Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 26.02.2013, Az.: 3 LD 2/12

Entfernung aus dem Beamtenverhältnis wegen Unterschlagung dienstlich anvertrauter Gelder; Bindung eines Verwaltungsgerichts in Disziplinarsachen an die tatsächlichen Feststellungen des Strafgerichts im gleichen Fall

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
26.02.2013
Aktenzeichen
3 LD 2/12
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2013, 32723
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2013:0226.3LD2.12.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Göttingen - 05.06.2012 - AZ: 9 A 2/10

Fundstellen

  • DÖV 2013, 486
  • NVwZ-RR 2013, 6
  • NVwZ-RR 2013, 846-849

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Die Fragen, welcher Sachverhalt zugrunde zu legen ist und ob die Voraussetzungen für eine Lösung von den tatsächlichen Feststellungen eines rechtskräftigen Strafurteils vorliegen, entscheiden sich allein auf der "Tatbestandsebene" des Dienstvergehens.

  2. 2.

    Wenn diese Fragen beantwortet sind, ist auf der "Rechtsfolgenebene" bei der Bestimmung der angemessenen Disziplinarmaßnahme hiervon auszugehen, ohne dass die tatsächlichen Feststellungen - etwa aufgrund einer aus Sicht des Beamten unzureichenden Beweiswürdigung des Strafgerichts - nochmals infrage gestellt oder relativiert werden können.

Tatbestand

1

Der 19 geborene Beklagte wurde zum 1. April 19 als Postjungbote beim Postamt G. in den Dienst der ehemaligen Deutschen Bundespost eingestellt. Nachdem er im September 19 die Wiederholungsprüfung für den einfachen Postdienst bestanden hatte, wurde er mit Wirkung vom 1. Februar 19 unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Probe zum Postschaffner z. A. und mit Wirkung vom 1. Februar 19 zum Postschaffner ernannt. Mit Wirkung vom 1. Juli 19 wurde ihm die Eigenschaft eines Beamten auf Lebenszeit verliehen. In der Folgezeit wurde er mehrfach befördert, zuletzt am 11. Mai 19 zum Postbetriebsassistenten (zunächst Besoldungsgruppe A 5 BBesO/ab 1.7.1997: A 6 BBesO). Seit dem 1. Quartal 20 war er als Kassenbeamter in der zentralen Zustellkasse des Postamts G. eingesetzt und u.a. für die Annahme und Ausgabe der Geldbehälter mit Zustellabrechnungen, das Buchen von Zustellabrechnungen und die Ausgabe von Barzuschüssen an die Zusteller zuständig. Nach seiner (letzten) dienstlichen Beurteilung vom 11. Oktober 20 erfüllte er die Anforderungen hinsichtlich der Arbeitsmenge voll und ganz, hinsichtlich der Arbeitsgüte gab es keine Beanstandungen, seine dienstliche Führung war einwandfrei. 19 hatte er eine Leistungszulage in Höhe von 960 DM erhalten.

2

Der Beklagte ist ledig und hat keine Kinder. Er ist als Behinderter mit einem Grad seiner Behinderung (GdB) von 30 v. H. anerkannt. Bisher ist er weder straf- noch disziplinarrechtlich in Erscheinung getreten.

3

Aufgrund von sich häufenden Fehlbeträgen aus Zustellabrechnungen aus verschiedenen Zustellstützpunkten wurde im Februar 20 in der Zustellkasse des Briefzentrums G. ab Februar 20 eine mobile Videoüberwachungsanlage installiert. Aus der Auswertung der Videoaufzeichnungen ergab sich unter anderem, dass der Beklagte immer wieder unterschiedlich Gelder in Form von Münzen und Banknoten aus der Kasse entnahm und sie in seine private Geldbörse steckte. Ein Einlegen von Bargeld in die Kasse und eine Buchung der Gelder waren ebenso wie das Anfertigen von Notizen durch den Beklagten bis auf Ausnahmen in der Regel nicht zu beobachten. Auf den ihm anschließend im Rahmen der gegen ihn eingeleiteten internen Ermittlungen gemachten Vorhalt, dass die Teilverluste aus Zustellabrechnungen fast immer Abrechnungen betreffen würden, die von dem Beklagten gebucht worden seien, gab dieser an, der Einzige zu sein, der den ganzen Tag in der Zustellkasse buche. Auf Vorhalt, dass er fast täglich, oftmals auch mehrmals an einem Tag, Bargeld aus der Kassenschublade entnommen und in seine private Geldbörse eingesteckt habe, erklärte er, ausschließlich Geld gewechselt zu haben. Er sammle Euromünzen, entnommene Geldbeträge habe er stets ausgeglichen. Seine Kasse habe jeden Tag gestimmt. Bei seinen Verlustmeldungen aus Zustellabrechnungen habe es sich nicht um die Beträge gehandelt, die er aus der Kasse genommen habe. Vielmehr habe das Geld tatsächlich in den Abrechnungen gefehlt.

4

Am 11. Juli 20 wurde ihm unter Anordnung der sofortigen Vollziehung die Führung der Dienstgeschäfte verboten. Im Rahmen seiner Anhörung gab er erneut an, Euromünzen und -scheine zu sammeln. Soweit er Münzen und Scheine aus der Zustellkasse entnommen habe, habe er die entnommenen Beträge stets ausgeglichen, indem er vorab privates Geld in die Kasse gelegt habe, ohne den Betrag zu buchen. Die Summe habe er sich notiert. Sobald der Betrag durch seine Geldentnahmen aufgebraucht gewesen sei, habe er erneut privates Geld in die Kasse gelegt.

5

Mit Verfügung vom 14. Juli 20 leitete der Leiter der Niederlassung Brief H. der Deutschen Post AG gegen den Beklagten ein Disziplinarverfahren ein mit dem Vorwurf, als Kassenbeamter der Zustellkasse in G. an zahlreichen Tagen Geld, auf jeden Fall aber am 7. März 20 einen Betrag von 110,00 EUR und am 15. März 20 wiederum Geldscheine aus der Postkasse entnommen zu haben, ohne einen Ausgleich vorgenommen zu haben. Im August 20 wurde der Beklagte vorläufig des Dienstes enthoben und es wurde eine Einbehaltung seiner Dienstbezüge in Höhe von zunächst 19 v. H., ab Januar 20 in Höhe von 23 v. H. angeordnet. In seiner Stellungnahme gegenüber dem Ermittlungsführer bestritt der Beklagte erneut, jemals unrechtmäßigerweise Geld aus der Postzustellkasse genommen zu haben. Soweit er gelegentlich Geld aus der Kasse entnommen habe, sei dies geschehen, weil er Euromünzen und Banknoten aus anderen Ländern mit Eurowährung sammle. Vor einer Geldentnahme habe er stets Geld in entsprechender Höhe in die Kasse eingelegt und damit lediglich Geld gewechselt.

6

Nachdem der Ermittlungsführer schriftliche Zeugenaussagen der Kollegen des Beklagten eingeholt hatte, erstattete er im August 20 gegen den Beklagten Strafanzeige wegen Unterschlagung. Daraufhin wurde das Disziplinarverfahren wegen des sachgleichen Strafverfahrens ausgesetzt.

7

Mit - seit dem 21. November 20 rechtskräftigem - Urteil des Amtsgerichts G. vom 21. Juli 20 - - wurde der Beklagte wegen Unterschlagung nach § 246 Abs. 1 und Abs. 2 StGB zu einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen á 45 EUR verurteilt. Das Gericht sah es nach Durchführung einer Beweisaufnahme als erwiesen an, dass er als Kassenführer in der Zustellkasse des Briefzentrums G. am 7. März 20 für die Zustellabrechnung vom 4. März 20 , die einen Betrag von 666,90 EUR beinhaltet habe, lediglich 556,90 Euro gebucht und den Differenzbetrag von 110 EUR im Laufe des Tages aus der Kasse an sich genommen habe, ohne diesen Betrag auszugleichen. Das Amtsgericht ging von folgenden tatsächlichen Feststellungen aus:

"II. Der Angeklagte sammelte zur Tatzeit Münzen und Scheine. Er war im Jahr 20 als Kassenführer in der Zustellkasse beim Briefzentrum G. tätig. Am 07.03.20 buchte er bei der Zustellabrechnung vom 04.03.20 statt des tatsächlichen Betrages von 666,90 Euro lediglich eine Summe von 556,90 Euro. Den Differenzbetrag von 110,00 Euro nahm der Angeklagte im Laufe des Tages aus der Kasse, um das Geld unberechtigt für sich zu verwenden. Der Differenzbetrag wurde durch ihn nicht ausgeglichen. Ob er einen Ausgleich der Differenz zu einem späteren Zeitpunkt beabsichtigte, konnte nicht festgestellt werden.

Im Einzelnen ging der Angeklagte dabei wie folgt vor:

Um 07:36 Uhr entnahm der Angeklagte eine Münze und steckte sie in seine Geldbörse.

Um 07:46 Uhr entnahm er der Kasse wiederum eine Münze und steckte sie in seine Geldbörse.

Um 08:14 Uhr steckte er eine große Banknote aus der Kasse in seine Geldbörse und legte eine Münze zur Kasse.

Um 09:51 Uhr nahm er der Kasse eine Banknote und Münze und steckte sie in seine Geldbörse.

Um 10:01 Uhr sowie nochmals um 11:28 Uhr entnahm der Angeklagte der Kasse wiederum Münze und steckte diese in seine Geldbörse.

Aus diesen Einzelhentnahmen ergibt sich die Gesamtdifferenz von 110,00 Euro. Der Angeklagte handelte in der Absicht, den Gesamtbetrag von 110,00 Euro unberechtigt für sich im Rahmen seines Hobbys, des Sammelns von Münzen und Scheinen, für sich zu verwenden. Dabei beging er die Tat, obwohl im bewusst war, dass die Gelder ihm als Angestellten des Unternehmens besonders anvertraut waren. Dass er diese Vertrauensstellung bei der Begehung der Tat missbrauchte, nahm der Angeklagte zumindest billigend in Kauf.

Der Zusteller I. erhielt sodann die Mitteilung, dass in der Bargeldablieferung 110,00 Euro fehlten. Die Abrechnung wurde beim Zustellstützpunkt (ESP) J. von dem Zusteller I. mit der Zeugin K. gefertigt und in das Trommelwertgelass eingeworfen. In der Zeit zwischen Einwerfen der Abrechnung und Leerung des Wertgelasses hatte niemand außer der Zeugin L. Zugang zu dem Wertgelass, da die Zeugin L. den Schlüssel bei sich trug und nach Feierabend zu Hause aufbewahrte. Die Plomben wurden bei ZSP J. im Wertgelass unter Verschluss aufbewahrt. Die Übergabe des verplombten Behälters erfolgte am 06.03.20 direkt am Anschluss an das Verschließen an den Fahrer, den Zeugen I.. Die Plombe des Transportbehälters wurde vom Angeklagten selbst geöffnet und wurde nicht beanstandet, sie war unversehrt.

Die Abrechnung des Bezirks vom 04.03.20 über 666,90 Euro war vollständig in die Abrechnungstasche eingelegt und anschließend ohne Verzug in das Trommelwertgelass abgeworfen worden.

III. ... Der Angeklagte hat den Tatvorwurf in der Hauptverhandlung bestritten. Er hat sich dahingehend eingelassen, dass er sich mal Geld genommen habe, dass jedoch immer im Vorfeld durch ihn selbst Gelder zum Ausgleich eingezahlt worden seien. Er habe sich auf einem Zettel notiert, wann er Geld entnommen habe. Die Papierplombe sei bereits beschädigt gewesen, als sie in der Arbeitsbereich des Angeklagten gelangte. Er sei Sammler von Geldscheinen und Münzen.

Soweit die Einlassung des Angeklagten den Feststellungen zu II. widerspricht, ist sie durch die Bekundungen der Zeugen M. und I. sowie der Zeuginnen L. und K. und der in Augenschein genommen Videoaufnahme vom 07.03.20 widerlegt. Der Angeklagte ist aufgrund dieser Beweismittel der ihm vorgeworfenen Tat überführt.

Der Postamtmann M. hat in der Hauptverhandlung bekundet, das Unternehmen habe in 20 und 20 hohe Fehlbeträge festgestellt, daraufhin sei eine Videoaufzeichnungsanlage installiert worden. Aufgrund der Aufzeichnungen am 07.03.20 habe er festgestellt, dass durch den Angeklagten Banknoten und Münzen entwendet worden seien. Zudem habe er festgestellt, dass in der Abrechnung 1.100,00 Euro fehlten. Weiterhin habe er die Entnahmen von Münzen und der Banknote, wie unter II. festgestellt, auf dem Videoband gesehen. Es wäre niemand sonst an die Lieferung gekommen, da diese verplombt gewesen sei. Bei der Inaugenscheinnahme des Gesamtvideos habe er nie beobachtet, dass der Angeklagte einen größeren Betrag in Schein in die Kasse gelegt habe. Wenn er etwas entnommen habe, habe er dann nur Münzen wieder hineingelegt. Zudem könne man Papierplomben nicht manipulieren, man würde auf jeden Fall sehen, wenn diese geöffnet und wieder verschlossen würden.

Der Postbeamte I. hat in der Hauptverhandlung bekundet, er habe gemeinsam mit der Zeugin K. die Zustellabrechnung erstellt. Nach Abschluss der Abrechnung sei ihm später mitgeteilt worden, dass es einen Fehlbetrag von über 100,00 Euro gegeben habe. Nach dem Zählen werde das Geld in eine Tasche gepackt. Diese könne man öffnen, sie habe nur einen Reißverschluss, die Tasche werde dann in das Wertgelass eingeworfen.

Die Postbeamtin K. hat in der Hauptverhandlung bekundet, sie wisse von einem Fehlbetrag. Sie könne sich nicht mehr genau erinnern, wisse aber, dass in mehreren Fällen Geld gefehlt habe. Sie habe Vertrauen zu dem Zeugen I. und sei davon ausgegangen, dass dieser die Tasche abgeliefert habe, es müsse immer eine zweite Person unterschreiben, in diesem Fall sei dies sie selbst gewesen.

Die Zeugin L. hat in der Hauptverhandlung bekundet, sie habe die Taschen aus der Trommel entnommen und sie in einen verplombten Briefsbehälter gelegt. Sodann habe sie das Unterschriftsblatt genommen und unterschrieben und dies in den Behälter zu den Taschen gelegt. Sie habe den Behälter mit einen Deckel und einer Plombe versehen. Danach habe sie die Behälter dem Fahrer übergeben. Die Plomben seien immer unter Verschluss, niemand anderes könne unbemerkt eine Plombe manipulieren und den Behälter wieder mit einer neuen versehen. Dem Behälter habe sie gleich morgens fertig gemacht und sofort dem Fahrer übergeben.

Die Bekundungen der Zeugen M., I., L. und K. waren glaubhaft. Die Zeugen konnten sich an das Geschehen erinnern, zumal die Zeuginnen L. und K. sowie der Zeuge I. bereits durch den Zeugen M. bereits zuvor zum Ablauf am Tattage befragt worden waren. Die Bekundungen der Zeugen waren widerspruchsfrei und frei von einseitigen Belastungstendenzen. Sämtliche Bekundungen waren von Sachlichkeit geprägt, auch auf Nachfrage konnten die Zeugen flüssig und im Zusammenhang antworten. Die Möglichkeit, dass eine andere Person als der Angeklagte, insbesondere einer der vernommenen Zeugen, den Fehlbetrag unterschlagen hat, schließt das Gericht nach den glaubhaften und überzeugenden Bekundungen der Zeugen in der Hauptverhandlung aus.

Aufgrund der Bekundungen der Zeuginnen und Zeugen steht fest, dass es eine Manipulation an dem Behälter, bevor er in den Einwirkungsbereich des Angeklagten geriet, nicht gegeben hat, insbesondere haben die Zeugin M. und L., die sich beruflich mit der Sicherung der Zustellgelder befassen, bekundet, dass eine Manipulation ohne Folgespuren ausgeschlossen sei.

Weiterhin steht die Differenz der Zustellabrechnung aufgrund der Bekundungen der Zeugen und aufgrund der eigenen Einlassung des Angeklagten fest. Diese Differenz lässt sich nach Überzeugung des Gerichts nur mit einer Entnahme des Betrages durch den Angeklagten erklären. Hierfür spricht, dass auf dem Videoband am Tattage die unter II. Entnahmen von Geldern durch den Angeklagten zu sehen sind...Nach den Bekundungen des Zeugen M., der über die in der Hauptverhandlung in Augenschein genommenen Ausschnitte hinaus die vollständige Aufzeichnung in Augenschein genommen hat, ist zu keinem Zeitpunkt zu sehen, wie der Angeklagte einen gleichwertigen Betrag zurücklegt. Das Fehlen des Betrages von 110,00 Euro kann demnach nur auf eine Einwirkung des Angeklagten zurückzuführen sein. Die Möglichkeit, dass der Betrag bereits zuvor durch einen Dritten entnommen worden ist, schließt das Gericht nach den in der Hauptverhandlung getroffenen Feststellungen aus. Demnach ist ein Fehlbetrag von 110,00 Euro an dem Standort sonst nicht aufgetreten. Sämtliche mit dem Transport und der Verpackung beauftragten Personen haben ordnungsgemäß gehandelt und keine Manipulationen in ihrem Zuständigkeitsbereich feststellen können. Eine weisungswidrige Entnahme von Geldern ist aber nach den in Augenschein genommenen Videoaufnahmen gerade durch den Angeklagten selbst erfolgt. Die Möglichkeit einer Manipulation durch andere kann ausgeschlossen werden."

8

Die Berufung des Beklagten gegen dieses Strafurteil mit dem Ziel eines Freispruchs verwarf das Landgericht G. mit Beschluss vom 20. November 20 - - als unzulässig. Zur Begründung führte es aus, die Berufung sei offensichtlich unbegründet, da die Ausführungen des Amtsgerichts G. zum Schuldspruch und insbesondere dessen Beweiswürdigung rechtsfehlerfrei seien.

9

Nach rechtskräftigem Abschluss des Strafverfahrens wurde das Disziplinarverfahren fortgesetzt. Der Beklagte bestritt nach wie vor, am 7. März 20 110 EUR aus der Zustellkasse unberechtigterweise entwendet zu haben. Dieser Vorwurf werde insbesondere nicht durch die Videoaufzeichnung bestätigt. Auf der Videoaufzeichnung sei lediglich zu erkennen, dass er Geld aus der Kasse entnommen habe; um welchen Betrag es sich dabei gehandelt habe, sei nicht erkennbar. Im Übrigen habe er aus der Kasse entnommenes Geld zuvor stets durch private Geldeinlagen ausgeglichen. Das Amtsgericht G. habe es versäumt, die Zustellerabrechnung vom 4. März 20 in Augenschein zu nehmen. Dabei hätte sich herausgestellt, dass er in der Abrechnungstasche lediglich einen Betrag von 556,90 EUR vorgefunden habe und die streitige Differenz sich ausschließlich aus der fehlerhaften Abrechnung des Zustellers des Bezirks ergeben könne.

10

Mit Verfügung vom 22. März 20 beschränkte der Leiter der Niederlassung Brief H. Deutsche Post AG das gegen den Beklagten eingeleitete Disziplinarverfahren auf die im Urteil des Amtsgerichts G. rechtkräftig festgestellten Handlungen. Die darüber hinausgehenden in der Einleitungsverfügung vom 14. Juli 20 erhobenen Vorwürfe wurden ausgeschieden. In seiner abschließenden Stellungnahme auf den Ermittlungsbericht verwies der Beklagte auf seinen bisherigen Vortrag.

11

Die Klägerin hat am 15. September 2010 Disziplinarklage erhoben. Der Beklagte habe durch seine Straftat vorsätzlich gegen seine Pflichten zur uneigennützigen Amtsführung, zur Einhaltung von Dienstvorschriften (§ 61 Abs. 1 Satz 2 BBG) und zum achtungs- und vertrauenswürdigem Verhalten im Dienst (§ 61 Abs. 1 Satz 3 BBG) verstoßen und damit ein innendienstliches Dienstvergehen gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 BBG begangen, das außerordentlich schwer wiege. Er habe mit seinem Verhalten das Vertrauen des Dienstherrn in seine Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit restlos zerstört und sich damit für den Postdienst untragbar gemacht.

12

Die Klägerin hat beantragt,

den Beklagten aus dem Beamtenverhältnis zu entfernen.

13

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

14

Er hat nach wie vor bestritten, am 7. März 20 für die Zustellabrechnung einen geringeren Geldbetrag als tatsächlich vorhanden gebucht und den Differenzbetrag von 110 EUR für private Zwecke aus der Kasse entnommen zu haben, ohne den Gegenwert zuvor in die Kasse gelegt zu haben. Das Amtsgericht G. habe den Sachverhalt unvollständig aufgeklärt, weil es die Videoaufnahme vom 7. März 20 nur insoweit in Augenschein genommen habe, als dort die Geldentnahmen aus der Kasse durch ihn aufgezeichnet seien. Das Verwaltungsgericht sei deshalb verpflichtet, eine erneute Sachverhaltsprüfung durchzuführen, da der vom Amtsgericht G. festgestellte Sachverhalt offenkundig unrichtig sei. Selbst wenn mit der Videoaufzeichnung vom 7. März 20 belegt werde, dass er an diesem Tag mehrfach Geld aus der Kasse entnommen habe, werde damit nicht belegt, dass er genau den vermeintlichen Differenzbetrag aus der Kasse entnommen habe. Zumindest sei der Umstand, dass die Beweiswürdigung des Amtsgerichts angreifbar sei, beim Disziplinarmaß bei der Würdigung seines Persönlichkeitsbildes zu seinen Gunsten zu berücksichtigen.

15

Mit Urteil vom 5. Juni 2012, auf das wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird, hat das Verwaltungsgericht den Beklagten eines Dienstvergehens für schuldig befunden und ihn aus dem Beamtenverhältnis entfernt. Zur Begründung hat es im Wesentlichen Folgendes ausgeführt: Der Beklagte habe mit der ihm im Strafurteil vorgeworfenen Unterschlagungshandlung ein schweres innerdienstliches Dienstvergehen begangen. Zugrunde zu legen seien die tatsächlichen Feststellungen in dem rechtskräftigen Strafurteil des Amtsgerichts G. vom 21. Juli 20 . Diese Feststellungen seien gemäß § 57 Abs. 1 Satz 1 BDG bindend. Ein Lösungsbeschluss gemäß § 57 Abs. 1 Satz 2 BDG scheide aus. Die tatsächlichen Feststellungen und die Beweiswürdigung im strafgerichtlichen Urteil des Amtsgerichts G. beruhten auf in sich schlüssigen, widerspruchsfreien, Denkgesetzen nicht entgegenstehenden überzeugenden Erwägungen. Das Amtsgericht habe die Videoaufzeichnung in Anwesenheit des Beklagten in Augenschein genommen und hierauf seine im Urteil getroffenen Feststellungen zu den Geldentnahmen des Beklagten gestützt. Der Beklagte sei aus dem Beamtenverhältnis zu entfernen, da das Vertrauensverhältnis zum Dienstherrn endgültig zerstört sei. Ein Beamter, der ihm anvertrautes oder amtliches erlangtes Geld unberechtigt für private Zwecke verwende, begehe ein schweres Dienstvergehen im Kernbereich der ihm obliegenden Dienstpflichten. Weder lägen anerkannte Milderungsgründe vor, noch gebe es im Rahmen der Gesamtwürdigung der Persönlichkeit und der Tat des Beklagten zu seinen Gunsten durchgreifende Gesichtspunkte.

16

Gegen dieses Urteil des Verwaltungsgerichts hat der Beklagte Berufung eingelegt. Zur Begründung trägt er unter Wiederholung seines bisherigen Vorbringens vor, die Voraussetzungen für einen Lösungsbeschluss von den tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichts G. seien gegeben. Die Beweiswürdigung des Amtsgerichts sei fehlerhaft. Das Amtsgericht habe es versäumt, die komplette Videoaufzeichnung vom 6. und 7. März 20 in Augenschein zu nehmen. Zudem belegten die Aussagen der Zusteller nicht, dass der Betrag von 666,90 EUR tatsächlich an ihn übergeben worden sei. Im Rahmen der Beweisaufnahme vor dem Amtsgericht sei nur festgestellt worden, dass er zu fünf Zeitpunkten Geld in der Kasse hin und her gewechselt habe. Das Amtsgericht habe aus diesen Einzelentnahmen zu Unrecht auf eine Gesamtdifferenz von 110 EUR geschlussfolgert. Zumindest müsse bei der Bestimmung der Disziplinarmaßnahme zu seinen Gunsten berücksichtigt werden, dass die Beweiswürdigung des Amtsgerichts G. angreifbar sei und der entwendete Geldbetrag in der Nähe des Bagatellbetrages von 50 EUR liege.

17

Der Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts Göttingen zu ändern und die Disziplinarklage abzuweisen,

hilfsweise, auf eine Disziplinarmaßnahme unterhalb der Entfernung aus dem Beamtenverhältnis zu erkennen.

18

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen,

19

und verteidigt das angefochtene Urteil.

20

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte, die vom Gericht beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Klägerin und die beigezogene Strafakte der Staatsanwaltschaft G. zum Aktenzeichen - - Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

21

Die Berufung des Beklagten ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat ihn zu Recht wegen eines Dienstvergehens (dazu 1.) aus dem Beamtenverhältnis entfernt (dazu 2.).

22

1. Der Beklagte hat sich eines vorsätzlichen innerdienstlichen Dienstvergehens schuldig gemacht.

23

Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urt. v. 28.7.2011 - BVerwG 2 C 16.10 -, RiA 2011, 267 = ZBR 2011, 414 [BVerwG 28.07.2011 - BVerwG 2 C 16.10] = [...] Langtext Rdnr. 13 ff. m. w. N.) ist aufgrund dessen, dass es unter der Geltung der Verwaltungsgerichtsordnung ausgeschlossen ist, die Berufung auf die Nachprüfung einzelner materiellrechtlicher Voraussetzungen des Klagebegehrens zu beschränken, in Disziplinarklageverfahren nach dem Bundesdisziplinargesetz - anders als unter der Geltung der Bundesdisziplinarordnung und der Niedersächsischen Disziplinarordnung - eine auf das Disziplinarmaß beschränkte Berufung nicht zulässig. Der Senat gibt aus Gründen der Einheitlichkeit der Rechtsprechung seine bisherige gegenteilige Auffassung (vgl. etwa Senat, Urt. v. 25.1.2011 - 3 LD 3/08 -; zum bisherigen Streitstand s. Wittkowski, in: Urban/Wittkowski, BDG, 1. Aufl. 2011, § 64 Rdnr. 9 f.; Hummel/Köhler/Mayer, BDG, 5. Aufl. 2012, § 64 Rdnr. 5; a. A. für das dortige Landesrecht: OVG Koblenz, Urt. v. 30.01.2013 - 3 A 10684/12 -, [...] Langtext Rdnr. 58 ff., jeweils m. w. N.) auf und folgt nunmehr der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, zumal der Beklagte auch in der Berufungsinstanz der Sache nach die Tatfeststellungen des Verwaltungsgerichts sowie des Amtsgerichts G. in Zweifel zieht. Daher hat der Senat die Disziplinarklage in der Berufungsinstanz gemäß §§ 3 BDG, 128 Satz 1 VwGO in gleichem Umfang wie das Verwaltungsgericht sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht zu überprüfen.

24

Der Senat geht wie das Verwaltungsgericht in tatsächlicher Hinsicht von dem Sachverhalt aus, den das Amtsgericht G. in seinem rechtskräftigen Urteil vom 21. Juli 20 nach Durchführung einer Beweisaufnahme festgestellt und aufgrund dessen den Beklagten gemäß § 246 Abs. 1 und 2 StGB wegen Unterschlagung zu einer Geldstrafe verurteilt hat. Im Disziplinarverfahren sind das Verwaltungsgericht und der Senat gemäß § 57 Abs. 1 Satz 1 BDG an diese Feststellungen des Strafurteils des Amtsgerichts G. unter anderem zum Tatablauf und zum vorsätzlichen Handeln des Beklagten gebunden. Lediglich in den Fällen, in denen das Disziplinargericht die Feststellungen des Strafgerichts für offenkundig unrichtig erachtet, hat es gemäß § 57 Abs. 1 Satz 2 BDG die Möglichkeit, sich durch einen Beschluss von den bindenden strafgerichtlichen Feststellungen zu lösen und eigene Tatsachenfeststellungen zu treffen. Von einer offenkundigen Unrichtigkeit der Feststellungen des Strafgerichts ist indes noch nicht auszugehen, wenn das Disziplinargericht aufgrund einer eigenen anderen Würdigung des Geschehensablauf abweichende Feststellungen für richtig hält; auch reicht die Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufs für einen Lösungsbeschluss nicht aus. Von einer offenkundigen Unrichtigkeit des strafgerichtlichen Urteils ist vielmehr erst bei unzulänglichen, widersprüchlichen und gegen die Denkgesetze verstoßenden, nicht zum Straftatbestand gehörenden oder unschlüssigen Feststellungen auszugehen, sodass eine Lösung nach § 57 Abs. 1 Satz 2 BDG nur dann in Betracht kommt, wenn das Disziplinargericht gezwungen wäre, auf der Grundlage unrichtiger, zumindest höchst zweifelhafter Feststellungen zu entscheiden (Gansen, Disziplinarrecht in Bund und Ländern, Stand: Oktober 2012, § 57 Rdnr. 1 ff.; Urban/Wittkowski, a. a. O., § 57 Rdnr. 6 f., jeweils m. w. N.; zum inhaltsgleichen § 52 Abs. 1 Satz 2 NDiszG vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 10.2.2010 - 19 ZD 9/09 -; Urt. v. 23.4.2009 - 20 LD 8/07 -; Urt. v. 27.5.2008 - 20 LD 5/07 -, jeweils m. w. N.).

25

Nach diesen Grundsätzen folgt der Senat der Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass die Feststellungen des Amtsgerichts G. nicht auf einer unzulänglichen gegen die Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstoßenden Beweiswürdigung beruhen. Der Antrag des Beklagten auf Lösung von diesen Feststellungen war daher abzulehnen. Den ausführlichen und überzeugenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts ist der Beklagte in seiner Berufungsbegründung unter nochmaliger Wiederholung seiner bereits im Strafverfahren gemachten Einlassung lediglich mit dem erneuten Einwand entgegengetreten, die Beweiswürdigung des Amtsgerichts leide daran, dass es nicht die komplette Videoaufzeichnung vom 6. und 7. März 20 , sondern nur einen Ausschnitt in Augenschein genommen habe. Der von dem Beklagten in diesem Zusammenhang angeführte Umstand, aus der Videoaufzeichnung ergebe sich, dass er am 7. März 20 in der Zeit von 7.00 bis 7.36 Uhr die entgegengenommene Geldsendung mehrfach nachgezählt und dabei den Fehlbetrag feststellt habe, reicht für einen Lösungsbeschluss nicht aus. Aus der Inaugenscheinseinnahme des kompletten Videobandes und insbesondere aus der von dem Beklagten angeführten Zeitspanne von 7.00 bis 7.36 Uhr würde sich kein von den Feststellungen des Amtsgerichts G. wesentlich abweichender Geschehensablauf ergeben. Dass der Beklagte einen Fehlbetrag aktenkundig gemacht hat, ergibt sich bereits aus den beigezogenen Verwaltungsvorgängen und war dem Amtsgericht bekannt. Die bloße Möglichkeit, dass sich der Geschehensablauf anders als vom Amtsgericht festgestellt abgespielt haben könnte und dass der Beklagte die festgestellten Tatsachen anders als das Amtsgericht würdigt, reicht nach dem oben Gesagten nicht aus. Deshalb geht auch der Senat von der fortbestehenden Bindungswirkung der tatsächlichen Feststellungen in dem rechtskräftigen Urteil des Amtsgerichts G. aus. Dies gilt sowohl hinsichtlich der Frage, ob sich der Beklagte überhaupt unberechtigterweise an Kassengeldern vergriffen hat, als auch hinsichtlich des Umfangs dieses Betrages in Höhe von 110 EUR.

26

2. Nach § 13 Abs. 1 BDG ergeht die Entscheidung über eine Disziplinarmaßnahme nach pflichtgemäßem Ermessen. Sie ist nach der Schwere des Dienstvergehens zu bemessen. Das Persönlichkeitsbild des Beamten ist angemessen zu berücksichtigen. Ferner soll berücksichtigt werden, in welchem Umfang der Beamte das Vertrauen des Dienstherrn oder der Allgemeinheit beeinträchtigt hat. Nach § 13 Abs. 2 Satz 1 BDG ist ein Beamter, der durch ein schweres Dienstvergehen das Vertrauen des Dienstherrn oder der Allgemeinheit endgültig verloren hat, aus dem Beamtenverhältnis zu entfernen.

27

Für die Frage der Schwere des Dienstvergehens ist maßgebend auf das Eigengewicht der Verfehlung abzustellen. Die Schwere des Dienstvergehens beurteilt sich dabei nach objektiven Handlungsmerkmalen wie Eigenart und Bedeutung der Dienstpflichtverletzungen, Häufigkeit und Dauer eines wiederholten Fehlverhaltens, darüber hinaus nach subjektiven Handlungsmerkmalen wie Form und Gewicht des Verschuldens des Beamten und den Beweggründen für sein Verhalten sowie den unmittelbaren Folgen des Dienstvergehens für den dienstlichen Bereich und für Dritte. Die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis setzt voraus, dass der Beamte durch ein schweres Dienstvergehen das Vertrauen des Dienstherrn oder der Allgemeinheit endgültig verloren hat. Ein endgültiger Vertrauensverlust ist eingetreten, wenn aufgrund der Gesamtwürdigung der bedeutsamen Umstände der Schluss gezogen werden muss, der Beamte werde auch künftig seinen Dienstpflichten nicht ordnungsgemäß nachkommen oder aufgrund seines Fehlverhaltens sei eine erhebliche, nicht wieder gut zu machende Ansehensbeeinträchtigung eingetreten (grundlegend BVerwG, Urt. v. 20.10.2005 - BVerwG 2 C 12.04 -, BVerwGE 124, 252 = NVwZ 2006, 469 = [...] Langtext Rdnr. 20 ff.; vgl. zudem BVerwG, Urt. v. 24.5.2007 - BVerwG 2 C 28.06 -, [...] Langtext Rdnr. 12 ff.; Senat, Urt. v. 28.4.2009 - 3 LD 4/08 - m. w. N.). So verhält es sich hier.

28

Bei der Unterschlagung dienstlich anvertrauter Gelder und damit bei Fehlverhalten im Kernbereich der dienstlichen Aufgabe ist aufgrund der Schwere dieser Dienstvergehen die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis grundsätzlich Richtschnur für die Maßnahmebestimmung, wenn die veruntreuten Beträge oder Werte die Schwelle der Geringwertigkeit deutlich übersteigen (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.1.2007 - BVerwG 1 D 15.05 - [...] Langtext Rdnr. 12 m. w. N.; Urt. v. 11.6.2002 - BVerwG 1 D 31.01 -, BVerwGE 116, 308 = NVwZ 2003, 108 = DÖD 2003, 38). Hat sich der Beamte bei der Ausübung seiner dienstlichen Tätigkeit an Vermögenswerten vergriffen, die als dienstlich anvertraut seinem Gewahrsam unterliegen, ist ein solches Dienstvergehen regelmäßig geeignet, das Vertrauensverhältnis zu zerstören (BVerfG, Beschl. v. 19.2.2003 - 2 BvR 1413/01 -, NVwZ 2003, 1504; BVerwG, Urt. v. 28.5.1997 - BVerwG 1 D 74.96 -, NVwZ-RR 1998, 506 f. = [...] Langtext Rdnr. 17; Urt. v. 5.3.2002 - BVerwG 1 D 8.01 -, [...] Langtext Rdnr. 26 f.; Nds. OVG, Urt. v. 6.5.2008 - 6 LD 3/06 -).

29

Der Beklagte hat danach eine schwere Verfehlung im Kernbereich der ihm obliegenden Dienstpflichten begangen, indem er ihm dienstlich anvertraute Geldbeträge in Höhe von 110 EUR unberechtigterweise aus der Zustellkasse entnommen und für sich verwendet hat. Dabei ist in disziplinarrechtlicher Hinsicht die Schwelle der Geringfügigkeit, die in Anlehnung an § 248a StGB bei zurzeit etwa 50 EUR gezogen wird (vgl. hierzu Eser/Bosch, in: Schönke/ Schröder, StGB, 28. Aufl. 2010, § 248a Rdnr. 10 m. w. N.), um mehr als das Doppelte überschritten. Uneingeschränktes Vertrauen in die Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit eines Beamten, der als Kassenführer in der Zustellkasse eines Briefzentrums der Deutschen Post AG unter anderem für die Buchung von Zustellabrechnungen zuständig ist, war gerade die Voraussetzung für den dem Beklagten übertragenen Aufgabenbereich, zumal dieser bei seiner Tätigkeit keiner ständigen und lückenlosen Kontrolle unterlag und das sogenannte Vieraugenprinzip hierbei gerade nicht zum Tragen kam.

30

Diese Indizwirkung entfällt jedoch, wenn sich im Einzelfall aufgrund des Persönlichkeitsbildes des Beamten Entlastungsgründe von solchem Gewicht ergeben, dass die prognostische Gesamtwürdigung den Schluss rechtfertigt, der Beamte habe das Vertrauensverhältnis zu seinem Dienstherrn noch nicht endgültig zerstört. Als durchgreifende Entlastungsgründe kommen zum einen die Milderungsgründe in Betracht, die das Bundesverwaltungsgericht von jeher zu den Zugriffsdelikten entwickelt hat. Zu diesen Milderungsgründen gehören besondere Konfliktsituationen (Handeln in einer wirtschaftlichen Notlage, in einer psychischen Ausnahmesituation oder in einer besonderen Versuchungssituation) und Verhaltensweisen mit noch günstigen Persönlichkeitsprognosen (freiwillige Wiedergutmachung des Schadens oder Offenbarung des Fehlverhaltens vor Tatentdeckung, Zugriff auf geringwertige Gelder oder Güter; dazu BVerwG, Urt. v. 20.10.2005 - BVerwG 2 C 12.04 -, NVwZ 2006, 469; Urt. v. 24.5.2007 - BVerwG 2 C 25.06 -, [...] Langtext Rdnr. 21; Urt. v. 29.5.2008 - BVerwG 2 C 59.07 -, [...] Langtext Rdnr. 22; Nds. OVG, Urt. v. 11.5.2010 - 20 LD 6/09 -). Diese Milderungsgründe stellen jedoch keinen abschließenden Kanon der bei Dienstvergehen berücksichtigungsfähigen Entlastungsgründe dar. Bei der prognostischen Frage, ob bei einem Beamten aufgrund eines schweren Dienstvergehens ein endgültiger Vertrauensverlust eingetreten ist, gehören zur Prognosebasis zum anderen vielmehr alle für diese Einschätzung bedeutsamen belastenden und entlastenden Ermessensgesichtspunkte, die in eine Gesamtwürdigung einzubeziehen sind (BVerwG, Urt. v. 20.10.2005 - BVerwG 2 C 12.04 -, NVwZ 2006, 469; Urt. v. 24.5.2007 - BVerwG 2 C 25.06 -, [...] Langtext Rdnr. 22; Urt. v. 29.5.2008 - BVerwG 2 C 59.07 -, [...] Langtext Rdnr. 23; Nds. OVG, Urt. v. 11.5.2010 - 20 LD 6/09 -).

31

Hieran gemessen sind Anhaltspunkte für das Vorliegen eines anerkannten "klassischen" Milderungsgrundes nicht ersichtlich (dazu a). Auch eine "Gesamtschau" der den Beklagten be- und entlastenden Gesichtspunkte rechtfertigt ein Absehen von der Höchstmaßnahme nicht (dazu b).

32

a) Der Beklagte kann sich nicht mit Erfolg auf einen der "klassischen" Milderungsgründe berufen. Dies hat das Verwaltungsgericht bereits zutreffend ausgeführt, ohne dass der Beklagte diese Einschätzung im Berufungsverfahren durchgreifend infrage gestellt hat.

33

Sein Einwand in diesem Zusammenhang, der entwendete Betrag sei nicht allzu weit von der Geringfügigkeitsgrenze entfernt, greift nicht durch. Der Milderungsgrund des Zugriffs auf geringwertige Gelder scheitert daran, dass er sich durch seine aufgrund des Grundsatzes der Einheit des Dienstvergehens insgesamt und einheitlich zu betrachtenden Pflichtverletzungen einen Betrag von 110 EUR zugeeignet hat und dieser Betrag die Wertgrenze, die - wie bereits ausgeführt - bei zurzeit etwa 50 EUR gezogen wird, um mehr als das Doppelte übersteigt. Der Einwand des Beklagten in diesem Zusammenhang, dieser Betrag ergebe sich nicht zwingend aus den tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichts G., greift nicht durch. Nach dem oben Gesagten umfasst die Bindungswirkung auch den entwendeten Betrag in dieser Höhe. Ungeachtet dessen kommt es bei der Angemessenheit einer Disziplinarmaßnahme nicht auf das Verhältnis zwischen den von dem Beamten durch das Dienstvergehen erlangten Vorteilen und den durch die Disziplinarmaßnahme bewirkten Nachteilen an. Abzuwägen sind vielmehr das Gewicht des Dienstvergehens und der dadurch eingetretene Vertrauensschaden einerseits und die mit der Verhängung der Höchstmaßnahme einhergehenden Belastungen andererseits (Nds. OVG, Urt. v. 14.11.2012 - 19 LD 4/11 -, [...] Langtext Rdnr. 35 m. w. N.). Daher kann unter Umständen im Fall einer - wie hier - schweren Dienstpflichtverletzung im Kernbereich der Pflichten eines Beamten aufgrund der gebotenen Gesamtabwägung selbst dann die Höchstmaßnahme verwirkt sein, wenn das Zugriffsobjekt lediglich einen Wert bis zur Grenze von 50 EUR hat.

34

b) Auch bei der gebotenen gesamtprognostischen Betrachtung sind sonstige durchgreifende Entlastungsgründe nicht zu erkennen.

35

Zwar spricht zu Gunsten des Beklagten seine langjährige und beanstandungsfreie Dienstausübung als Postbeamter, dessen letzte dienstliche Beurteilung aus dem Jahr 20 mit einer für ihn positiven Bewertung abschließt, sowie der Umstand, dass er in der Vergangenheit - wenn auch bereits 19 und damit lange vor der Dienstpflichtverletzung - eine Leistungszulage erhalten hatte. Diese Entlastungsgründe haben aber nicht ein solches Gewicht, dass sie den durch das schwere Dienstvergehen eingetretenen endgültigen Vertrauensverlust aufwiegen könnten. Dies gilt insbesondere im Fall der hier vorliegenden Verletzung einer leicht einsehbaren Kernpflicht. Deshalb greift der Einwand des Beklagten, er habe als Beamter des einfachen Dienstes weder die für einen Schalterbeamten typischerweise vorliegende Ausbildung, noch habe er eine Einweisung in den Pflichtenkreises eines Kassenbeamten erhalten, nicht durch. Auch unter Berücksichtigung seiner Ausbildung musste es ihm ohne weitere Überlegungen von vornherein klar sein, sich unter keinen Umständen an Kassengeldern zu vergreifen.

36

Schließlich stellt der Umstand, dass der Beklagte in straf- und disziplinarrechtlicher Hinsicht unbelastet ist, letztlich keine entlastend wirkende Besonderheit, sondern den Normalfall dar, sodass er im Fall der Verwirkung der Höchstmaßnahme nicht zu seinen Gunsten berücksichtigt werden kann.

37

Erschwerend kommt hinzu, dass der Beklagte durch seine Handlungen vom 7. März 20 seine Kollegen I. und K. dem Verdacht jeweils einer eigenen Verfehlung ausgesetzt hat, sodass sie ohne die Aufdeckung seiner Unterschlagung aller Wahrscheinlichkeit nach disziplinarische Ermittlungen über sich hätten ergehen lassen müssen und gegebenenfalls zum Ausgleich des Fehlbetrages herangezogen worden wären.

38

Gleiches gilt für die gegen den Beklagten durchgeführten strafrechtlichen und disziplinarrechtlichen Maßnahmen der vorläufigen Dienstenthebung und der Einbehaltung eines Teils seiner Dienstbezüge sowie der Belastungen insgesamt durch das Disziplinarverfahren. Diese gesetzlich geregelten und vorgesehenen Maßnahmen sind ebenfalls unmittelbar und ausschließlich Folge des von ihm zu vertretenden Fehlverhaltens im Kernbereich seiner dienstlichen Pflichten. Ungeachtet dieser Maßnahmen steht die streitgegenständliche Frage im Raum und ist zu beantworten, ob und insbesondere mit welcher der im Katalog des § 5 BDG gesetzlich vorgesehenen Disziplinarmaßnahmen auf das Dienstvergehen des Beklagten zu reagieren ist.

39

Auch die lange Verfahrensdauer von nunmehr insgesamt über sechs Jahren streitet nicht zu seinen Gunsten. Nach ständiger Rechtsprechung kann lediglich eine unterhalb der disziplinarischen Höchstmaßnahme gebotene Disziplinarmaßnahme auch in der Maßnahmeart milder ausfallen, wenn das Straf- und/oder das Disziplinarverfahren übermäßig lange gedauert haben und der Beamte dies nicht zu vertreten hat (vgl. etwa BVerwG, Urt. v. 8.9.2004 - BVerwG 1 D 18.03 -, NVwZ-RR 2006, 45). Wenn hingegen - wie hier - die Höchstmaßnahme verwirkt ist, scheidet eine Berücksichtigung einer überlangen Verfahrensdauer auch unter Berücksichtigung des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention - EMRK - und der dazu ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte - EGMR - sowie der §§ 3 BDG, 173 Satz 1 VwGO, 198 ff. GVG aus (BVerwG, Beschl. v. 22.1.2013 - BVerwG 2 B 89.11 -, [...] Langtext Rdnr. 11 ff.; v. 30.8.2012 - BVerwG 2 B 21.12 -, [...] Langtext Rdnr. 13 ff.; Urt. v. 29.3.2012 - BVerwG 2 A 11.10 -, [...] Langtext Rdnr. 84 ff; Beschl. v. 16.5.2012 - BVerwG 2 B 3.12 -, NVwZ-RR 2012, 609 = [...] Langtext Rdnr. 6 ff.; Urt. v. 25.8.2009 - BVerwG 1 D 1.08 -, [...]; Beschl. v. 28.10.2008 - BVerwG 2B 53.08 -, [...]; BVerfG, Beschl. v. 9.8.2006 - 2 BvR 1003/05 -, [...] Langtext Rdnr. 6; Senat, Urt. v. 28.8.2012 - 19 LD 6/10 -; Nds. OVG, Urt. v. 14.11.2012 - 19 LD 4/11 -, [...] Langtext Rdnr. 39).

40

Die Entfernung des Beklagten aus dem Beamtenverhältnis infolge seines schweren Dienstvergehens ist - worauf bereits das Verwaltungsgericht zutreffend abgestellt hat - auch nicht unverhältnismäßig. Dass diese Höchstmaßnahme mit Einkommenseinbußen und dem Verlust der Besoldungsbezüge verbunden ist, ist Folge der schuldhaften Dienstpflichtverletzungen des Beklagten, die sich in sozialer Hinsicht ergebenden Folgen beruhen daher allein auf seinem zurechenbaren Verhalten. Deshalb kommt es nicht auf die finanziellen und sozialen Auswirkungen der Disziplinarmaßnahme für den Beamten an. In das Verhältnis zu setzen sind - wie oben bereits in anderem Zusammenhang ausgeführt - vielmehr die Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zum Dienstherrn, zu der das Fehlverhalten des Beamten geführt hat, und die dementsprechend verhängte Disziplinarmaßnahme. Hat ein Beamter durch ein ihm vorwerfbares Verhalten die Vertrauensgrundlage zerstört, ist seine Entfernung aus dem Beamtenverhältnis die einzige Möglichkeit, das durch den Dienstherrn sonst nicht lösbare Beamtenverhältnis einseitig zu beenden. Die allein darin liegende Härte für den Betroffenen ist nicht unverhältnismäßig (BVerfG, Beschl. v. 20.12.2007 - 2 BvR 1050/07 -, [...] Langtext Rdnr. 11; Beschl. v. 19.2.2003 - 2 BvR 1413/01 -, NVwZ 2003, 1504 -; Nds. OVG, Urt. v. 22.6.2010 - 20 LD 13/08 -, [...] Langtext Rdnr. 62; VGH München, Urt. v. 23.3.2011 - 16b D 09.2749 -, [...] Langtext Rdnr. 74, jeweils m. w. N.).

41

Schließlich verkennt der Beklagte bei seiner Argumentation, bei der Gesamtabwägung und der zu treffenden Prognoseentscheidung müsse berücksichtigt werden, dass er stets seine Unschuld beteuert habe und die Feststellungen des Amtsgerichts G., insbesondere dessen Beweiswürdigung im strafgerichtlichen Verfahren ungenügend gewesen seien, grundlegende Strukturprinzipien des Disziplinarrechts. Die Frage, welcher Sachverhalt zugrunde gelegt und insbesondere die Frage, ob die Voraussetzungen für eine Lösung von den tatsächlichen Feststellungen eines rechtskräftigen Strafurteils vorliegen, entscheidet sich allein auf der "Tatbestandsebene" des Dienstvergehens. Wenn diese Fragen in der einen oder anderen Richtung beantwortet sind, ist im Folgenden auf der "Rechtsfolgenebene" bei der Bestimmung der angemessenen Disziplinarmaßnahme hiervon auszugehen, ohne dass diese Entscheidung in diesem Stadium der Entscheidungsfindung nochmals infrage gestellt oder in der von dem Beklagten gewünschten Weise "aufgeweicht" werden kann. Die in § 23 BDG für das behördliche und in § 57 Abs. 1 Satz 1 BDG für das Verwaltungsgericht festgelegte Bindung an tatsächliche Feststellungen aus anderen, zeit- und sachnäheren Verfahren dient dem vorrangigen Ziel, einander widersprechende Tatsachenfeststellungen zu denselben Sachverhalten zu vermeiden und nur unter - wie ausgeführt hier nicht vorliegenden - engen Voraussetzungen in eine erneute Sachverhaltsprüfung einzusteigen. Daher ist es sowohl auf Tatbestands- als auch auf Rechtsfolgenebene unzulässig, das Gegenteil einer bindenden Feststellung als wahr zu unterstellen. Aus demselben Grund bedarf es - wie ebenfalls bereits erwähnt - auch nicht der Durchführung einer erneuten Beweisaufnahme in Gestalt der Inaugenscheinseinnahme der kompletten von der Klägerin vorgenommenen Videoaufzeichnung, wie von dem Beklagten angeregt.

42

Der Senat sieht ebenso wie das Verwaltungsgericht keine Veranlassung, nach § 10 Abs. 3 Sätze 2 und 3 BDG eine Änderung des auf § 10 Abs. 3 Satz 1 BDG beruhenden Bezuges eines Unterhaltsbeitrages für die Dauer von sechs Monaten in Höhe von 50 v. H. der Dienstbezüge, die ihm bei Eintritt der Unanfechtbarkeit der Entscheidung zustehen, vorzunehmen.