Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 28.10.2019, Az.: 8 ME 76/19

zwingender Grund; Haushaltsgemeinschaft; familiäre Lebensgemeinschaft; grenznaher Ort; Veranlassung; Veranlassung der Verteilung; Verteilung; Verteilungsverfahren

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
28.10.2019
Aktenzeichen
8 ME 76/19
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 69841
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 10.09.2019 - AZ: 19 B 1578/19

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Sind die Folgen der Verteilung für die familiäre Lebensgemeinschaft unzumutbar, so besteht auch dann ein zwingender Grund i.S.d. § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG, wenn keine Haushaltsgemeinschaft vorliegt.

Tenor:

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - 19. Kammer (Einzelrichterin) - vom 10. September 2019 wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens und unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Hannover - 19. Kammer (Einzelrichterin) - vom 10. September 2019 der Streitwert des erstinstanzlichen Verfahrens vorläufigen Rechtsschutzes werden auf jeweils 2.500,00 EUR festgesetzt.

Gründe

Der Antragsteller wendet sich gegen die ihm auferlegte Verpflichtung, sich zu der Behörde zu begeben, die die Verteilung i.S.d. § 15a AufenthG veranlasst. Er wendet dagegen ein, dass er sich nahezu täglich tagsüber um sein Kind kümmere, ohne allerdings in derselben Wohnung zu wohnen. Seinem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz hat das Verwaltungsgericht durch Beschluss vom 10. September 2019 stattgegeben. Dagegen richtet sich die Beschwerde der Antragsgegnerin.

Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Aus den mit ihr dargelegten Gründen, auf deren Prüfung das Oberverwaltungsgericht beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass das Verwaltungsgericht dem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz zu Unrecht stattgegeben hätte. Die Vorspracheanordnung ist bei summarischer Prüfung rechtswidrig.

Rechtsgrundlage der Verpflichtung, sich zu der Behörde zu begeben, die die Verteilung veranlasst, ist § 15a Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Nach Satz 2 dieser Vorschrift gilt die Ermächtigung nicht, wenn dem Vorbringen nach § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG Rechnung zu tragen ist. Bei der Verteilung ist nach der zuletzt genannten Bestimmung dem Umstand Rechnung zu tragen, dass der Ausländer vor Veranlassung der Verteilung nachweist, dass eine Haushaltsgemeinschaft zwischen Ehegatten oder Eltern und ihren minderjährigen Kindern oder sonstige zwingende Gründe bestehen, die der Verteilung an einen bestimmten Ort entgegenstehen.

Der Begriff des „zwingenden Grundes“, der nicht auf bestimmte familiäre Bindungen beschränkt ist, ist keiner weiteren abstrakten Konkretisierung zugänglich, sondern es bedarf der tatrichterlichen Würdigung im Einzelfall, ob für den Ausländer eine Verteilung an einen anderen Ort generell oder jedenfalls an den behördlich bestimmten Ort unzumutbar ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 22.8.2016 - 1 B 44/16 -, juris Rn. 4; Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 20.4.2016 - 4 ME 107/16 -). Der im Vordergrund stehende Gesetzeszweck einer gerechten Verteilung der Lasten auf alle Bundesländer führt dazu, dass persönliche Umstände nur beschränkt berücksichtigt werden können. Zwingende Gründe liegen im Allgemeinen nur dann vor, wenn eine Verteilung nach § 15a AufenthG zu ähnlich gewichtigen Nachteilen führt, wie sie im Fall eines bei einem in Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK eingreifenden Auseinanderreißens einer ehelichen oder familiären Gemeinschaft entstehen würden (OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 8.12.2015 - OVG 3 B 4.15 -, juris Rn. 25).

§ 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG führt als zwingenden Grund beispielhaft eine Haushaltsgemeinschaft zwischen Ehegatten oder Eltern mit ihren minderjährigen Kindern auf. Dieses Beispiel schließt es indes nicht aus, dass aus der Beziehung eines Elternteils zu dessen minderjährigem Kind mit Blick auf Art. 6 GG ein zwingender Grund auch dann resultieren kann, wenn diese Beziehung nicht in einer Haushaltsgemeinschaft gelebt wird (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 22.7.2014 - 18 B 695/14 -, juris Rn. 13). Die Unzumutbarkeit der Verteilung ist dabei unter Berücksichtigung der Tatsache zu beurteilen, dass alle betroffenen Familienmitglieder sich im Bundesgebiet aufhalten und die Rechtsordnung weitere Mechanismen zur Berücksichtigung familiärer Belange enthält. Je nach den Umständen des Falles kann den Interessen hinreichend durch einen späteren Wohnungswechsel nach erfolgter Verteilung gemäß § 15a Abs. 5 AufenthG oder die Abweichung von der räumlichen Beschränkung zur Aufrechterhaltung der Familieneinheit nach Erteilung einer Duldung Rechnung zu tragen sein (vgl. Hamburgisches OVG, Beschl. v. 10.3.2016 - 4 Bs 3/16 -, InfAuslR 2016, 287, juris Rn. 29 f.; OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 7.10.2014 - 2 L 152/13 -, juris Rn. 15; vgl. auch OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 9.4.2014 - 3 B 33.11 -, juris Rn. 30).

Im Hinblick auf diese Mechanismen kann es entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts auch auf die vom 4. Senat des Oberverwaltungsgerichts angeführte Erwägung ankommen, dass ein regelmäßiger Kontakt nicht ausgeschlossen ist, wenn der Ort, an den der Betroffene verteilt wird, in Grenznähe zu dem Bundesland liegt, in dem sich das andere Familienmitglied aufhält (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 20.4.2016 - 4 ME 107/16 -). Das Interesse an einer solchen Verteilung kann zwar bei der Verteilungsentscheidung gemäß § 15a Abs. 1 Satz 4 AufenthG nicht berücksichtigt werden, wohl aber bei einer anschließenden Umverteilung gemäß § 15a Abs. 5 AufenthG (vgl. Hamburgisches OVG, Beschl. v. 10.3.2016 - 4 Bs 3/16 -, InfAuslR 2016, 287, juris Rn. 29). Im Einzelfall kann es ausreichen, den familiären Belangen dadurch Rechnung zu tragen, dass die Verteilung nicht vollständig unterbleibt, dass aber - wenn sie nicht sogleich einen grenznahen Wohnort zur Folge hat - nachgehend eine Umverteilung in ein angrenzendes Bundesland erfolgt. Dadurch kann die Unzumutbarkeit entfallen. In die Betrachtung ist allerdings insbesondere auch der voraussichtliche Zeitraum, der bis zur Wohnsitznahme in dem grenznahen Ort vergehen wird, einzubeziehen. Ein ausbleibender Kontakt in diesem Zeitraum kann bei nicht täglichen Kontakten zu einem schon etwas älteren Kind eher zumutbar sein als bei häufigen Kontakten zu einem kleinen Kind.

Das Oberverwaltungsgericht folgt nicht dem Beschwerdevorbringen, wonach der Gesetzgeber eine Wertentscheidung hinsichtlich der Frage getroffen habe, welcher Grad an familiärem Zusammenleben der Verteilung entgegenstehe, und dabei die Haushaltsgemeinschaft gefordert habe. Bei der Prüfung des Vorliegens eines zwingenden Grundes ist nicht allein die Beschaffenheit der familiären Beziehung, sondern das Ausmaß ihrer Beeinträchtigung durch die Verteilung an einen bestimmten Ort ausschlaggebend. Dafür, welche Schwere der Eingriff erreichen muss, bietet das Gesetz nur einen groben Anhalt. Bereits für die in § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG bezeichneten Beispiele der Haushaltsgemeinschaft einerseits zwischen (erwachsenen) Ehegatten und andererseits zwischen Eltern und ihren minderjährigen Kindern hätte eine Trennung nicht dasselbe Gewicht. Hinzu kommt, dass familiäre Lebensgemeinschaften vielgestaltig sein können, so dass auch unterschiedliche Haushaltsgemeinschaften zwischen Eltern und Kindern in unterschiedlicher Weise von einer Verteilung betroffen wären. Vor diesem Hintergrund ist § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG nicht zu entnehmen, dass das Bestehen einer Haushaltsgemeinschaft eine notwendige Bedingung der Annahme eines aus einer familiären Lebensgemeinschaft abgeleiteten zwingenden Grundes wäre und dass eine anderweitige gewichtige familiäre Verbundenheit ausgeblendet werden könnte (vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 9.1.2009 - 2 BvR 1064/08 -, NVwZ 2009, 387, juris Rn. 15). Entscheidend ist vielmehr die Unzumutbarkeit der Verteilungsfolgen, die in ihrem Gewicht der Beendigung einer durchschnittlichen, typisierten Haushaltsgemeinschaft in etwa gleichkommen muss.

Aufgrund der Intensität der Beziehung des Antragstellers zu seinem Kind besteht ein sonstiger zwingender Grund, der der Verteilung an einen bestimmten Ort entgegensteht. Die auch vorübergehende Unterbrechung der familiären Lebensgemeinschaft und der verringerte Umfang, in dem sie bei einer Verteilung nur fortgeführt werden könnte, sind unzumutbar. Sie führten zu ähnlich gewichtigen Nachteilen wie das Auseinanderreißen einer Haushaltsgemeinschaft. Das Verwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass der Antragsteller die Vaterschaft für sein Kind anerkannt hat und sich um dieses täglich mit der Mutter in deren Haushalt kümmert. Dagegen wendet die Beschwerde nichts ein. Auch wenn man berücksichtigt, dass der Antragsteller nur angegeben hat, sich nahezu täglich im Haushalt der Kindesmutter und bei seinem Kind aufzuhalten, liegt eine intensive familiäre Beziehung vor. Nur zur Nachtzeit besteht regelmäßig kein Kontakt, tagsüber hingegen ist dieser stärker ausgeprägt als etwa derjenige zwischen einem Kind und einem berufstätigen Elternteil. Eine Verteilung an jeden anderen Ort würde die gegenwärtig gelebte Form der Vater-Kind-Beziehung beenden. Der Antragsteller wäre nicht mehr der selbstverständlich tagsüber nahezu jederzeit präsente Vater, sondern ein Besucher, der in mehr oder weniger langen Abständen im Haushalt zu Gast wäre. So verhielte es sich selbst dann, wenn die Verteilung in einen grenznahen Ort erfolgte. Zudem ist in Rechnung zu stellen, dass die Ansiedlung in einem grenznahen Ort unter Umständen nicht alsbald, sondern - wenn eine Umverteilung erforderlich sein sollte - erst nach Wochen oder Monaten erfolgen könnte. Bis dahin drohte eine weitgehende Unterbrechung des Kontakts, die von dem Kind angesichts seines jungen Alters rasch als endgültig empfunden werden könnte. Auf dessen Sicht ist - insoweit nicht anders als bei einer Aufenthaltsbeendigung - maßgeblich mit abzustellen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 8.12.2005 - 2 BvR 1001/04, DVBl. 2006, 247, juris Rn. 25; v. 5.6.2013 - 2 BvR 586/13 -, NVwZ 2013, 1207, juris Rn. 14). Schon deswegen ist der Einwand der Beschwerde, die Verteilung sei Folge der Umgehung des geordneten Einreiseverfahrens durch den Antragsteller, verfehlt.

Der Vortrag der Beschwerde zu der Frage, ob der Antragsteller nachgewiesen hat, dass er nicht in Haushaltsgemeinschaft mit seinem Kind wohnen kann, führt zu keinem anderen Ergebnis. Zunächst ist nicht dargelegt, dass diesbezüglicher Vortrag des Antragstellers nicht berücksichtigungsfähig wäre. Gemäß § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG kommt es darauf an, ob der Nachweis vor Veranlassung der Verteilung erfolgt. Die Veranlassung der Verteilung liegt nicht in dem Erlass der Vorspracheanordnung durch die Ausländerbehörde gemäß § 15a Abs. 2 AufenthG. Durch diese Anordnung wird der Antragsteller erst verpflichtet, sich zu der Behörde zu begeben, die die Verteilung veranlasst (§ 15a Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Das ist die Landesaufnahmebehörde Niedersachsen (vgl. Senatsbeschl. v. 11.1.2013 - 8 ME 2/13 -, juris Rn. 16). Frühestens deren verwaltungsinternes Ersuchen an die zentrale Verteilungsstelle (§ 15a Abs. 1 Satz 3, Abs. 3 Satz 1 AufenthG) bedeutet die Veranlassung der Verteilung (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 25.1.2018 - 18 B 1537/17 -, AuAS 2018, 50, juris Rn. 11; a.A. Hamburgisches OVG, Beschl. v. 27.8.2015 - 1 Bs 159/15 -, NVwZ-RR 2016, 196, juris Rn. 5: Erlass der Verteilungsentscheidung). Die Beschwerde trägt nicht vor, dass die Verteilung in diesem Sinne bereits veranlasst worden wäre.

Davon unabhängig sieht es auch das Oberverwaltungsgericht nicht als entscheidend an, ob der Antragsteller an der Begründung einer Haushaltsgemeinschaft gehindert ist oder diese aus freiem Willen nicht aufnimmt. Ist die Beeinträchtigung der konkret gelebten familiären Gemeinschaft durch die Verteilung hinreichend intensiv, so ist ein zwingender Grund gegeben. Das gilt auch dann, wenn es lediglich die freie Entscheidung der Familienmitglieder ist, keinen gemeinsamen Haushalt zu führen. Fehlt es umgekehrt an der notwendigen Schwere der Beeinträchtigung, so erleiden die Betroffenen durch die Verteilung keine unzumutbare Einbuße. Dass sie durch äußere Umstände an einer engeren familiären Lebensgemeinschaft mit gemeinsamem Haushalt gehindert sind, verstärkt die Unzumutbarkeit der Verteilung nicht.

Der Vortrag der Beschwerde, der Antragsteller nehme eine städtische Unterkunft in Anspruch, die für Ausländer vorgesehen sei, die im Rahmen des Asylverfahrens oder des Umverteilungsprozesses in den Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin verteilt würden, überzeugt nicht. Teil des Verteilungsverfahrens ist die Prüfung des § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG. Wird ein Ausländer aufgrund dieser Vorschrift nicht in ein anderes Bundesland verteilt, wird dem, was die durch § 15a AufenthG bezweckte Lastenteilung angeht, dadurch Rechnung getragen, dass eine Anrechnung auf die Aufnahmequote erfolgt (vgl. Hamburgisches OVG, Beschl. v. 10.3.2016 - 4 Bs 3/16 -, InfAuslR 2016, 287, juris Rn. 22 f.; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 25.1.2018 - 18 B 1537/17 -, AuAS 2018, 50, juris Rn. 9). Daher ist nicht ersichtlich, warum die Antragsgegnerin Ressourcen nur für im Rahmen des Verteilungsverfahrens neu hinzukommende, aber nicht für aufgrund dieses Verfahrens bei ihr verbleibende Ausländer bereitstellen sollte.

Hinsichtlich der von dem Tenor des angegriffenen Beschlusses ebenfalls erfassten Androhung unmittelbaren Zwanges trägt die Beschwerde nichts vor.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung und -abänderung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1, § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG. Der 4. Senat des Oberverwaltungsgerichts (und ebenso der 11. Senat, vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 7.3.2011 - 11 ME 31/11 -) haben den Wert von 2.500 Euro in Eilverfahren angesetzt. Der Betrag ist daher nicht noch einmal zu halbieren.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).