Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 15.10.2019, Az.: 12 ME 162/19
Festsetzung des Streitwerts für die Entziehung der Fahrerlaubnis und zugleich mit dem Verlust der Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 15.10.2019
- Aktenzeichen
- 12 ME 162/19
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2019, 41402
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 3 StVG
- § 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 3 Halbs. 1, S. 5, 7 StVG
- § 4 Abs. 9 StVG
- § 48 Abs. 10 S. 2 FeV
- § 52 Abs. 1 GKG
Fundstellen
- SVR 2020, 134
- ZAP EN-Nr. 746/2019
- ZAP 2019, 1291
Amtlicher Leitsatz
Ist mit der Entziehung der Fahrerlaubnis nach §§ 3, 4 StVG gemäß § 48 Abs. 10 Satz 2 FeV zugleich der Verlust der Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung verbunden, so beträgt der Streitwert (im Klageverfahren) 10.000 EUR.
Gründe
I.
Der am 21. Mai 1969 geborene, vormals als Busfahrer tätige Antragsteller wendet sich gegen die auf dem sog. Punktesystem (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 Halbsatz 1 StVG) beruhende, nach § 4 Abs. 9 StVG von Gesetzes wegen sofort vollziehbare Entziehung seiner Fahrerlaubnis.
Die in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG vorausgesetzten, mit insgesamt mindestens acht Punkten bewerteten Verkehrsverstöße beging der Antragsteller in der Zeit zwischen dem 3. März 2014 und dem 6. November 2018; die Ahndung des letztgenannten Verstoßes wurde am 15. April 2019 rechtskräftig.
Der Antragsteller war im Juli 2019 im Besitz einer unbefristeten Fahrerlaubnis u. a. der Klasse B. Ein von ihm im April 2019 gestellter Antrag auf Verlängerung der ihm bis zur Vollendung eines 50. Lebensjahres, d. h. bis zum 21. Mai 2019, erteilten (befristeten) Fahrerlaubnis u. a. für die Klassen C und D war unbeschieden. Allerdings war der Antragsteller im Juli 2019 noch im Besitz einer bis zum 10. April 2020 gültigen Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung.
Nach im Juni 2019 erfolgter Anhörung entzog der Antragsgegner dem Antragsteller gestützt auf § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG mit dem hier streitigen Bescheid vom 8. Juli 2019 die (allgemeine) Fahrerlaubnis.
Den dagegen gerichteten - als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der am 19. Juli 2019 erhobenen Anfechtungsklage verstandenen - Antrag hat das Verwaltungsgericht mit seinem aus dem Tenor ersichtlichen Beschluss abgelehnt und zur Begründung ausgeführt:
"Der Antragsgegner hat den Bescheid zu Recht auf § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG gestützt. Die Voraussetzungen der Vorschrift liegen vor. Im maßgeblichen Zeitpunkt ergab sich ein Stand von acht Punkten nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem. Maßgeblicher Zeitpunkt ist gemäß § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG der Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit. Es kommt dagegen nicht auf den Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung, hier den 8.7.2019, an. Vielmehr erfolgt eine retrospektive Beurteilung des Punktestandes durch die Fahrerlaubnisbehörde (Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 43. Aufl. 2015, § 4 StVG Rn. 80). Im Falle des Antragstellers ist maßgeblicher Zeitpunkt demnach der 6.11.2018. In diesem Zeitpunkt ergaben sich für den Antragsteller acht Punkte im Fahreignungsregister. Die nachträgliche Tilgung von zwei Punkten am 2.7.2019 ist unerheblich.
Die Fahrerlaubnisentziehung ist auch nicht unverhältnismäßig. Die Fahrerlaubnisentziehung gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG hat zwingend zu erfolgen, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen vorliegen. Dass der Fahrerlaubnisbehörde kein Ermessen eingeräumt wird, macht auch die Vorschrift selbst nicht unverhältnismäßig, weil der Gesetzgeber die Interessen der Betroffenen bereits in den Blick genommen, aber das Interesse der Allgemeinheit an der Sicherheit des Straßenverkehrs höher gewichtet hat. Andere Gründe für die Rechtswidrigkeit des streitgegenständlichen Bescheides sind weder vorgetragen worden noch ersichtlich."
II.
Die Beschwerde des Antragstellers gegen diesen Beschluss des Verwaltungsgerichts hat keinen Erfolg.
Dabei wird zu Gunsten des Antragstellers angenommen, dass er nur versehentlich den Antrag auf Aufhebung des Bescheides vom 8. Juli 2019 aus seiner Klageschrift übernommen hat, tatsächlich aber - unter Änderung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses - ebenso wie im ersten Rechtszug des Eilverfahrens lediglich die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner am 19. Juli 2019 erhobenen Anfechtungsklage begehrt. So verstanden entspricht sein Antrag noch den diesbezüglichen Anforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO.
Die vom Antragsteller dargelegten und vom Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO allein zu prüfenden Gründe rechtfertigen es allerdings nicht, auf diesen Beschwerdeantrag den verwaltungsgerichtlichen Beschluss zu ändern und die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage anzuordnen. Denn nach § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO muss sich der Antragsteller als Beschwerdeführer mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen, d. h. ausgehend von der Begründungsstruktur dieser Entscheidung das Entscheidungsergebnis in Frage stellen (Stuhlfauth, in: Bader u. a., VwGO, 7. Aufl., § 146, Rn. 31). Die erforderliche Dichte seiner eigenen Ausführungen hat sich dabei an der Dichte der Begründung der angefochtenen Entscheidung zu orientieren (Happ, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl., § 146, Rn. 22a). Je intensiver diese Entscheidung begründet ist, umso eingehender muss der Beschwerdeführer die sie tragende Argumentation entkräften. Es reicht deshalb grundsätzlich nicht aus, wenn er lediglich eine eigene Würdigung der Sach- und Rechtslage vorträgt, die im Ergebnis von derjenigen des Verwaltungsgerichts abweicht. Vielmehr muss er in der Regel den einzelnen tragenden Begründungselementen der angefochtenen Entscheidung geeignete Gegenargumente konkret gegenüberstellen und - soweit möglich - deren Vorzugswürdigkeit darlegen (Nds. OVG, Beschl. v. 16.11.2016 - 12 ME 132/16 -, ZNER 2017, 70 ff., hier zitiert nach juris, Rn. 56, und Beschl. v. 10. 2. 2014 - 7 ME 105/13 -, juris, Rn. 26). Hieraus folgt, dass es regelmäßig nicht genügt, wenn er pauschal auf sein erstinstanzliches Vorbringen Bezug nimmt oder dieses unverändert wiederholt (vgl. Stuhlfauth, a. a. O., § 146, Rn. 31, m. w. N.).
Diesen Darlegungsanforderungen wird das Vorbringen des Antragstellers nicht gerecht, maßgeblicher Zeitpunkt für (die Rechtmäßigkeit der) die Entscheidung des Antragsgegners sei (in Ansehung des Punktestandes) nicht der 6. November 2018 (als letzter Tattag), sondern der Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom 8. Juli 2019 gewesen. Denn er setzt sich nicht mit dem (zutreffend) vom Verwaltungsgericht für seine Ansicht herangezogenen Inhalt des § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG auseinander, wonach für das Ergreifen der Maßnahmen nach Satz 1 auf den Punktestand abzustellen ist, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden ... Ordnungswidrigkeit ergeben hat.
In diesem Zusammenhang verwendet der Antragsteller zudem die Begriffe "tilgen" und "löschen" offenbar (entgegen § 29 Abs. 6 StVG) zu Unrecht synonym (vgl. zum Unterschied gerade im Rahmen des § 4 StVG: Senatsbeschl. v. 22.2.2017 - 12 ME 240/16 -, juris). Die Eintragung des im Juni 2014 von ihm begangenen Verkehrsverstoß war am 2. Juli 2019 nur zu tilgen, nicht schon zu löschen. Dass diese Tilgung entgegen des Beschwerdevorbringens unerheblich ist, ergibt sich aus § 4 Abs. 5 Satz 7 StVG. Danach bleiben nämlich - bezogen auf den o. a. letzten Tattag - "spätere" Verringerungen des Punktestandes auf Grund von Tilgungen unberücksichtigt.
Der Antragsteller nimmt im Übrigen (auf S. 1 Abs. 1 und S. 2 Abs. 2 der Begründung der Beschwerde) an, dass der Antragsgegner seinen Bescheid für sofort vollziehbar erklärt habe, und rügt hieran anknüpfend, dass das dafür erforderliche Vollzugsinteresse wegen der seit dem November 2018 verstrichenen Zeit nicht hinreichend gewichtig sei. Schon seine Eingangsprämisse ist jedoch falsch. Wie das Verwaltungsgericht unter Bezug auf § 4 Abs. 9 StVG richtig angeführt hat, ist ein solcher Bescheid vielmehr von Gesetzes wegen sofort vollziehbar.
Mit dem hierauf aufbauenden Ansatz des Verwaltungsgerichts, den Zeitablauf als materielles Problem der Verhältnismäßigkeit des § 4 Abs. 5 StVG zu betrachten, setzt sich der Antragsteller jedoch nicht auseinander.
Sollte er stattdessen allgemein oder nur in besonderen Fällen auch für von Gesetzes wegen sofort vollziehbare Verwaltungsakte ein zusätzliches Vollzugsinteresse oder eine, am Schluss der Beschwerdebegründung schlagwortartig angeführte "Härtefallprüfung" für erforderlich erachten, so wird dies schon nicht hinreichend deutlich und fehlte der Beschwerdebegründung jedenfalls die dafür erforderliche normative Anknüpfung.
Im Übrigen spricht Überwiegendes dafür, dass in dem hier gegebenen Fall des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO der Maßstab des § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO jedenfalls insoweit entsprechend anzuwenden ist, als es danach für den Sofortvollzug grundsätzlich keines zusätzlichen einzelfallbezogenen Vollzugsinteresses bedarf (vgl. allgemein Saurenhaus/Buchheister, in: Wysk, VwGO, 2. Aufl., § 80, Rn. 48; Funke-Kaiser, in: Bader u. a., a. a. O., § 80, Rn. 96, jeweils m. w. N.; sowie speziell bezogen auf § 4 Abs. 9 StVG: Senatsbeschl. v. 30.4.2015 - 12 ME 21/15 -, v. 21.11.2016 - 12 ME 169/16 - und v. 18.4.2017 - 12 ME 70/17 -). Ob in entsprechender Anwendung des § 80 Abs. 4 Satz 3 Alt. 2 VwGO ausnahmsweise die Prüfung einer "unbilligen" Härte geboten ist (vgl. Külpmann, in: Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl., Rn. 973), kann offenbleiben. Eine solche Härte ist jedenfalls im überwiegenden Interesse der Verkehrssicherheit einschließlich der Interessen der vom Antragsteller zu befördernden Fahrgäste zu verneinen, wenn ein ungeeigneter Berufskraftfahrer, der - wie der Antragsteller - innerhalb von fünf Jahren mehrere schwerwiegende, u. a. zu drei Fahrverboten führende Verkehrsverstöße begangen hat, seine Fahrerlaubnis unverzüglich verliert. Ob dem Antragsteller insoweit zusätzlich vorzuhalten ist, nach Vollendung seines 50. Lebensjahres am 21. Mai 2019 bis Anfang Juli 2019 ohne die dazu erforderliche Fahrerlaubnis u. a. einen "Bus" gefahren zu haben, was er nach seinem Beschwerdevorbringen wohl getan hat, kann dabei dahinstehen.
Wie eingangs ausgeführt, entspricht die Verweisung in der Beschwerdebegründung auf erstinstanzliches Vorbringen und "weitere Einlassungen" nicht den Darlegungsanforderungen und ist daher im Beschwerdeverfahren unerheblich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG und orientiert sich an den Nrn. 1.5 Satz 1, 46.10 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NordÖR 2014, 11). Der Senat legt der Streitwertbemessung in ständiger Rechtsprechung aus den Nummern 46.1. bis 46.9 des bezeichneten Katalogs nur die von der Entziehung betroffene Fahrerlaubnisklasse mit dem jeweils höchsten Wert zu Grunde, d. h. maximal den 1,5-fachen Auffangwert. Ein noch darüberhinausgehender Wert, in Höhe des 2-fachen Auffangwertes, ergibt sich aus Nr. 46.10 für die dort angeführte Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung. Insoweit handelt es sich zwar nach § 48 FeV um eine gesonderte Fahrerlaubnis, die vorliegend nicht ausdrücklich entzogen worden ist. Nach § 48 Abs. 10 Satz 2 FeV hat der hier streitige Entzug der "allgemeinen" Fahrerlaubnis aber automatisch auch den Verlust der besonderen Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung zur Folge. In der Vergangenheit hat der Senat diese Rechtsfolge bei der Streitwertbemessung unterschiedlich bewertet (vgl. etwa Beschl. v. 7.6.2005 - 12 OA 81/05 -, juris, v. 3.1.2013 - 12 ME 232/12 - und v. 19.10.2016 - 12 ME 146/16 -, jeweils unveröffentlicht). Es erscheint dem Senat nunmehr ausgehend von der gesetzlichen Vorgabe des § 52 Abs. 1 GKG, den Streitwert nach der sich für den Kläger aus seinem Antrag ergebenden Bedeutung zu bemessen, sachgerecht, die ausdrücklich in § 48 Abs. 10 Satz 2 FeV angeordnete Rechtsfolge des Wegfalls der Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung streitwerterhöhend zu berücksichtigen, allerdings nicht zusätzlich, sondern in Fortführung der ständigen allgemeinen Senatsrechtsprechung "nur" insoweit, also dann nach Nr. 46.10 insgesamt ein Streitwert in Höhe des doppelten Auffangwert von 10.000,- EUR anzunehmen ist. Dieser ist wiederum in Anwendung von Nr. 1.5 Satz 1 des Streitwertkatalogs für die Wertfestsetzung im vorliegenden Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO zu halbieren.
Dass sich die verfügte Entziehung der Fahrerlaubnis entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts nach den (klarstellenden) ergänzenden Angaben des Antragsgegners im Beschwerdeverfahren nicht auch auf die Klassen C und D bezogen hat, ist daher für die Streitwertbemessung unerheblich.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).