Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 06.02.2013, Az.: 13 LA 270/11
Lauf einer (neuen) Frist von 6 Monaten nach der "Entscheidung über den Rechtsbehelf" bei fehlender Bekanntgabe der Abschiebungsanordnung während des Laufs der regulären Überstellungsfrist
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 06.02.2013
- Aktenzeichen
- 13 LA 270/11
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2013, 32212
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2013:0206.13LA270.11.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Oldenburg - 23.11.2011 - AZ: 3 A 2348/11
Rechtsgrundlagen
- Art. 20 Abs. 1 Buchst. d) S. 2 Alt. 1 VO 343/2003/EG
- Art. 20 Abs. 2 S. 1 VO 343/2003/EG
Amtlicher Leitsatz
Wird der eine Abschiebungsanordnung enthaltende Bescheid einem Asylbewerber während des Laufs der regulären Überstellungsfrist nach Art. 20 Abs. 1 Buchst. d S. 2 Alt. 1 und Abs. 2 S. 1 VO (EG) Nr. 343/2003 nicht bekanntgegeben, ist trotz einer gerichtlichen Aussetzungsentscheidung kein Raum für den Lauf einer (neuen) Frist von 6 Monaten nach der "Entscheidung über den Rechtsbehelf" gemäß Art. 20 Abs. 1 Buchst. d S. 2 Alt. 2 VO (EG) Nr. 343/2003
Gründe
I.
Der aus dem Irak stammende Kläger hatte zunächst in Schweden ein Asylverfahren betrieben. Von dort reiste er im Juni 2010 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte einen Asylantrag. Auf Ersuchen der Beklagten erteilte die schwedische Migrationsbehörde (Migrationsverket) unter dem 15. September 2010 eine Wiederaufnahmezusage, woraufhin unter dem 20. September 2010 eine Abschiebungsanordnung gefertigt wurde, die dem Kläger nach den Vorgaben der Beklagten von der Ausländerbehörde erst bei der für den 5. Oktober 2010 geplanten Überstellung ausgehändigt werden sollte. Nachdem der Kläger von der beabsichtigten Überstellung auf anderem Wege erfahren hatte, stellte er einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Diesem hatte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 4. Oktober 2010 bis zu einer endgültigen Entscheidung im Eilverfahren zunächst entsprochen, dann aber mit weiterem Beschluss vom 28. Februar 2011 den Eilantrag abgelehnt. Das Verwaltungsgericht ging dabei davon aus, dass die Abschiebungsanordnung noch nicht wirksam erlassen worden war. Ein Überstellungsversuch am 8. Juni 2011 ist gescheitert, weil der Kläger zuvor davon erfahren hatte und untergetaucht war. Der Bescheid vom 20. September 2010, der dem Kläger bislang nicht übergeben worden war, ist am 1. Juli 2011 durch Niederlegung zugestellt worden. Einem anschließenden weiteren Eilantrag hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 23. August 2011 stattgegeben und der Beklagten untersagt, den Kläger nach Schweden zu überstellen. Mit Beschluss vom 16. November 2011 hat das Verwaltungsgericht zusätzlich die aufschiebende Wirkung der am 5. Oktober 2011 gegen die Abschiebungsanordnung erhobenen Klage angeordnet. Im Hauptsacheverfahren hat das Verwaltungsgericht die Abschiebungsanordnung aufgehoben. Die Überstellungsfrist von sechs Monaten sei bereits am 15. März 2011 abgelaufen. Daran habe die zunächst erfolgte Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes mit Beschluss vom 4. Oktober nichts geändert, weil mangels Bekanntgabe der Abschiebungsanordnung nicht etwa die aufschiebende Wirkung angeordnet, sondern lediglich eine einstweilige Anordnung erlassen worden sei. Dagegen richtet sich die Beklagte mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung.
II.
Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
Nach § 78 Abs. 3 AsylVfG ist in asylrechtlichen Streitigkeiten die Berufung nur zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, das Urteil von einer Entscheidung der in § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG aufgeführten Gerichte abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder ein in § 138 VwGO bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt. Nach § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG sind in dem Zulassungsantrag die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen. Die Darlegung erfordert qualifizierte, ins Einzelne gehende, fallbezogene und aus sich heraus verständliche, auf den jeweiligen Zulassungsgrund bezogene und geordnete Ausführungen, die sich mit der angefochtenen Entscheidung auf der Grundlage einer eigenständigen Sichtung und Durchdringung des Prozessstoffes auseinandersetzen.
Der von der Beklagten geltend gemachte Berufungszulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) wird nicht in einer den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG genügenden Weise dargelegt bzw. liegt nicht vor. Eine Rechtssache ist nur dann grundsätzlich bedeutsam, wenn sie eine höchstrichterlich oder obergerichtlich bislang noch nicht beantwortete Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die im Rechtsmittelverfahren entscheidungserheblich wäre und die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer fallübergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf. Die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache ist nur dann im Sinne des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG dargelegt, wenn eine derartige Frage konkret bezeichnet und darüber hinaus erläutert worden ist, warum die Frage im angestrebten Berufungsverfahren entscheidungserheblich und klärungsbedürftig wäre und aus welchen Gründen ihre Beantwortung über den konkreten Einzelfall hinaus dazu beitrüge, die Rechtsfortbildung zu fördern oder die Rechtseinheit zu wahren.
Problematisch erscheint die Erfüllung des Darlegungserfordernisses bereits vor dem Hintergrund, dass die Beklagte innerhalb der Monatsfrist des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG mit getrennten und von unterschiedlichen Sachbearbeitern unterzeichneten Schreiben vom 12. und 22. Dezember 2011 zwei Berufungszulassungsanträge nebst Begründung eingereicht hat. Diese decken sich zwar in großen Teilen, in anderen Teilen jedoch nicht. Bereits die formulierte Grundsatzfrage bezieht sich im ersten Antrag - zutreffend - auf Art. 20 Abs. 1 Buchst. d VO (EG) Nr. 343/2003 und im zweiten Antrag - unzutreffend, da es hier um eine Wiederaufnahme geht - auf Art. 19 Abs. 3 VO (EG) Nr. 343/2003. Auch die Begründungen selbst setzen in Teilen durchaus unterschiedliche Akzente; offenbar wurde der erste abgesandte Antrag von einer anderen sachbearbeitenden Stelle lediglich als Entwurf angesehen und dementsprechend überarbeitet. Es kann indessen in einem Berufungszulassungsverfahren nicht Aufgabe des Senats sein, aus zwei Begründungen die letztlich wohl gewollte zu erschließen bzw. zusammenzustellen.
Sieht man von diesem Darlegungsdefizit ab, würde sich die von der Beklagten (in dem ersten Antrag) als grundsätzlich bedeutsam bezeichnete Frage, "wann vor dem Hintergrund der Entscheidung des EuGH vom 29. Januar 2009 [...] die Überstellungsfrist des Art. 20 Abs. 1 d Dublin II VO beginnt bzw. endet, wenn die Überstellung materiell nicht möglich ist, weil dieser ein entsprechender Beschluss im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes entgegensteht" in einem Berufungsverfahren so nicht in entscheidungserheblicher Weise stellen. Die Frage erfasst vielerlei denkbare Einzelfallgestaltungen, ohne für jede davon relevant sein zu können. Dies gilt auch für den vorliegenden Fall, der die Besonderheit aufweist, dass die Beklagte die Abschiebungsanordnung zwar behördenintern vorbereitet, dem Kläger aber (zunächst) gar nicht bekanntgegeben hat, sondern erst zu einem Zeitpunkt, als die an den Zeitpunkt der Wiederaufnahmezusage anknüpfende reguläre Frist von sechs Monaten bereits abgelaufen war. Die Beklagte berücksichtigt bei ihren Ausführungen nicht hinreichend, dass sich diese ursprüngliche Frist zwar durch die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes "erledigen" und eine alternative Frist von (längstens) sechs Monaten ab der "Entscheidung über den Rechtsbehelf" maßgeblich werden kann, dies aber nach den Vorstellungen des Verordnungsgebers von bestimmten Voraussetzungen abhängt.
Die von der Beklagten auch für den vorliegenden Fall als maßgeblich angesehene Frist von längstens sechs Monaten ab der Entscheidung über den Rechtsbehelf nach Art. 20 Abs. 1 Buchst. d S. 2 Alt. 2 VO (EG) Nr. 343/2003 setzt nach den in der Verordnung vorgesehenen Abläufen - im Normalfall - voraus, dass dem Asylbewerber nach Art. 20 Abs. 1 Buchst. e S. 1- 3 VO (EG) Nr. 343/2003 die behördliche Entscheidung - also nach deutschem Recht die Abschiebungsanordnung - in begründeter Form mitgeteilt wird, wogegen dann nach Satz 4 der genannten Regelung ein Rechtsbehelf eingelegt werden kann, der wiederum nach Satz 5 ausnahmsweise insbesondere infolge einer gerichtlichen Entscheidung aufschiebende Wirkung für die Durchführung der Überstellung entfalten kann. Hinsichtlich dieses Normalfalls mag sich die von der Beklagten als grundsätzlich bedeutsame Frage durchaus stellen; hier liegt allerdings ein Sonderfall vor, was die Beklagte gerade nicht hinreichend in Rechnung stellt. Auf die Besonderheit des Falles hat letztlich auch das Verwaltungsgericht entscheidungstragend abgehoben, wenn es ausgeführt hat, dass die zunächst erlassene einstweilige Anordnung vom 4. Oktober 2010 keine aufschiebende Wirkung des gegen die Abschiebungsanordnung gerichteten Rechtsbehelfs bewirkt hat. Auch wenn das Verwaltungsgericht in diesem Zusammenhang die prozessuale Entscheidungsgrundlage - § 123 Abs. 1 VwGO und nicht § 80 Abs. 5 VwGO - in den Vordergrund gerückt hat (vgl. zur fehlenden Maßgeblichkeit der Frage, auf welcher prozessualen Grundlage die Vollziehung ausgesetzt wird: Nds. OVG, Beschl. v. 02.08.2012 - 4 MC 133/12 -, [...] Rdnr. 15 m. w. N.), ändert dies nichts daran, dass sich die Frage eines (neuen) Fristlaufs gemäß Art. 20 Abs. 1 Buchst. d S. 2 Alt. 2 VO (EG) Nr. 343/2003 im vorliegenden Fall schon nicht mehr stellen konnte, nachdem die (alte) Frist nach Art. 20 Abs. 1 Buchst. d S. 2 Alt. 1 VO (EG) Nr. 343/2003 bereits abgelaufen und demzufolge die Zuständigkeit auf Deutschland nach Art. 20 Abs. 2 S. 1 VO (EG) Nr. 343/2003 übergegangen war.
Anknüpfungspunkt für die nicht ab Wiederaufnahmezusage, sondern erst ab "Entscheidung über den Rechtsbehelf" laufende Frist von (längstens) sechs Monaten sind nach den in der Verordnung vorgesehen Abläufen zum einen eine bereits vorliegende behördliche Entscheidung des erfolgreich um Wiederaufnahme ersuchenden Staates (Abschiebungsanordnung) und zum anderen ein dagegen eingelegter Rechtsbehelf. Die Abschiebungsanordnung wurde dem Kläger im vorliegenden Fall indessen erst am 1. Juli 2011 zugestellt und wurde damit gegenüber ihm überhaupt erst dann wirksam; die Klage als "gegen diese Entscheidung eingelegter Rechtsbehelf" i. S. d. zitierten Verordnungsbestimmungen wurde dann (notwendigerweise) auch erst nach der Zustellung erhoben. Die an den Zeitpunkt der Wiederaufnahmezusage anknüpfende reguläre Überstellungsfrist war hingegen bereits am 15. März 2011 abgelaufen. Mit diesem offenbar auch für das Verwaltungsgericht letztlich maßgeblichen Gedankengang hat sich die Beklagte schon nicht hinreichend auseinandergesetzt. Eine Auseinandersetzung mit diesem Sonderfall klingt allenfalls mit dem Argument an, dass ein Bescheiderlass sinnlos sei, wenn bereits eine vollzugshindernde Anordnung nach § 123 VwGO ergangen sei. Dies leuchtet bezogen auf den vorliegenden Fall schon deshalb nicht ein, weil die Abschiebungsanordnung bereits am 20. September 2010 erstellt war, allerdings bewusst zurückgehalten und dem Kläger erst am Tag des bereits anvisierten Überstellungstermins (5. Oktober 2010) übergeben werden sollte. Die Beklagte hat damit ersichtlich selbst von den skizzierten Abläufen des "Normalfalls" Abstand genommen. Wie in einer solchen Situation eine vor der Bekanntgabe des Bescheides und Einlegung eines Hauptsacherechtsbehelfs ergangene einstweilige gerichtliche Anordnung (hier vom 4. Oktober 2010), die nur ergehen konnte, weil der Asylbewerber auf anderem Wege von den Plänen der Beklagten Kenntnis erlangt hatte, zum Vorliegen eines die aufschiebende Wirkung begründenden "Rechtsbehelfs gegen die Entscheidung" führen können soll, vermag die Beklagte nicht zu erklären. Es erschließt sich erst recht nicht, wieso sie im konkreten Fall sich auch nach Ergehen der einstweiligen Anordnung vom 4. Oktober 2010 dazu entschlossen hat, die Abschiebungsanordnung weiterhin nicht bekanntzugeben. Durch die einstweilige Anordnung war sie ja nicht etwa am Erlass des Bescheides, sondern nur an dessen Durchsetzung gehindert. Hätte die Beklagte die Abschiebungsanordnung zeitnah noch erlassen, hätte sich die von ihr als grundsätzlich bedeutsam bezeichnete Frage durchaus noch entscheidungserheblich stellen können mögen, weil dann wenigstens ein Bescheid und eine Außervollzugsetzung als Voraussetzungen für einen (neuen) Fristlauf nach Art. 20 Abs. 1 Buchst. d S. 2 Alt. 2 VO (EG) Nr. 343/2003 - wenn auch in einer vom Normalfall abweichenden Reihenfolge - vorgelegen hätten. Dies ist aber gerade nicht geschehen; vielmehr hat die Beklagte den Bescheid (ohne Not) erst etwa neun Monate später bekanntgegeben bzw. zugestellt. Wieso es in einer solchen Situation nicht bei der Frist des Art. 20 Abs. 1 Buchst. d S. 2 Alt. 1 VO (EG) Nr. 343/2003 bleiben soll, wird allein mit dem Hinweis auf eine angebliche "Sinnlosigkeit" des Bescheiderlasses bei einer bereits vorliegenden einstweiligen Anordnung nicht hinreichend dargelegt. Die Beklagte handelt mithin nach Einschätzung des Senats hinsichtlich des Fristlaufs auf ihr Risiko, wenn sie sich - möglicherweise zwecks Erleichterung der Durchführung der Überstellung und um sich Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zu ersparen - dazu entschließt, eine Abschiebungsanordnung zunächst nicht bekanntzugeben, sondern sie für eine konkret anvisierte Überstellung quasi zu bevorraten.