Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 10.06.2024, Az.: 2 ME 20/24
Vorübergehende Befreiung eines schwerbehinderten Schülers von der Schulpräsenzpflicht i.R.d. Kindeswohls
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 10.06.2024
- Aktenzeichen
- 2 ME 20/24
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2024, 16564
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2024:0610.2ME20.24.00
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Oldenburg - 12.02.2024 - AZ: 5 B 2432/23
Rechtsgrundlage
Fundstellen
- FamRZ 2024, 1551
- NVwZ-RR 2024, 907-911
- NZFam 2024, 912
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Die Schulbesuchspflicht (Schulpräsenzpflicht) wird durch das durch Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Kindeswohl und die sich daraus zugleich ergebende Schutzpflicht des Staates begrenzt.
- 2.
Die Schulbesuchspflicht setzt die Schul(besuchs)fähigkeit, d.h. die Fähigkeit der Schülerin bzw. des Schülers voraus, die Schule aufzusuchen und am dortigen Schulunterricht teilnehmen zu können. Neben der geistigen und körperlichen Fähigkeit bedarf es dafür auch der Fähigkeit zum Umgang mit eigenen Emotionen ebenso wie zum sozialen und emotionalen Umgang mit anderen Schülerinnen und Schülern, Lehrkräften und anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Schule.
- 3.
Schüler des Primarbereichs mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die infolge ihrer Beeinträchtigung - hier Beeinträchtigung aus dem Autismus-Spektrum/Asperger Syndrom mit Phobie - die erforderliche Schulfähigkeit vorübergehend nicht besitzen bzw. mangels Kapaziät der Schule nicht adäquat beschult werden können, können bis zur Herstellung ihrer Schulfähigkeit bzw. bis zur Erstellung eines auf ihre Beeinträchtigung abgestimmten individuellen Beschulungskonzepts - zum Zwecke des Besuchs einer Web-Schule von der Schul(präsenz)pflicht befreit werden; Anspruchsgrundlage dürfte die weit auszulegende Regelung des § 69 NSchG sein.
Tenor:
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Oldenburg - 5. Kammer - vom 12. Februar 2024 wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5.000 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Mit der Beschwerde wendet sich der Antragsgegner gegen die einstweilige Anordnung des Verwaltungsgerichts, durch die er verpflichtet wird, den Antragsteller für das Schuljahr 2023/2024 von der Schulpräsenzpflicht zu befreien.
Der am ... 2015 geborene Antragsteller ist schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 70 und den Merkzeichen H (Hilfe) und B (Berechtigung zur Mitnahme einer Begleitperson). Zudem besteht eine Pflegebedürftigkeit (Pflegegrad 4). Bereits im März 2022 wurde bei dem Antragsteller durch den Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Dr. E. eine Autismus-Spektrum-Störung im Sinne eines Asperger-Syndroms (ICD 10: F 84.5) diagnostiziert. Mit Bescheid vom 23. Juni 2023 stellte der Antragsgegner auf der Grundlage des Fördergutachtens der Förderschullehrerin und der Schulleiterin der zuständigen Grundschule vom 17. Mai 2022 bei dem Antragsteller einen Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung fest.
Einen erstmals im Frühjahr 2022 gestellten Antrag, den Antragsteller, der im Sommer 2022 altersentsprechend regelhaft zur Einschulung in die erste Klasse der Grundschule anstand, von der Schulpflicht zu befreien und ihm die Genehmigung zur Fernbeschulung an der F. Fernschule G.-Stadt e.V. ab der ersten Klasse (BA, VV-AG, Bl. 31) zu erteilen, hatte der Antragsgegner zunächst mit Bescheid vom 11. Mai 2022 abgelehnt. Den sich daran anschließenden Verwaltungsrechtsstreit (5 A 1490/22, VG Oldenburg) haben die Beteiligten im November 2022 im Wege eines Vergleichs beigelegt, nachdem ein zuvor unternommener (erster) Versuch, den Antragsteller durch eine Sonderpädagogin (Förderlehrerin Frau H.) im Wege des Hausunterrichts zu beschulen, gescheitert war. In dem gerichtlichen Vergleich haben sich die Beteiligten darauf geeinigt, dass der Antragsteller gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 NSchG vom Schulbesuch im Schuljahr 2022/2023 zurückgestellt und während der Dauer der Zurückstellung keinen Schulkindergarten besuchen wird. Seit Februar 2023 wird der Antragsteller über die F. Fernschule G. -Stadt, bei der es sich nicht um eine anerkannte Ersatzschule handelt, beschult. Ein Besuch der zuständigen Grundschule erfolgte auf der Grundlage von Krankmeldungen nicht.
Am 27. März 2023 beantragte der Antragsteller - unter Vorlage eines Attestes des Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Dr. E. vom 21. März 2023, des Erstberichtes des Autismus-Therapiezentrums I. -Stadt vom 29. November 2022 und einer Stellungnahme der F. Fernschule G. -Stadt- die Befreiung von der Schulbesuchspflicht und die Genehmigung seiner Beschulung durch die Fernschule G. -Stadt Seine Befreiung sei notwendig, weil eine regelhafte Beschulung - auch mit einer Schulbegleitung -, der Besuch einer Förderschule, sowie eine Einzelbeschulung durch eine sonderpädagogische Fachkraft in der Schule oder im häuslichen Bereich nicht möglich seien. Bei dem vorangegangenen Versuch einer Beschulung durch eine sonderpädagogische Fachkraft im häuslichen Umfeld, habe die Lehrkraft den Antragsteller nicht ein einziges Mal gesehen, weil der Antragsteller regelmäßig in Panik verfallen, sich vor ihr versteckt und sich erst wieder gezeigt habe, nachdem die Lehrkraft das Haus verlassen habe. Auch dann sei er immer noch zittrig, verschwitzt und voller Angst gewesen. Der Antragsteller habe weiterhin massive Ängste und Panik, verstecke sich vor anderen Menschen und Kindern, reagiere mitunter überreizt und habe täglich Shutdowns, Magenschmerzen, Halsschmerzen, Durchfall, Schlafstörungen und nervöse Tics. Sämtliche Versuche, ihn regelhaft zu beschulen, seien deshalb ohne Erfolg geblieben. Vor diesem Hintergrund und angesichts der bekannten Beeinträchtigungen des Antragstellers sei seine Beschulung an der F. Fernschule G. -Stadt auch nach der Einschätzung des behandelnden Facharztes, aktuell der einzig mögliche Weg zur Beschulung. Das Lernen an der Fernschule mache ihm Spaß, er verliere langsam seine Ängste und fasse Vertrauen. Seine schulischen Leistungen seien gut bis sehr gut. Alle anderen Beschulungsmöglichkeiten stellten für ihn eine unzumutbare Härte dar und würden seinen Gesundheitszustand sowohl körperlich als auch seelisch und emotional drastisch verschlechtern.
Mit Bescheid vom 5. Juli 2023 lehnte der Antragsgegner die Anträge - nach Einholung einer gesonderten Stellungnahme des Niedersächsischen Kultusministeriums - ab. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus, eine Erfüllung der gesetzlich verankerten Schulpflicht durch die Teilnahme am Unterricht an einer Fernschule ab der ersten Klasse sei im Niedersächsischen Schulgesetz (NSchG) nicht vorgesehen. Die Schulpflicht sei eine Schulbesuchspflicht. Schülerinnen und Schüler seien grundsätzlich verpflichtet, zu einer Schule zu kommen und dort am Präsenzunterricht teilzunehmen. Nur in Ausnahmefällen erlaube das Niedersächsische Schulgesetz die Erfüllung der Schulpflicht durch alternative Möglichkeiten. So bestimme § 69 Abs. 3 NSchG für Schülerinnen und Schülern im Sekundarbereich I, die in besonderem Maße auf sozialpädagogische Hilfe angewiesen seien, dass diese ihre Schulpflicht, solange sie auf diese Hilfe angewiesen seien, ganz oder teilweise in einer außerschulischen Einrichtung erfüllen könnten. Zu den außerschulischen Einrichtungen könne auch der Fernunterricht in einer lnternetschule bzw. Web-Schule zählen. Die Regelung finde aber im vorliegenden Fall keine Anwendung, weil der Antragsteller den Primarbereich und nicht den Sekundarbereich I (Klasse 5 bis 10) besuche. Problematisch sei zudem, dass die Vermittlung der Unterrichtsinhalte an der Fernschule G.-Stadt zum großen Teil durch die Erziehungsberechtigten selbst unter Zuhilfenahme von zur Verfügung gestellten Schulmaterialien erfolge und Lehrkräfte nur im Einzelfall zu Rate gezogen werden könnten. Eine solche Beschulung sei in Niedersachsen nicht zulässig.
Dagegen hat der Antragsteller fristgerecht Klage erhoben (5 A 2431/23) und zugleich um vorläufigen Rechtschutz nachgesucht (5 B 2432/23). Er hat vortragen lassen: Infolge seiner behinderungsbedingten Beeinträchtigungen sei er derzeit nicht in der Lage, eine Schule zu besuchen. Sämtliche auch sonderpädagogische Unterstützungsversuche, ihm den Besuch einer Grundschule zu ermöglichen, seien bislang gescheitert. Aus fachärztlicher Sicht stellten sämtliche Formen einer Beschulung im Sinne des Niedersächsischen Schulgesetzes für ihn eine unzumutbare Härte dar; bei einer zwangsweisen Durchsetzung der Schulpflicht sei eine Verschlimmerung seines Gesundheitszustandes zu befürchten. Der Besuch der F. Fernschule G. -Stadt, die er seit dem vergangenen Schuljahr besuche, sei aufgrund ihres auf seine Behinderung abgestimmten Konzepts bislang alternativlos. Durch die Fernschule werde er dergestalt 1:1 und in geschützter Umgebung unterrichtet, dass ihm Unterrichtsmaterialien, die auf die Lehrpläne der Bundesländer abgestimmt seien, regelmäßig übersandt und sodann von ihm mit Unterstützung seiner Mutter im eigenen Tempo und nach seinen eigenen Möglichkeiten bearbeitet würden. Zudem werde der Unterricht durch eine staatlich examinierte Lehrkraft betreut, die die Betreuung für das gesamte Schuljahr übernehme. Der Unterricht erfolge in den Fächern Deutsch, Mathematik, Englisch und Sachkunde nach den aktuellen Lehrplänen der Bundesländer. Er erhalte damit nicht nur Zugang zu Bildung, sondern mache dank des individuellen Lernmodells auch in seiner Entwicklung Fortschritte und erziele schulisch gute bis sehr gute Ergebnisse. Dies ergebe sich auch aus der Bescheinigung der Fernschule vom 21. März 2023. Auch in dem Elternbrief vom 31. Juli 2023 werde betont, dass er die ihm übertragenen Unterrichtsaufgaben fleißig und sehr erfolgreich bzw. mit sehr guten Ergebnissen bearbeite. Schon seit dem 1. Januar 2022 werde er zudem regelmäßig im Autismus-Therapiezentrum I.-Stadt therapiert, und seit Juni 2023 befinde er sich in einer Therapie in einer Praxis für Logopädie. Trotz der Fortschritte habe sich aber seine gesundheitliche Situation noch nicht derart verbessert, dass der (erneute) Versuch einer Präsenzschulung unternommen werden könne. Zur Glaubhaftmachung legte der Antragsteller den Erstbericht des Autismus-Therapiezentrums I.-Stadt vom 29. November 2022, Atteste des Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Dr. E. vom 14. Juli 2023 und 19. Januar 2024, eine Bescheinigung der F. Fernschule e.V. G.-Stadt vom 21. März 2023 und eine eidesstattliche Versicherung der sorgeberechtigten Kindesmutter vor.
Mit Beschluss vom 12. Februar 2024 hat das Verwaltungsgericht den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragsteller für das Schuljahr 2023/2024 vorläufig von der Schulpräsenzpflicht zu befreien.
Dagegen richtet sich der Antragsgegner mit seiner Beschwerde.
II
Die Beschwerde des Antragsgegners, mit dem Antrag,
unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichtes Oldenburg vom 12. Februar 2024, bekannt gegeben am 12. Februar 2024, den Antrag des Antragstellers, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihn für das Schuljahr 2023/2024 von der Schulbesuchspflicht zu befreien, abzulehnen,
hat keinen Erfolg.
Das Beschwerdevorbringen, auf das sich die Prüfung des Senats beschränkt (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), führt nicht zur Änderung der Entscheidung des Verwaltungsgerichts.
Zur Begründung seiner Entscheidung hat das Verwaltungsgericht u.a. ausgeführt, es bestehe in materiell-rechtlicher Hinsicht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass dem Antragsteller ein Anspruch auf Befreiung von der Schulbesuchspflicht zustehe. Die Schulpflicht sei als Schulbesuchspflicht in Präsenz ausgestaltet. Neben der tatbestandlich nicht in Betracht kommenden Ausnahmeregelung des § 69 NSchG würden Befreiungen durch die Landesschulbehörde auf der Grundlage des Runderlasses des Niedersächsischen Kultusministeriums "Ergänzende Bestimmungen zum Rechtsverhältnis zur Schule und zur Schulpflicht" vom 1. Dezember 2016 (Nds. SVBl. 12/2016, S. 705) gewährt. Nach Nr. 3.2.1 des Erlasses sei eine Befreiung vom Besuch der Schule lediglich in besonders begründeten Ausnahmefällen möglich. Da die Entscheidung im Ermessen der Schulbehörde stehe, komme ein Anspruch auf die Befreiung vom Präsenzunterricht nur im Falle einer Ermessensreduktion auf null in Betracht. Da sich der Gesetzgeber im Grundsatz für eine Schulbesuchspflicht in Präsenz entschieden habe (§ 63 Abs. 1 NSchG), komme eine Ermessensreduktion zu Gunsten einer Befreiung nur in Betracht, wenn diese verfassungsrechtlich geboten sei, namentlich der staatlichen Verpflichtung zum Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit der Schülerin bzw. des Schülers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nur durch eine Befreiung von der Schulbesuchspflicht entsprochen werden könne (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22. September 2021 - 19 B 1458/21 -, juris). Im Falle des Antragstellers lägen diese Voraussetzungen vor. Nach dem gegenwärtigen Sachstand sei das Gericht davon überzeugt, dass es dem Antragsteller unter Beachtung seines Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) unzumutbar sei, an einer Beschulung in Präsenz oder im Wege des Hausunterrichts teilzunehmen. Der von dem Antragsgegner zur Begründung des ablehnenden Bescheides angeführte Zweck des Präsenzunterrichtes, nämlich auch Kindern und Jugendlichen mit Förderbedarf durch die Interaktion mit anderen Schülerinnen und Schülern, der Lehrerschaft und pädagogischen Fachkräften die Möglichkeit zur Erweiterung seiner sozialen Interaktionsfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit, Selbstständigkeit und der sprachlichen Fertigkeiten zu bieten, sei im Falle des Antragstellers - jedenfalls zur Zeit - infolge seiner Autismus-Spektrum-Störung und seiner emotionalen Auffälligkeiten nicht erreichbar. Trotz der inzwischen wahrgenommenen Förderangebote im Autismus-Therapiezentrum sei seine Beschulung an einer Schule - ausweislich des Erstberichtes des Autismus-Therapiezentrums I.-Stadt vom 29. November 2022 - mit Beginn des Schuljahres 2023/24 weiterhin nicht möglich. Ebenso sei ein Versuch gescheitert, den Antragsteller durch eine Lehrkraft im häuslichen Umfeld zu beschulen (Hausunterricht). Auch die Einschätzung des Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. E. sei eindeutig. Wie bereits in mehreren früheren ärztlichen Bescheinigungen komme der Facharzt auch in seinem Attest vom 14. Juli 2023 zu dem Ergebnis, dass für den Antragssteller in den Jahren 2023 und 2024 eine normale Beschulung in Präsenz oder in Form einer Hausbeschulung wegen seiner Autismus-Spektrum-Störung und seiner emotionalen Auffälligkeiten, insbesondere einhergehender Ängste vor fremden Personen unzumutbar sei. Bei Kontakten zu anderen Menschen gerate der Antragteller demnach in Panik, wodurch auch erhebliche gesundheitsschädliche körperliche Reaktionen, wie Puls- und Blutdruckerhöhung, Bauchschmerzen, Durchfall, Schwindel und Übelkeit ausgelöst würden. Der Versuch seiner Hausbeschulung habe ebenfalls zu Bauchschmerzen, Durchfall, Übelkeit, Durchschlafstörungen, motorischen und vokalen Tics, Panikattacken, Wutausbrüchen und Nahrungsverweigerung geführt. Nach der Einschätzung des Facharztes komme bislang nur eine Online-Beschulung in Frage. Danach liege im Falle des Antragstellers ein besonderer Ausnahmegrund vor, der zu einer Verdichtung des Anspruchs aus Nr. 3.2.1 des Runderlasses hin zu einer zwingenden Befreiung von der Schulbesuchspflicht führe. Ein Abwarten des Ausgangs des Hauptsacheverfahrens sei dem Antragsteller wegen der ansonsten drohenden schwerwiegenden Beeinträchtigung seines Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) nicht zuzumuten, so dass auch die mit der Entscheidung verbundene Vorwegnahme der Hauptsache gerechtfertigt sei. Abschließend hat das Verwaltungsgericht zudem im Hinblick auf ein nachfolgendes jugendhilferechtliches Verfahren darauf hingewiesen, dass gegenwärtig allein die Fortsetzung der auf die individuellen Bedürfnisse des Antragstellers zugeschnittenen Beschulung durch die F. Fernschule G.-Stadt im Wege des Online-Unterrichts in Betracht kommen dürfte. Im Ganzen liege wohl ein Fall eines sogenannten "Systemversagens" vor, bei dem einem Kind u.a. aus schwerwiegenden subjektiven Gründen der Besuch einer öffentlichen Schule nicht zumutbar sei und deshalb eine Finanzierung der Kosten einer Beschulung durch eine private Schule veranlasst sei, bis der Schulträger seinem Versorgungsauftrag nachkomme.
Mit seinem Beschwerdevorbringen macht der Antragsgegner dagegen geltend, die Entscheidung des Verwaltungsgerichts sei fehlerhaft, weil das Niedersächsische Schulgesetz keine Anspruchsgrundlage für die begehrte vorläufige Befreiung von der Schulpflicht enthalte und mithin kein Anordnungsanspruch bestehe. Zwar könnten nach § 69 Abs. 3 NSchG Schülerinnen und Schüler im Sekundarbereich I, die in besonderem Maße auf sozialpädagogische Hilfe angewiesen seien, ihre Schulpflicht, solange sie auf die Hilfe angewiesen seien, ganz oder teilweise in einer außerschulischen Einrichtung erfüllen, und dazu gehöre auch der Besuch einer Web-Schule. Für den Primarbereich fehle aber eine entsprechende gesetzliche Regelung, eine solche ergebe sich entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts auch nicht aus Art. 2 GG in Verbindung mit dem genannten Runderlass.
Ohne sich mit den diesbezüglichen und den weiteren Ausführungen des Verwaltungsgerichts auseinanderzusetzen, vertritt die Beschwerde mit diesem Vorbringen im Umkehrschluss die Auffassung, der Antragsteller sei mangels gesetzlicher Ausnahmeregelung schulbesuchspflichtig. Dem folgt der Senat nicht.
Der Landesgesetzgeber hat die Schulpflicht als Schulbesuch- bzw. Schulpräsenzpflicht ausgestaltet, nach der Schülerinnen und Schüler verpflichtet sind, die Schule aufzusuchen und am dortigen Unterricht teilzunehmen (vgl. § 63 Abs. 1 NSchG). Nach dem Gesamtkonzept des Niedersächsischen Schulgesetzes bedingt die Schulpflicht aber - auch im Hinblick auf das Konzept der inklusiven Beschulung (§§ 4, 14 NSchG) - eine entsprechende Schulbesuchsfähigkeit, d.h. die Fähigkeit der Schülerin bzw. des Schülers die Schule aufzusuchen und am dortigen Schulunterricht teilzunehmen. Ausdrücklich erwähnt der Landesgesetzgeber die für die Schulpflicht erforderliche Schulfähigkeit in der Regelung zur Schulpflicht (§ 64 NSchG).
Davon ausgehend stellt das Verwaltungsgericht mit seinen Ausführungen im Kern darauf ab, dass der Antragsteller infolge seiner Beeinträchtigungen (derzeit) nicht die für die Erfüllung der Schulbesuchspflicht ebenso wie für eine Hausbeschulung notwendige Schulfähigkeit, nämlich über die - neben der geistigen und körperlichen Fähigkeit - erforderliche hinreichende Fähigkeit zum sozialen und emotionalen Umgang mit seinen eigenen Emotionen ebenso wie mit anderen Schülerinnen und Schülern, Lehrkräften und pädagogischen Fachkräften verfügt. Diese für den Schulbesuch erforderliche Schulfähigkeit des Antragstellers hat das Verwaltungsgericht auf der Grundlage der vorgelegten fach(ärzt-)lichen Stellungnahmen, Atteste und des Fördergutachtens nicht nur verneint, sondern zudem hervorgehoben, dass im Falle einer Durchsetzung der Schulpräsenzpflicht oder einer Hausbeschulung mit einer unzumutbaren Gefährdung und drastischen Verschlechterung des Gesundheitszustands des Antragstellers zu rechnen sei; dem Antragsteller sei es im Hinblick auf das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG - jedenfalls derzeit - unzumutbar, an einer Beschulung in Präsenz oder in Form von Hausunterricht teilzunehmen.
Den dieser Einschätzung - die der Senat teilt - zugrunde gelegten fachlichen und fachärztlichen Stellungnahmen tritt die Beschwerde weder substantiiert entgegen noch setzt sie sich mit diesen inhaltlich auseinander.
So wird in dem Bericht des Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie vom 17. März 2022 ausgeführt:
"Bei Autismus-Spektrums-Störungen handelt es sich um angeborene, tiefgreifende Entwicklungsstörungen, der eine komplexe Störung des zentralen Nervensystems, insbesondere im Bereich der Wahrnehmungsverarbeitung, zugrunde liegt. Deren Auswirkung behindert von Geburt an in vielfältiger Weise die Beziehung zur Umwelt; die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft, den Schulerfolg und die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft, da sprachliche, motorische und emotionale Funktionen betroffen sind.
A.'s Teilhabe an der Gesellschaft ist beeinträchtigt.
Ich empfehle eine den Selbstwert steigernde Gruppenpsychotherapie in einem Autismus Zentrum, die auch A.'s soziale Kompetenz steigern wird. Für A.'s Eltern kann eine Selbsthilfegruppe nützliche Informationen geben. In der Schule und in der Ausbildung hat A. aus fachärztlicher Sicht Anspruch auf eine Schulassistenz und einen Nachteilsausgleich. Dieser Anspruch kann durch ein Amt geprüft werden.
Aus der Anamnese ergibt sich der Verdacht, dass er bei Einschulung den Schulbesuch vermeidet. Seine Mutter hat versucht ihn in drei verschiedenem Kindergärten einzugliedern. Die Eingliederungen scheiterten.
Deshalb ist aus meiner Sicht abzusehen, dass er auch den Schulversuch verweigert. Aus meiner Sicht ist eine Online Beschulung ein angemessener Förderrahmen für ihn.
Bei A. liegt eine psychische Störung vor, die mit hoher Wahrscheinlichkeit noch länger als sechs Monate bestehen wird. Eine Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ist nach fachlicher Erkenntnis bereits vorhanden. Aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht sind die Voraussetzungen des § 35 a SBG VIII erfüllt. Es besteht weder eine geistige noch körperliche Behinderung."
In dem weiteren Attest vom 22. März 2022 führt der Facharzt zu den Möglichkeiten einer Beschulung des Antragstellers zudem aus:
"Die Online-Beschulung ist alternativlos. Eine Regelbeschulung empfehle ich nicht, weil A. ängstlich und mit psychosomatischen Beschwerden auf große Gruppen reagiert; Seine Autonomie beim Abschalten des Computers ermöglicht ihm die Dosierung einer möglichen Überforderung. Die Online Beschulung bietet Kontinuität und Reizarmut. A. kann aus seinem sicheren Umfeld heraus allen Leistungsanforderungen besser gerecht werden.
1. Eine Präsenz-Schule mit Integrationshelfer (Schulassistenz) und Nachteilsausgleich reicht nicht aus, weil sich A. in großen Gruppen nicht aufhalten kann. Er verweigert große Gruppen. Neues, Wechsel und Unvorbereitetes gehören zum Schulalltag und irritieren A.
2. Hausunterricht kommt nicht in Frage. Ein Eindringen zunächst unvertrauter Lehrpersonen führt zu Panik und vegetativen Symptomen wie Schwitzen und Zittern. Nach meiner Erfahrung öffnen Asperger-Autisten der Lehrperson nicht die Tür.
3. Sozialpädagogische Hilfen und der Besuch einer außerschulischen Einrichtung mit einzelfallbezogenem Förderplan kommen nicht in Frage, weil das eine ungewohnte Umgebung bedeuten wird."
In dem im Verfahren zu Feststellung des Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung am 17. Mai 2022 erstellten Fördergutachten der Grundschule wird u.a. zu den Möglichkeiten der Beschulung des Antragstellers ausgeführt:
"Für A.'s Start in die Schule ist es unerlässlich, dass er
1. zum einen Rückzugsmöglichkeiten hat. Im Optimalfall ist dies ein für ihn vorgehaltener reizarmer Raum, der ihm die Möglichkeit gibt, herunterzufahren und sich zurückzuziehen.
2. Zum anderen sollte ein wertschätzender und respektabler Umgang mit s Diagnosen im Sinne des inklusiven Gedankens im Schulalltag erfolgen.
Bezüglich des 2. Punktes habe ich an der Grundschule (J. K. -Stadt) keine Bedenken. Jedoch sehe ich den 1. Punkt kritisch. Im gewissen Maße ist ein Rückzugsort an der Schule kein Problem, jedoch sind A.'s Bedürfnisse weit über das "normale Maß" hinaus. Das Asperger-Syndrom gepaart mit seiner sozialen Phobie stellt eine Beschulung an einer Regelschule vor sehr große Herausforderungen. Zudem muss zunächst ein Prozess der sozialen Integration (siehe Punkt 5) erfolgen, damit eine Beschulung überhaupt gelingen kann. Probleme sehe ich eindeutig darin, dass A., wie sich bereits gezeigt hat, Schulgelände nicht betritt und nicht einmal aus dem Auto aussteigt. Außerdem ist es uns personell nicht möglich, ihn in einer 1-zu-1-Situation zu unterrichten oder zu betreuen. Auch eine geeignete Schulbegleitung mit ausreichendem pädagogische Fachkenntnissen und speziellen Kenntnissen bzgl. des Asperger-Autismus kann nicht gewährleistet werden."
In dem zuletzt vorgelegten fachärztlichen Bericht vom 19. Januar 2024 wird - wie schon in den vorangegangenen fachärztlichen Attesten und Berichten - erneut ausgeführt:
"Vor dem Hintergrund einer durchschnittlichen Intelligenz zeigen sich die typischen Symptome einer Autismus-Spektrums-Störung im Sinne eines Asperger-Syndroms. Zusätzlich besteht eine ADHS. ...
A.'s Teilhabe an der Gesellschaft ist beeinträchtigt.
Ich empfehle eine den Selbstwert steigernde Gruppenpsychotherapie in einem Autismus-Zentrum, die auch A.'s soziale Kompetenz steigern wird. .... In der Schule und in der Ausbildung hat A. aus fachärztlicher Sicht Anspruch auf eine Schulassistenz und einen Nachteilsausgleich. Dieser Anspruch kann durch ein Amt geprüft werden.
Die ADHS kann bei Bedarf mit Medikamenten behandelt werden.
Aus der Anamnese ergibt sich der Verdacht, dass er bei Einschulung den Schulbesuch vermeidet. Seine Mutter hat versucht in drei verschiedenen Kindergärten einzugliedern. Die Eingliederung scheiterte. Deshalb ist aus meiner Sicht abzusehen, dass er auch den Schulversuch verweigert. Aus meiner Sicht ist eine Online Beschulung ein angemessener Förderrahmen für ihn. Bei A. liegt eine psychische Störung vor, die mit hoher Wahrscheinlichkeit noch länger als sechs Monate bestehen wird. Eine Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ist nach fachlicher Erkenntnis bereits vorhanden. Aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht sind die Voraussetzungen des § 35 a SBG Vlll erfüllt.
Es besteht weder eine geistige noch körperliche Behinderung."
Schließlich setzt sich die Beschwerde auch mit dem weiteren Ansatz des Verwaltungsgerichts nicht auseinander, wonach der Zweck des Schulpräsenzunterrichts, nämlich auch Kindern und Jugendlichen mit Förderbedarf durch die Interaktion mit anderen Schülern, Lehrern und pädagogischen Fachkräften die Möglichkeit zur Erweiterung der sozialen Interaktionsfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit, Selbstständigkeit und der sprachlichen Fertigkeiten zu bieten, im Falle des Antragstellers aufgrund seiner tiefgreifenden Beeinträchtigungen - jedenfalls zur Zeit - nicht erreicht werden kann.
Vermag das Beschwerdevorbringen mithin eine Änderung der Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht zu begründen, so sieht sich der Senat - ohne dass es darauf für die Entscheidung im vorliegenden Beschwerdeverfahren ankommt - angesichts des bevorstehenden Schuljahresende und des damit verbundenen zeitlichen Ablaufs der streitigen einstweiligen Verpflichtung des Antragsgegners - mit Blick auf einen erneuten Befreiungsantrag - zu folgender Ergänzung veranlasst:
Der Senat geht mit dem Antragsgegner davon aus, dass die Schulbesuchspflicht ein Kernstück des in Art. 7 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich verbürgten staatlichen Erziehungsauftrags ist. Diesem zur Durchsetzung zu verhelfen liegt grundsätzlich auch in dem durch Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Kindesinteresse sowie im Allgemeininteresse (vgl. BVerfG, Beschl. v. 15.10.2014 - 2 BvR 920/14, juris Rn. 16). Die Schulbesuchspflicht wird aber durch das in Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Kindeswohl und die sich daraus zugleich ergebende Schutzpflicht des Staates begrenzt.
Dies zugrunde gelegt geht der Senat mit dem Verwaltungsgericht - derzeit - davon aus, dass eine Beschulung des Antragstellers im Wege des Besuchs einer Schule oder in der eigenen häuslichen Umgebung, (noch) nicht in Betracht kommt, weil diese - nach dem derzeitigen Sachstand und der vorläufigen Einschätzung des Senats - zu einer gravierenden Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Antragstellers führen und für ihn und seine Erziehungsberechtigte eine unzumutbare Härte bedeuten würde. Die Gründe dafür, dass der Antragsteller seine Schulpräsenzpflicht zur Zeit nicht erfüllen kann, liegen dabei - nach dem zitierten Fördergutachten der Grundschule vom 17. Mai 2022 - nicht allein in den festgestellten Beeinträchtigungen des Antragstellers, sondern augenscheinlich auch in der diesbezüglich beschränkten Kapazität der zuständigen Schule (vgl. § 59 Abs. 5 NSchG), namentlich den fehlenden (personellen) Möglichkeiten zu einer adäquaten individualisierten Beschulung und pädagogischen Begleitung des Antragstellers im Schulunterricht. Der Schulträger scheint danach - zum gegenwärtigen Zeitpunkt - selbst nicht in der Lage zu sein, seinen Bildungs- und Versorgungsauftrag zu erfüllen. Diese Umstände, die der Antragsgegner nicht bestreitet, legen den Schluss nahe, dass derzeit ein Fall eines - partiellen - Systemversagens vorliegt.
Ein vollständiges Systemversagen (vgl. hierzu auch VG Würzburg, Beschl. v. 16.8.2021 - W 3 E 21.985 - juris, m.w.N.) vermag der Senat - ebenso wie das Verwaltungsgericht - dagegen nicht festzustellen. Denn hinsichtlich der Beeinträchtigungen des Antragstellers ist nach vorgelegten Stellungnahmen und Gutachten davon auszugehen, dass seine behutsame Heranführung an eine für ihn geeignete und seinen individuellen Förderbedarf berücksichtigende Beschulung nicht von vornherein unmöglich ist. Ebenso wenig kann nach der derzeitigen Sachlage davon ausgegangen werden, dass der Antragsgegner seinen Bildungs- und Versorgungsauftrag gegenüber dem Antragsteller dauerhaft nicht erfüllen kann.
Die Möglichkeiten einer behutsamen Heranführung ebenso wie die Möglichkeiten eines auf die Beeinträchtigungen und den Förderbedarf des Antragstellers abgestimmten individualisierten Autismus-spezifischen Beschulungskonzeptes haben die Beteiligten bislang nicht abschließend ausgelotet. Denn Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf können ihre Schulpflicht nicht nur durch den Besuch einer öffentlichen inklusiven Schule (§ 4 NSchG) oder Förderschule (§ 14 NSchG) erfüllen. Die Schulpflicht kann auch durch den Besuch einer das öffentliche Schulwesen ergänzenden anderen Schule in freier Trägerschaft (§§ 139 ff.), einer genehmigten Ersatzschule (§§ 142, 143 NSchG) oder einer anerkannten Tagesbildungsstätte (§ 162 NSchG) erfüllt werden.
Zur weiteren Klärung bedarf es des gemeinsamen Dialogs zwischen der beteiligten Schulbehörde (§ 120 NSchG), den Erziehungsberechtigten des Antragstellers sowie dem/den zuständigen Schulträger/n bzw. ggf. den Trägern anderer (freier) Schulen (vgl. auch Runderlass des MK v. 1.8.2020 - 32.5. 81020 -, Die Arbeit in der Grundschule, u.a. Nr. 2.9 (SVBl 2020, Nr. 8, S. 66). Zur Klärung der Sachlage und der Beschulungsmöglichkeiten wird vermutlich auch die Beteiligung der schulpsychologischen Beratungsstelle des Antragsgegners (§ 120 NSchG) und die Hinzuziehung externen Fachwissens (z.B. des Autismus-Zentrums, eines geeigneten Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, einer Logopädin etc.) sachdienlich sein. In den Dialog werden die Beteiligten auch einzustellen haben, dass dem Recht und Interesse der Erziehungsberechtigten, zwischen den Möglichkeiten einer inklusiven Beschulung nach Maßgabe des § 4 Abs. 2 NSchG und dem Besuch von Förderschulen nach § 14 NSchG zu wählen, sowie dem Kindeswohl als hohem Gut und Maßstab der Förderung und Beschulung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf, besondere Bedeutung zu kommt (vgl. Senatsbeschl. v. 7.8.2014 - 2 ME 271/14 -, juris; LT Drs. 16/4620, Schriftlicher Bericht u.a. zum Entwurf eines Gesetzes zur Verwirklichung des Rechtes auf Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der Schule, Seite 4, Zu Nr. 1 (§ 4) und Seite 7, Zu Nr. 9 (§ 59)). Der Landesgesetzgeber hat diesen Interessen durch die Normierung spezialgesetzlicher Regelungen Rechnung getragen und den Anspruch von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf auf individuell angepasste und wirksame Maßnahmen zu ihrer Förderung und Unterstützung gesetzlich geregelt (vgl. § 4 Abs. 2 NSchG). Neben diesen Interessen ist im Dialog ebenso einer etwaigen, durch die verfügbaren personellen, sächlichen und fachspezifischen Gegebenheiten beschränkten Aufnahmekapazität der in Betracht zu ziehenden Schule (§ 59 Abs. 5 NSchG) Rechnung zu tragen, wie sie auch im Fördergutachten thematisiert wird.
Der Senat sieht bislang keinerlei Anlass, an der Bereitschaft der Erziehungsberechtigten des Antragstellers an einem konstruktiven Dialog zu zweifeln. Gleichwohl hält er den vorsorglichen Hinweis auf die in § 71 Abs. 1 NSchG geregelte schulrechtliche Pflicht der Erziehungsberechtigten, ihre Kinder zur Befolgung der Schulpflicht anzuhalten, für angebracht. Diese Pflicht umfasst auch das Bestreben der Erziehungsberechtigten, Kinder entsprechend ihrer individuellen Möglichkeiten Fähigkeiten, in der Entwicklung ihrer Schulbesuchsfähigkeit zu fördern und zu unterstützen und so an den Schulbesuch heranzuführen.
Abschließend weist der Senat darauf hin, dass die Möglichkeit zur Beschulung des Antragstellers - nach dem Fördergutachten vom 17. Mai 2022 - sozusagen in einem ersten Schritt seine Befähigung zur sozialen Integration bedingt.
Um dem Recht des Antragstellers auf Zugang zu Bildung und dem staatlichen Bildungsauftrag - bis dahin - einstweilen Rechnung zu tragen, könnte - ohne dass der Senat auch dies hier abschließend zu beurteilen hat - die vorläufige Gestattung des Besuchs einer Web-Schule, der nach den fachlichen Stellungnahmen bislang alternativlos erscheint, im allseitigen Interesse der Beteiligten liegen; dies ggf. auch bis zu einer Beseitigung des partiellen Systemversagens bzw. der Entwicklung eines passenden individualisierten Konzeptes zur Beschulung des Antragstellers im staatlichen Schulsystem oder an einer anderen Schule.
Anders als in anderen Bundesländern, in denen es mehr oder weniger weit gefasste rechtliche Auffangtatbestände für Ausnahmen von der Schulpflicht gibt (vgl. z.B. § 41 Abs. 3 u. 3a SchulG Berlin), fehlt im Niedersächsischen Schulgesetz zwar ein entsprechender allgemeiner Auffangtatbestand. Als Rechtsgrundlage für eine (weitere) Befreiung von der Schulpräsenzpflicht und für die Genehmigung des Besuchs einer geeigneten Web-Schule dürfte hier aber - auch für den Antragsteller als Primarschüler - die Regelung § 69 NSchG heranzuziehen sein. Nach § 69 Abs. 2 NSchG soll Schülerinnen und Schülern, die infolge einer längerfristigen Erkrankung die Schule nicht besuchen können, Unterricht zu Hause oder im Krankenhaus erteilt werden. § 69 Abs. 3 NSchG bestimmt zudem, dass Schülerinnen und Schüler im Sekundarbereich I, die in besonderem Maße auf sozialpädagogische Hilfe angewiesen sind, ihre Schulpflicht, solange sie auf diese Hilfe angewiesen sind, ganz oder teilweise in einer außerschulischen Einrichtung erfüllen können, und nach dem Vortrag des Antragsgegners gehört dazu auch der Besuch einer Web-Schule.
§ 69 NSchG regelt die Schulpflicht in "besonderen Fällen", insbesondere, wenn Schülerinnen und Schüler aus tatsächlichen Gründen nicht in der Lage sind, ihre Schulpflicht durch den Besuch einer (geeigneten) Schule zu erfüllen. Die Norm dient dem Schutz des Rechts auf Bildung (§ 54 NSchG) und der Erfüllung der Schulpflicht ebenso wie dem Schutz des Kindeswohls (Art. 2 Abs. 1. i.V.m. Art 1 Abs. 1 GG), wenn Schülerinnen und Schüler infolge besonderer Lebenslagen die Schule nicht aufsuchen können (vgl. Nolte/Ulrich Nds. Schulgesetz, Kommentar 12. Auflage 2023, § 63 Anm. 1).
Entgegen der im vorliegenden Verfahren eingeholten Stellungnahme des Kultusministeriums dürfte die Regelung des § 69 NSchG über ihren Wortlaut hinaus - bei teleologischer Auslegung - nach dem Willen des Landesgesetzgebers weit auszulegen sein. Darauf lassen die Materialien zu dem Gesetz zur Änderung des Niedersächsischen Schulgesetzes vom 3. Juni 2015 (Nds. GVBl. 90) schließen, mit dem der Befreiungstatbestand des § 63 Abs. 5 NSchG, der Schulpflichtigen der ersten sechs Schuljahrgänge ausnahmsweise Privatunterricht anstelle des Schulbesuchs gestattete, gestrichen wurde (vgl. LT Drs. 17/2882, Amtliche Begründung zum Entwurf des Gesetzes zur Änderung des Niedersächsischen Schulgesetzes vom 13.2.2015, Seite 33, Zu Nummer 23 (§ 63), Buchstabe b). Danach sollte mit der Streichung des § 63 Abs. 5 NSchG (a.F.) lediglich klargestellt werden, dass die Schulpflicht als Schulbesuchspflicht ausgestaltet ist und die Schulpflicht durch Hausunterricht "in aller Regel" nicht erfüllt werden kann. Dabei ist der Gesetzgeber aber gleichwohl davon ausgegangen, dass Ausnahmen von der Pflicht zum Schulbesuch weiterhin von der Schulbehörde aus wichtigem Grund erteilt werden können, und die in den §§ 69 f. geregelten Ausnahmetatbestände dafür ausreichen. Entgegen der im vorliegenden Verfahren geäußerten Ansicht hat das Kultusministerium dazu im Gesetzgebungsverfahren ausdrücklich die Auffassung vertreten, dass es für den Auffangtatbestand (des § 63 Abs. 5 NSchG 2013) keine Anwendungsfälle mehr gebe, weil diese anderweitig geregelt seien oder durch Aktualisierung untergesetzlicher Vorschriften geregelt werden könnten (vgl. LT Drs. 17/3598, S. 11 f zu Nr. 23 (§ 63 Abs. 4 u. 5), Bericht des federführenden Kultusausschusses zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Nds. Schulgesetzes (Gesetzesentwurf LT Drs. 17/2882). Anders als der Antragsgegner meint, kann aus dem Umstand der Streichung des § 63 Abs. 5 NSchG 2013 mithin nicht geschlossen werden, im Primarbereich scheide eine Befreiung von der Schulpräsenzpflicht von vornherein aus. Dafür sprechen auch die nach der Gesetzesänderung erlassenen untergesetzlichen Bestimmungen des Runderlasses des Niedersächsischen Kultusministeriums "Ergänzende Bestimmungen zum Rechtsverhältnis zur Schule und zur Schulpflicht" vom 1. Dezember 2016 (Nds. SVBl. 12/2016, S. 705). Eine weite Auslegung des § 69 NSchG dürfte auch im Licht des Rechts der Schülerinnen und Schüler auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) geboten sein.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertentscheidung beruht auf §§ 47, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG. Von einer Halbierung des Streitwertes wegen des vorläufigen Charakters der Entscheidung im Verfahrens der einstweiligen Anordnung sieht der Senat angesichts der hier mit dem Verfahren verbundenen (jedenfalls) teilweisen Vorwegnahme der Hauptsache ab.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).