Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 27.06.2024, Az.: 4 LA 21/24

Berücksichtigung des Kindeswohls und familiärer Bindungen bei Erlass einer asylrechtlichen Rückkehrentscheidung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
27.06.2024
Aktenzeichen
4 LA 21/24
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2024, 17716
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2024:0627.4LA21.24.00

Verfahrensgang

vorgehend
VG Lüneburg - 29.09.2023 - AZ: 2 A 384/21

Amtlicher Leitsatz

Die Frage, ob der Abschiebung eines Ausländers, dessen Schutzbegehren negativ beschieden ist, auch dann im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. das Kindeswohl und/oder familiäre Bindungen entgegenstehen können, wenn der weitere Aufenthalt des betreffenden Kindes bzw. Familienmitglieds im Bundesgebiet "nur" gemäß § 55 AsylG zur Durchführung seines Asylverfahrens gestattet ist, ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union hinreichend geklärt und zu bejahen.

Tenor:

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Lüneburg - Einzelrichterin der 2. Kammer - vom 29. September 2023 wird abgelehnt.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Zulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.

Der Antrag auf Zulassung der Berufung betrifft die Berücksichtigung des Kindeswohls und familiärer Bindungen bei Erlass einer asylrechtlichen Rückkehrentscheidung.

Die Klägerin, durch Reisepass ausgewiesene georgische Staatsangehörige, reiste im Juni 2021 mit ihrem im ... 2018 geborenen Sohn aus ihrem Herkunftsland aus und in die Bundesrepublik Deutschland ein. Der Lebensgefährte der Klägerin und Vater ihres Kindes, gleichfalls georgischer Staatsangehöriger, hielt sich zu diesem Zeitpunkt bereits im Bundesgebiet auf. Den von ihm gestellten Asylantrag hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) im März 2021 abgelehnt; dagegen hatte der Lebensgefährte der Klägerin Klage erhoben. Im Juli 2021 wurde die Klägerin vor dem Bundesamt zu ihrem Asylgesuch angehört. Dabei gab sie an, dass ihr Sohn gesund sei und die genannten Asylgründe auch für ihn gelten würden. Noch im selben Monat wurde auch für das Kind ein Asylbegehren förmlich niedergelegt.

Mit Bescheid vom 2. August 2021 erkannte das Bundesamt der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Ziffer 1), lehnte ihren Antrag auf Asylanerkennung ab (Ziffer 2), erkannte ihr den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziffer 3), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen (Ziffer 4), forderte die Klägerin zur Ausreise binnen 30 Tagen auf und drohte ihr für den Fall der Nichteinhaltung der Ausreisefrist die Abschiebung nach Georgien an (Ziffer 5); ferner ordnete das Bundesamt das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG an und befristete es auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6). Der Bescheid enthielt den Hinweis, dass die zuständige Ausländerbehörde die Möglichkeit habe, die Abschiebung vorübergehend auszusetzen und eine Duldung oder eine befristete Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Dies sei z.B. dann der Fall, wenn Abschiebungshindernisse vorlägen, die in der Bundesamtsentscheidung nicht hätten berücksichtigt werden können. Insbesondere würden minderjährige Kinder nicht getrennt von ihren Eltern abgeschoben. Gemäß § 43 Abs. 3 Satz 1 AsylG entscheide die Ausländerbehörde über die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung zur Ermöglichung einer gemeinsamen Ausreise zusammen mit den Eltern oder Personensorgeberechtigten.

In dem dagegen von der Klägerin angestrengten Asylklageverfahren wurde im Januar 2023 mitgeteilt, dass über die Klage ihres Lebensgefährten, mit dem sie und das gemeinsame Kind seit Dezember 2021 wieder in häuslicher Gemeinschaft lebten, noch nicht entschieden worden sei und die Sache aufgrund zahlreicher älterer Verfahren auch noch nicht zur Entscheidung anstünde. Im September 2023 erklärte das Bundesamt, dass im Asylverfahren des Sohnes der Klägerin noch keine Entscheidung ergangen sei.

Mit Urteil vom 29. September 2023 hob das Verwaltungsgericht - unter Abweisung der Klage der Klägerin im Übrigen - Ziffer 5 und Ziffer 6 des Bescheids des Bundesamts vom 2. August 2021 auf. Bei der unter Ziffer 5 ausgesprochenen Abschiebungsandrohung handele es sich um eine Rückkehrentscheidung im Sinne der Richtlinie 2008/115/EG (sog. Rückführungsrichtlinie), bei deren Erlass nach Art. 5 Buchst. a und b Richtlinie 2008/115/EG das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen des betreffenden Drittstaatangehörigen in gebührender Weise zu berücksichtigen seien. Nach dem Beschluss des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 15. Februar 2023 (C-484/22) reiche es nicht aus, dass diese beiden Belange - wie bisher im deutschen nationalen Recht vorgesehen - nur in einem dem Erlass der Abschiebungsandrohung nachfolgenden Verfahren geltend gemacht werden könnten. Bestünden also Gründe im Sinne des Art. 5 Buchst. a und b Richtlinie 2008/115/EG, dann sei wegen des Vorrangs des Unionsrechts § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG, wonach dem Erlass der Abschiebungsandrohung das Vorliegen von Abschiebungsverboten und Gründen für die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nicht entgegenstehe, nicht anzuwenden. Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben erweise sich die Abschiebungsandrohung als rechtswidrig, denn ihr stünden zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung Belange im Sinne von Art. 5 Buchst. a und b Richtlinie 2008/115/EG entgegen. Der Sohn der Klägerin verfüge während seines noch laufenden Asylverfahrens über eine Aufenthaltsgestattung nach § 55 AsylG, die er einer Abschiebung entgegenhalten könne. Die weitere Dauer seines Asylverfahrens sei derzeit nicht abzusehen, weil über seinen Asylantrag bislang nicht entschieden worden sei. Die der Klägerin erteilte Aufenthaltsgestattung werde indes im Fall des rechtskräftigen Abschlusses ihres Asylverfahrens erlöschen (§ 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AsylG). Eine Trennung der Klägerin von ihrem erst vierjährigen Kind für einen unabsehbaren Zeitraum müsse aufgrund des geringen Alters ihres Sohnes jedoch, um dessen Kindeswohl nicht zu beeinträchtigen, vermieden werden. Wegen des Anwendungsvorrangs des Europarechts führe der unterschiedliche Verlauf der Asylverfahren hier dazu, dass die Abschiebungsandrohung bezüglich der Klägerin aufzuheben sei. Daher sei auch kein Raum mehr für das unter Ziffer 6 des Bundesamtsbescheids erlassene Einreise- und Aufenthaltsverbot.

II.

Der Antrag der Beklagten, die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts (hinsichtlich seines stattgebenden Teils) zuzulassen, hat keinen Erfolg. Der geltend gemachte Zulassungsgrund einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) liegt nicht vor.

Eine Rechtssache ist nur dann im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG grundsätzlich bedeutsam, wenn sie eine höchstrichterlich oder obergerichtlich bislang noch nicht beantwortete Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die im Rechtsmittelverfahren entscheidungserheblich ist und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer fallübergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf (Senatsbeschl. v. 25.10.2022 - 4 LA 225/20 -, juris Rn. 3; GK-AsylG, Stand August 2023, § 78 Rn. 88 ff.; Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, Stand März 2024, Rn. 19 ff. - jeweils m.w.N.). Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung einer Rechtssache im Sinne des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG erfordert daher, dass eine derartige Frage konkret bezeichnet und darüber hinaus erläutert worden ist, warum sie im angestrebten Berufungsverfahren entscheidungserheblich und klärungsbedürftig wäre und aus welchen Gründen ihre Beantwortung über den konkreten Einzelfall hinaus dazu beitrüge, die Rechtsfortbildung zu fördern oder die Rechtseinheit zu wahren. Des Weiteren muss substantiiert dargetan werden, warum die aufgeworfene Frage im Berufungsverfahren anders als im angefochtenen Urteil zu entscheiden sein könnte und - im Falle einer Tatsachenfrage - welche (neueren) Erkenntnismittel eine anderslautende Entscheidung nahelegen (Senatsbeschl. v. 25.10.2022 - 4 LA 225/20 -, juris Rn. 3; GK-AsylG, Stand August 2023, § 78 Rn. 591 ff. m.w.N.). Im Rahmen dieser Darlegung ist eine konkrete und im Einzelnen begründete Auseinandersetzung mit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung geboten (BVerwG, Beschl. v. 2.5.2022 - 1 B 39.22 -, juris Rn. 18, 21 m.w.N.; Senatsbeschl. v. 25.10.2022 - 4 LA 225/20 -, juris Rn. 3).

Diese Anforderungen erfüllt der Zulassungsantrag nicht.

Die Beklagte hat die Rechtsfrage aufgeworfen,

"ob ein bei der Rückkehrentscheidung bzw. dem Erlass einer Abschiebungsandrohung zu berücksichtigendes inlandsbezogenes Abschiebungsverbot auch eine während des Asylverfahrens bestehende Aufenthaltsgestattung eines Mitglieds der Kernfamilie sein kann bzw. ob die Aufenthaltsgestattung gemäß § 55 AsylG einen rechtmäßigen Aufenthalt begründet, der vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 15. Februar 2023 - C-484/22) im Rahmen des Art. 5 Buchstaben a und b der Rückführungsrichtlinie Berücksichtigung finden muss?"

Vor dem Hintergrund einer nach dem Erlass des erstinstanzlichen Urteils zwischenzeitlich eingetretenen Änderung der Rechtslage, die nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG in dem angestrebten Berufungsverfahren zu berücksichtigen wäre, geht der Senat bei sachdienlicher Auslegung dieser Frage davon aus, dass die Beklagte geklärt wissen will,

ob der Abschiebung eines Ausländers, dessen Schutzbegehren negativ beschieden ist, auch dann im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. das Kindeswohl und/oder familiäre Bindungen entgegenstehen können, wenn der weitere Aufenthalt des betreffenden Kindes bzw. des betreffenden Familienmitglieds im Bundesgebiet "nur" gemäß § 55 AsylG zur Durchführung seines Asylverfahrens gestattet ist.

Denn mit dem am 27. Februar 2024 in Kraft getretenen Gesetz zur Verbesserung der Rückführung (Rückführungsverbesserungsgesetz) (v. 21.2.2024 - BGBl. I Nr. 54) wurde u.a. Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (im Folgenden: Gerichtshof) zu Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatangehöriger (sog. Rückführungsrichtlinie) umgesetzt, zu der auch der in der vorgenannten Frage in Bezug genommene Beschluss des Gerichtshofs vom 15. Februar 2023 (C-484/22, juris) gehört (siehe Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 20/9463, S. 44 f. u. S. 58). Nach Art. 5 Richtlinie 2008/115/EG berücksichtigen die Mitgliedstaaten bei deren Umsetzung a) das Wohl des Kindes, b) die familiären Bindungen (...). Wie der Gerichtshof in seinem Beschluss vom 15. Februar 2023 für Recht erkannt hat, ist Art. 5 Buchst. a und b Richtlinie 2008/115/EG dahin auszulegen, dass er verlangt, das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen im Rahmen eines zum Erlass einer gegen einen Minderjährigen ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen, und dass es nicht genügt, wenn der Minderjährige diese beiden geschützten Interessen im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug dieser Rückkehrentscheidung geltend machen kann, um gegebenenfalls eine Aussetzung deren Vollzugs zu erwirken (EuGH, Beschl. v. 15.2.2023 - C-484/22 -, juris Rn. 28). Bereits zuvor hatte der Gerichtshof entschieden, dass es im Rahmen von Art. 5 Buchst. a und b Richtlinie 2008/115/EG nicht erheblich ist, ob Adressat der Rückkehrentscheidung der Minderjährige selbst oder eines seiner Elternteile ist (EuGH, Urt. v. 11.3.2021 - C-112/20 -, juris Rn. 33 ff.). Entsprechend dieser Vorgaben verlangt § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG in der seit dem 27. Februar 2024 geltenden Fassung (n.F.) als Voraussetzung für den Erlass einer schriftlichen Abschiebungsandrohung durch das Bundesamt nach den §§ 59 und 60 Abs. 10 AufenthG zusätzlich, dass der Abschiebung weder das Kindeswohl noch familiäre Bindungen entgegenstehen. Gleichlautend bestimmt § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG n.F., dass die Abschiebung nur dann anzudrohen ist, wenn ihr u.a. weder das Kindeswohl noch familiäre Bindungen entgegenstehen; Anderes gilt nur im Falle der in dem ebenfalls neu gefassten § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG n.F. genannten Ausnahmen einer Ausreisepflicht des Ausländers auf Grund oder infolge einer strafrechtlichen Verurteilung oder bei Anhängigkeit eines Auslieferungsverfahrens gegen ihn.

Einer durch den Vorrang des Unionsrechts gebotenen Nichtanwendung nationalen Rechts, wie sie das Verwaltungsgericht in seinem hier angegriffenen Urteil in Bezug auf § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG a.F. angenommen hat, bedarf es demgemäß nicht mehr. Die von der Beklagten als klärungsbedürftig angesehene Rechtsfrage würde sich in dem angestrebten Berufungsverfahren daher schon bei der Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen von § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. stellen, der die Anforderungen von Art. 5 Buchst. a und b Richtlinie 2008/115/EG in nationales Recht umsetzt.

Die so verstandene Rechtsfrage lässt sich aber ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens beantworten (vgl. zur fehlenden Klärungsbedürftigkeit z.B. BVerwG, Beschl. v. 19.1.2022 - 1 B 83.21 -, juris Rn. 21). Denn sie ist bereits in der Rechtsprechung des Gerichtshofs hinreichend geklärt (so schon Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 1.2.2024 - 10 LA 44/24 -, juris Rn. 14; siehe auch Bayerischer VGH, Beschl. v. 1.8.2023 - 6 ZB 22.31073 -, juris Rn. 28 ff.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 11.4.2024 - OVG 12 N 25/24 -, n.v.). Ihre Bejahung ergibt sich aus dem von der Beklagten selbst angeführten Beschluss des Gerichtshofs vom 15. Februar 2023 (C-484/22, juris), nach dem es aus unionsrechtlicher Sicht gerade nicht genügt, wenn das Kindeswohl und/oder familiäre Bindungen erst in einem dem Erlass der Rückkehrentscheidung nachfolgenden Verfahren Berücksichtigung finden können. Zwar betraf das der Entscheidung des Gerichtshofs zugrundeliegende Ausgangsverfahren das Schutzbegehren eines Kindes, für dessen Vater und dessen ebenfalls noch minderjährige Schwester ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK festgestellt worden war, weswegen ihnen eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG erteilt worden war (BVerwG, EuGH-Vorlage v. 8.6.2022 - 1 C 24.21 -, juris Rn. 2). Diesen Umstand nahm die zur Auslegung von Art. 5 Richtlinie 2008/115/EG formulierte Vorlagefrage aber nicht auf, sondern stellte allgemein darauf ab, dass "aus rechtlichen Gründen auf unabsehbare Zeit kein Elternteil" des Kindes in sein Herkunftsland oder ein anderes aufnahmebereites Drittland "rückgeführt werden" könne und damit auch dem Minderjährigen das Verlassen des Mitgliedsstaats wegen seiner schutzwürdigen familiären Bindungen (Art. 7 und 24 Abs. 2 GRC, Art. 8 EMRK) nicht zugemutet werden" könne (BVerwG, Tenor der EuGH-Vorlage v. 8.6.2022 - 1 C 24.21 -, juris). Auch in der Begründung der Vorlage wurde generell als zweifelhaft angesehen, "ob die deutsche Rechtslage, nach der eine Rückkehrentscheidung ungeachtet möglicher inlandsbezogener Abschiebungsverbote ergeht und diese in einem gesonderten Verfahren gegenüber der Ausländerbehörde geltend zu machen sind", mit dem Unionsrecht vereinbar sei (BVerwG, EuGH-Vorlage v. 8.6.2022 - 1 C 24.21 -, juris Rn. 26). Demgemäß betreffen auch die im Rahmen der Beantwortung der Vorlagefrage erfolgten Ausführungen des Gerichtshofs, nach denen Art. 5 Richtlinie 2008/115/EG im Hinblick auf seinen Zweck, im Rahmen des mit der Richtlinie eingeführten Rückkehrverfahrens die Wahrung mehrerer Grundrechte - u.a. die in Art. 24 der Charta verankerten Grundrechte des Kindes - zu gewährleisten, nicht eng ausgelegt werden darf und konkret der betreffende Mitgliedstaat vor dem Erlass einer Rückkehrentscheidung gegenüber einem Minderjährigen eine umfassende und eingehende Beurteilung dessen Situation vornehmen und dabei das Wohl des Kindes gebührend berücksichtigen muss (EuGH, Beschl. v. 15.2.2023 - C-484/22 -, juris Rn. 23 u. 26), allgemein den Fall, dass es zwischen einem Kind und seinen Eltern bzw. innerhalb einer schutzwürdigen familiären Gemeinschaft aus rechtlichen Gründen auf unabsehbare Zeit zu einer Trennung kommen könnte. Diese Situation kann aber auch eintreten, wenn der Aufenthalt des betreffenden Kindes bzw. des betreffenden Familienmitglieds in Deutschland "nur" gemäß § 55 AsylG zur Durchführung seines Asylverfahrens gestattet ist.

Dass ein Rechtsgrund für den Aufenthalt im Bundesgebiet auch die Durchführung eines Asylverfahrens ist, ergibt sich schon aus dem Wortlaut von § 55 Abs. 1 Satz1 AsylG und entspricht darüber hinaus auch allgemeiner Auffassung (siehe Amir-Haeri, in: Huber/Mantel, AufenthG/AsylG, 3. Aufl. 2021, § 55 AsylG Rn. 1; Bender/Bethke/Dorn, in: Hofmann, Ausländerrecht, 3. Aufl. 2023, § 55 AsylG Rn. 7; Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, AufenthG, 14. Aufl. 2022, § 55 AsylG Rn. 5; Röder, in: BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Werkstand 15.1.2024, § 55 AsylG Rn. 6). Insoweit handelt es sich, wie die Beklagte in ihrem Zulassungsantrag selbst einräumt, um einen rechtmäßigen Aufenthalt. Warum, wie die Beklagte allerdings weiter meint, nur ein dauerhafter rechtmäßiger Aufenthalt in der Bundesrepublik berücksichtigungsfähig sein soll, erschließt sich nicht (so im Ergebnis auch die überwiegende verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung; vgl. die Nachweise bei VG Gießen, Beschl. v. 18.4.2024 - 1 L 1041/24.GI.A -, juris Rn. 15 und 16). Für die Entscheidung, ob dem Erlass der Abschiebungsandrohung das Kindeswohl und/oder familiäre Bindungen entgegenstehen, ist nicht erheblich, ob der Aufenthalt des betreffenden Kindes bzw. Familienmitglieds dauerhaft rechtmäßig oder - jedenfalls zunächst - nur auf die Dauer des Asylverfahrens beschränkt rechtmäßig ist (ähnlich bereits OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 11.4.2024 - OVG 12 N 25/24 -, n.v., Beschlussabdruck, S. 3). Denn es ist gerade nicht ausgeschlossen, dass auch der unterschiedliche Verlauf der Asylverfahren von Familienmitgliedern zu einer Trennung auf unabsehbare Zeit führen kann. Dies zeigt beispielhaft der dem Zulassungsantrag zugrundeliegende Fall, in dem die Klägerin gemeinsam mit ihrem damals erst zwei Jahre alten Sohn nach Deutschland einreiste, den nur auf die für sich selbst geltend gemachten Gründe gestützten Asylantrag für ihr Kind kurze Zeit nach ihrem eigenen stellte, eine Entscheidung darüber aber auch zwei Jahre nach der Ablehnung des Schutzgesuchs der Klägerin noch nicht vorlag, obgleich auch der Asylantrag des Kindesvaters schon vor der Einreise von Mutter und Sohn abgelehnt worden war. Dem von der Beklagten zur Untermauerung ihrer Argumentation angeführten Beschleunigungsgebot des Art. 31 Abs. 2 Richtlinie 2013/32/EU, nach dem die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass das Prüfverfahren unbeschadet einer angemessenen und vollständigen Prüfung so rasch wie möglich zum Abschluss gebracht wird, wurde im Fall des Kindes der Klägerin, ohne dass Gründe dafür ersichtlich wären, gerade nicht Rechnung getragen. Im Übrigen können zwar in die Prüfung, ob der Abschiebung eines Ausländers gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. das Kindeswohl und/oder familiäre Bindungen entgegenstehen, auch die für die Verstetigung des rechtmäßigen Aufenthalts maßgebenden Erfolgsaussichten des Asylverfahrens des betreffenden Kindes bzw. Familienmitglieds eingestellt werden. Dies ändert allerdings nichts daran, dass, wie das Verwaltungsgericht zutreffend angenommen hat, die Trennung eines erst vierjährigen Kindes von seiner Mutter auf nicht absehbare Zeit zwingend zu verhindern ist. Davon war das Bundesamt in seinem Bescheid vom 2. August 2021 auch selbst ausgegangen und hatte auf die Möglichkeit der Aussetzung der Abschiebung nach § 43 Abs. 3 Satz 1 AsylG verwiesen. Zu der von der Beklagten angestrebten "zeitnahen Rückführung nach Abschluss des Asylverfahrens" wäre es im Fall der Klägerin daher ohnehin nicht gekommen. Ungeachtet dessen greift der Verweis der Beklagten auf das Beschleunigungsgebot des Art. 31 Abs. 2 Richtlinie 2013/32/EU, wenn man es denn auch auf den Erlass der Rückkehrentscheidung bezieht, auch deswegen nicht durch, weil die ausdrücklich unbenommen gelassene "angemessene und vollständige Prüfung" in diesem Fall auch die Anforderungen von Art. 5 Buchst. a und b Richtlinie 2008/115/EG zu berücksichtigen hat.

Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil auch insoweit rechtskräftig, als es mit dem Zulassungsantrag angegriffen worden ist (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).