatsbeschl. vom 7.2.2024 - 2 LB 188/21 -, n.v., v. 15. Mai 2023 - 2 LB 444/19 -, juris Rn. 45, v. 28.1.2020 - 2 LB 458/18 - und v. 30.3.2022 - 2 LB 641/19 - juris; zur Verfolgung von Jesiden durch die Terrormiliz IS HessVGH, Urt. v. 23.8.2021 - 8 A 1992/18.A -, juris Rn. 32; OVG SH, Urt. v. 27.9. 2018 - 2 LB 21/18 -, juris Rn. 37, OVG NRW, Urt. v. 12.12.2018 - 14 A 847/18.A -, juris Rn. 34). Dass sich nach wie vor einzelne IS-Kämpfer in Teilen Syriens aufhalten und diese auch Anschläge begehen, rechtfertigt keine andere Einschätzung. Unabhängig davon, dass die in Rede stehenden einzelnen Terroranschläge als Akte willkürlicher Gewalt, nicht aber als zielgerichtete Verfolgung gemäß § 3 AsylG einzustufen sind, fehlt es auch an den Voraussetzungen des § 3c AsylG; der IS ist kein tauglicher Akteur im Sinne dieser Regelung. Weder beherrscht er zum jetzigen Zeitpunkt einen wesentlichen Teil des syrischen Staatsgebietes noch liegen die Voraussetzungen des § 3c Nr. 3 AsylG vor.

b) Eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit begründende Ereignisse, die eingetreten sind, nachdem der Kläger sein Herkunftsland verlassen hat (§ 28 Abs. 1a AsylG), liegen ebenfalls nicht vor.

Syrische Staatsangehörige unterliegen nach der gefestigten Rechtsprechung des Senats (Urt. v. 27.6.2017 - 2 LB 91/17 - u. v. 22.4.2021 - 2 LB 147/18 und 408/20 -, juris) allein aufgrund einer (illegalen) Ausreise, einer Asylantragstellung und einem längeren Aufenthalt im westlichen Ausland, der Herkunft aus einem (ehemals) von der Opposition beherrschten Gebiet und wegen des Umstandes, dass sie sich durch ihre Ausreise oder ihren längeren Aufenthalt im Ausland dem Wehrdienst entzogen haben, nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG.

Es fehlt jedenfalls an der gemäß § 3a Abs. 3 AsylG erforderlichen Verknüpfung zwischen einer etwaigen Verfolgungshandlung und einem Verfolgungsgrund i. S. v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 3b AsylG. Die dem Senat vorliegenden Erkenntnismittel lassen den Schluss, dass Rückkehrern ohne besonderes Profil von Seiten des syrischen Staates regelhaft eine oppositionelle Gesinnung zugeschrieben wird, weiterhin nicht zu. Das gilt auch bei (einfacher) Wehrdienstentziehung. Nach der vom Senat geteilten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts stellen die an eine Wehrdienstentziehung geknüpften Sanktionen, selbst wenn sie von totalitären Staaten ausgehen, nur dann eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Verfolgung dar, wenn sie nicht nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht dienen, sondern darüber hinaus den Betroffenen auch wegen seiner Religion, seiner politischen Überzeugung oder eines sonstigen asylerheblichen Merkmals treffen sollen (vgl. zusammenfassend BVerwG, Beschl. v. 24.4.2017 - 1 B 22.17 -, juris Rn. 14). An einer solchen Verknüpfung zwischen der Bestrafung von Rückkehrern wegen einer Wehrdienstentziehung und einem Verfolgungsgrund im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG fehlt es.

Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung wegen einer Wehrdienstentziehung liegt auch unter Berücksichtigung des in § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG aufgenommenen Regelbeispiels einer Verfolgungshandlung i.S.d. § 3a Abs. 1 AsylG nicht vor. Die dort genannten Voraussetzungen sind in zweifacher Hinsicht nicht erfüllt. Zum einen geht der Senat nicht davon aus, dass der Wehr- bzw. Reservedienst in der syrischen Armee Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen. Zum anderen fehlt es auch hier an der erforderlichen Verknüpfung der Strafverfolgung oder Bestrafung wegen der Verweigerung des Militärdienstes mit einem Verfolgungsgrund.

Zur näheren Begründung seiner Einschätzung nimmt der Senat vollumfänglich Bezug auf seine Urteile vom 27. Juni 2017 - 2 LB 91/17 - und vom 22. April 2021 - 2 LB 147/18 und 408/20 -, juris (zur Zulässigkeit einer solchen Bezugnahme vgl. BVerwG, Beschl. v. 3.4.1990 - 9 CB 5.90 -, juris Rn. 6, v. 22.11.1994 - 5 PKH 64.94 -, juris Rn. 4, u. v. 3.12.2008 - 4 BN 25.08 -, juris Rn. 9; Lambiris in Posser/Wolff, BeckOK VwGO, 58. Ed. 2020, § 117 Rn. 19a; Kilian/Hissnauer in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 117 Rn. 85). Neuere Erkenntnisse, die darauf schließen lassen, dass die Situation von Rückkehrern aus Europa anders zu beurteilen wäre, liegen nicht vor. Auch die übrige obergerichtliche Rechtsprechung verneint in den genannten Fällen ganz überwiegend eine politische Verfolgung (OVG NRW, Beschl. v. 25.1.2021 - 14 A 822/19.A -, juris; VGH BW, Urt. v. 4.5.2021 - A 4 S 468/21 - u. Urt. v. 18.8.2021 - A 3 S 271/19 -, juris; OVG MV, Urt. v. 26.5.2021 - 4 L 238/13 -, juris; BayVGH, Urt. v. 23.6.2021

- 21 B 19.33586 -, juris; OVG LSA, Urt. v. 1.7.2021 - 3 L 154/18 -, juris; SächsOVG, Urt. v. 22.9.2021 - 5 A 855/19.A -, juris; Hess VGH, Urt. v. 23.8.2021 - 8 A 1992/18.A -, juris; a.A. OVG Bremen, Urt. v. 23.3.2022 - 1 LB 484/21 -, juris; der Senat hat bereits entscheiden, dass ihm die Entscheidung keinen Anlass zur Änderung seiner Rechtsprechung gibt; vgl. Senatsbeschl. v. 11.5.2022 - 2 LB 52/22 -, juris; siehe auch ThürOVG, Urt. v. 16.6.2022 - 3 KO 178/21 -, juris Rn. 144 f.; OVG NRW, Urt. v. 23.8.2022 - 14 A 3716/18.A -, juris Rn. 109 ff.; SächsOVG, Beschl. v. 23.11.2022 - 5 A 366/22.A -, juris Rn. 6 ff.).

Der anderslautenden Rechtsprechung des OVG Berlin-Brandenburg ist das Bundesverwaltungsgericht mit Urteilen vom 19. Januar 2023 (z.B. 1 C 21.22, juris) entgegengetreten. Darin hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass (zwar) bei der Strafverfolgung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn er Militärdienst u.a. Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit umfassen würde, im Anschluss an die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (im Folgenden: Gerichtshof) eine starke Vermutung dafür spricht, dass die Verweigerung des Militärdienstes mit einem Verfolgungsgrund in Zusammenhang steht, dass es (aber) Sache der zuständigen nationalen Behörde und Gerichte ist, in Anbetracht sämtlicher in Rede stehenden Umstände die Plausibilität dieser Verknüpfung zu prüfen. Dem genüge es nicht, wenn die Voraussetzungen des Flüchtlingsschutzes auf einer diffusen Tatsachengrundlage und unter Unterschreitung des Regelbeweismaßstabes der vollen richterlichen Überzeugungsgewissheit bejaht würden (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.1.2023 - 1 C 22.21 -, juris Rn. 46 ff.). Dabei hat das Bundesverwaltungsgericht auch (nochmals) klargestellt, dass sich dem Unionsrecht und der dazu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht - schon gar nicht unabhängig von einer auf der Grundlage aktueller Erkenntnisse sich ergebenden Veränderung der tatsächlichen Verfolgungslage - entnehmen lasse, dass Personen, die den Militärdienst verweigerten, allein deswegen bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung zu befürchten hätten. Der Gerichtshof habe vielmehr lediglich die rechtlichen Maßstäbe entfaltet, nach denen die Gefahr von Verfolgungshandlungen sowie die Verknüpfung mit flüchtlingsrechtlich erheblichen Verfolgungsgründen zu prüfen und zu beurteilen seien (BVerwG, Urt. v. 19.1.2023 - 1 C 22.21 -, juris Rn. 49).

Soweit der Kläger zur Begründung seines Anspruchs auf die von dem UNHCR in dem Bericht "Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 5. aktualisierte Fassung, November 2017" definierten Risikoprofile verweist, ist festzustellen, dass die Zugehörigkeit syrischer Zivilpersonen zu den dort benannten Risikogruppen zwar nach der Einschätzung des UNHCR die Wahrscheinlichkeit indiziert, dass die betroffene Person Internationalen Flüchtlingsschutz benötigt; dies wird jedoch durchweg durch die Worte relativiert: "je nach den Umständen des Einzelfalles bzw. "depending on the individual circumstances of the case". Mit anderen Worten ist es danach nicht angängig, die Annahme einer politischen Verfolgung allein und pauschal auf die Zuordnung zu einem oder mehreren der Risikoprofile zu stützen, zumal ohne Rücksicht auf die Frage, in welches Umfeld der Betroffene hypothetisch zurückkehren müsste (Senatsbeschl. v. 22.2.2018 - 2 LB 1789/17 -, juris Rn. 130). Diese Einschätzung findet sich auch in der 6. aktualisierten Fassung des UNHCR Berichts "Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen" vom März 2021 (ebenso BayVGH, Urt. v. 23.6.2021 - 21 B 19.33586 -, juris Rn. 82 ff. (zur Herkunft aus Idlib), ThürOVG, Urt. v. 16.6.2022 - 3 KO 178/21 -, juris Rn. 113).

Eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit folgt auch nicht aus dem Bericht des Senders ntv vom 1. Mai 2018, wonach in Syrien Fahndungslisten mit den Namen von über 1, 5 Millionen gesuchten Personen existierten und dem Vortrag des Klägers, dass aller Wahrscheinlichkeit nach auch sein Name auf dieser Liste stehe, weil er sich dem Wehrdienst entzogen habe. Insoweit schildert der Kläger aber nur seine persönliche Vermutung, ohne diese durch weitere Angaben zum Inhalt der über die Internet-Plattform https://www.zamanalwsl.net zugänglichen Liste gesuchter Personen, die aus den Beständen der syrischen Geheimdienste stammen soll (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), SFH-Länderanalyse - Syrien: Fahndungslisten und Zaman al Wasl v. 11. Juni 2019, S. 6 ff.), zu konkretisieren. Zudem ist schon auf Grund der großen Zahl von angeblich über 1,7 Millionen gelisteten Personen nicht beachtlich wahrscheinlich, dass es sich bei diesen Personen aus der Sicht des syrischen Regimes um solche handelt, die sämtlich als Regimegegner betrachtet und deshalb in flüchtlingsrechtlich beachtlicher Weise in dessen Fokus stehen. Rein vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass davon nach der Senatsrechtsprechung auch nicht allein deshalb ausgegangen werden, weil in der Liste zu einem Namen auch der Vorwurf enthaltenen ist "Den Militär-Pflichtdienst nicht angetreten" (vgl. Senatsbeschl. v. 26.10.2023 - 2 LB 93/21 - n.v.; ebenso OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 21.3.2018 - 3 B 28.17 -, juris Rn. 21).

Entgegen der Ansicht des Klägers folgt ein Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft schließlich auch nicht aus dem Umstand, dass das Bundesamt einzelnen Geschwistern, die sein Flüchtlingsschicksal teilen, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat. Ein solcher Anspruch folgt insbesondere nicht aus Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. dem Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung und dem aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Vertrauensschutz. Ungeachtet der Frage, ob es früher eine entsprechende vertrauensbegründende Verwaltungspraxis des Bundesamtes gab, bleibt es diesem unbenommen, seine Verwaltungspraxis in Übereinstimmung mit den rechtlichen Anforderungen des Flüchtlingsrechts, namentlich bei Vorliegen sachlicher Gründe wie auch einer veränderten Bewertung der Sachlage in Syrien zu ändern. Davon ausgehend ist eine Rechtswidrigkeit der Entscheidung des Bundesamtes über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht ersichtlich; ein Anspruch des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft besteht - wie vorstehend ausgeführt - nicht.

Auch die neueren Erkenntnismittel führen zu keiner anderen Bewertung.

Durchgreifende Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger aus anderen Gründen ein Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zustehen könnte, sind nicht ersichtliche.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, VwGO und § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor. Auch eine Zulassung der Revision nach § 78 Abs. 8 Satz 1 AsylG ist nicht veranlasst (ebenso, OVG NRW, Beschl. v. 13.6.2023 - 14 A 156/19.A -, juris Rn. 115; Senatsbeschl. v. 22.1.2024 - 2 LB 28/23 n.v.). Die hier in Frage stehende potentiell fallübergreifende allgemeine asylrelevante Lage von Männern, die sich dem Wehrdienst in Syrien entziehen, wird von der ganz überwiegenden Mehrheit der Oberverwaltungsgerichte dahingehend beurteilt, dass Wehrdienstentziehern in Syrien keine politische Verfolgung droht. Die abweichenden Beurteilungen der Oberverwaltungsgerichte Berlin-Brandenburg (z.B. Urt. v. 29.1.2021 - OVG 3 B 108.18 -, juris) und der Freien Hansestadt Bremen (vgl. Urt. v. 23.3.2022 - 1 LB 484/21 -, juris) zur Situation von Männern, die sich dem Wehrdienst in Syrien entzogen haben, geben dem Senat in Anbetracht der nahezu einheitlichen obergerichtlichen Rechtsprechung keine Veranlassung, die Revision gleichwohl zuzulassen (vgl. Senatsbeschl. v. 22.1.2024 - 2 LB 28/23 -, n.v.).