Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 27.09.2013, Az.: 13 LA 99/13

Unverhältnismäßigkeit der Anordnung persönlichen Erscheinens bei mangelnder Kooperationsbereitschaft des Betroffenen

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
27.09.2013
Aktenzeichen
13 LA 99/13
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2013, 46769
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2013:0927.13LA99.13.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Lüneburg - 09.04.2013 - AZ: 3 A 98/11

Fundstellen

  • NdsVBl 2013, 3
  • NordÖR 2014, 48

Amtlicher Leitsatz

§ 82 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erfährt durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit lediglich insoweit eine Einschränkung, als dem Betroffenen keine von vornherein objektiv aussichtlosen oder unzumutbaren Pflichten auferlegt werden dürfen. Liegt das Hindernis allein in seiner mangelnden Kooperationsbereitschaft, so kann regelmäßig nicht von der Unverhältnismäßigkeit der Anordnung des persönlichen Erscheinens ausgegangen werden.

Gründe

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.

Die Zulassung der Berufung setzt nach § 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO voraus, dass einer der in § 124 Abs. 2 VwGO genannten Zulassungsgründe dargelegt ist und vorliegt. Eine hinreichende Darlegung nach § 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 VwGO erfordert, dass in der Begründung des Zulassungsantrags im Einzelnen unter konkreter Auseinandersetzung mit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung ausgeführt wird, weshalb der benannte Zulassungsgrund erfüllt sein soll. Zwar ist bei den Darlegungserfordernissen zu beachten, dass sie nicht in einer Weise ausgelegt und angewendet werden, welche die Beschreitung des eröffneten (Teil-)Rechtswegs in einer unzumutbaren, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschwert (BVerfG, 2. Kammer des 2. Senats, Beschl. v. 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -; BVerfG, 2. Kammer des 1. Senats, Beschl. v. 24.01.2007 - 1 BvR 382/05 -; BVerfG, 1. Kammer des 2. Senats, Beschl. v. 21.01.2000 - 2 BvR 2125/97 -, jeweils zit. nach [...]). Erforderlich sind aber qualifizierte, ins Einzelne gehende, fallbezogene und aus sich heraus verständliche, auf den jeweiligen Zulassungsgrund bezogene und geordnete Ausführungen, die sich mit der angefochtenen Entscheidung auf der Grundlage einer eigenständigen Sichtung und Durchdringung des Prozessstoffes auseinandersetzen.

Der ausschließlich geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) wird nicht in einer den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO genügenden Weise dargelegt bzw. liegt nicht vor. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils können nur dann bestehen, wenn gegen dessen Richtigkeit gewichtige Gründe sprechen. Das ist regelmäßig der Fall, wenn ein die Entscheidung tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23.06.2000 - 1 BvR 830/00 -, DVBl. 2000, 1458; BVerwG, Beschl. v. 10.03.2004 - 7 AV 4/03 -, [...]). Ist das Urteil auf mehrere selbständig tragende Begründungen gestützt, müssen hinsichtlich aller Begründungen Zulassungsgründe dargelegt werden (Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll: VwGO, 5. Aufl. § 124a Rdnr. 82).

Nach diesen Grundsätzen lassen sich dem klägerischen Vorbringen keine Gesichtspunkte entnehmen, die ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen erstinstanzlichen Entscheidung begründen könnten. Der Kläger rügt einen Verstoß der angefochtenen Verfügung vom 21. April 2011 gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Anordnung des persönlichen Erscheinens nach § 82 Abs. 4 Satz 1 AufenthG sei von vornherein ungeeignet gewesen, da der Kläger nicht bereit gewesen sei, gegenüber den ermächtigten Bediensteten der Russischen Föderation irgendwelche Angaben zu seiner Identitätsklärung zu machen.

Dies begründet indes nicht die Unverhältnismäßigkeit der angefochtenen Maßnahme. Allerdings wird die Auffassung vertreten, eine Anordnung des persönlichen Erscheinens und erst recht deren zwangsweise Durchsetzung könnten u.U. nach Lage des Einzelfalls wegen fehlender Erforderlichkeit unzulässig sein, wenn zum Zeitpunkt der Anordnung, jedenfalls aber ihrer Vollstreckung sicher feststehe, dass der Betroffene nicht bereit sein werde, überhaupt irgendwelche Angaben zu machen und das persönliche Erscheinen allein die Vorbereitung und Durchführung der beabsichtigten Maßnahme nicht befördern könne (vgl. Funke-Kaiser in GK, AufenthG, § 82, Rdnr. 109, Stand August 2012). Diese Auffassung begründet im vorliegenden Fall schon deshalb keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung, weil zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Verfügung nicht mit Sicherheit festgestellt werden konnte, dass der Kläger gegenüber den ermächtigten Bediensteten der Russischen Föderation keinerlei Angaben machen werde. Bloß verbale Ankündigungen des Prozessbevollmächtigten des Klägers reichen insoweit nicht aus. Dem Kläger muss selbst Gelegenheit gegeben werden, den ihn treffenden Mitwirkungspflichten freiwillig nachzukommen. Diese Möglichkeit würde ihm genommen, ließe man bereits die Ankündigungen seines Prozessbevollmächtigten ausreichen, um von vornherein eine fehlende Kooperationsbereitschaft anzunehmen. Die Anordnung ist auch keineswegs von vornherein ungeeignet, wenn sich der Betroffene bislang geweigert hat, an der Identitätsklärung mitzuwirken. Die zuständige Behörde kann und darf sich im Regelfall durchaus erhoffen, dass es sich der Betroffene in der konkreten Situation anders überlegen wird (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 3. April 2012 - 11 ME 84/12 -, [...], Rdnr. 4; Funke-Kaiser, a.a.O., Rdnr. 113; enger: HessVGH, Beschl v. 16. August 200 - 9 TG 2206/00 -, [...], Rdnr. 7). § 82 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erfährt durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit lediglich insoweit eine Einschränkung, als dem Betroffenen keine von vornherein objektiv aussichtslosen oder unzumutbaren Pflichten auferlegt werden dürfen. Liegt das Hindernis allein in seiner mangelnden Kooperationsbereitschaft, so kann regelmäßig nicht von einem unverhältnismäßigen Verlangen ausgegangen werden. Anderenfalls würde der Geltungsbereich der Vorschrift auf die Fälle einer freiwilligen Mitwirkung beschränkt, in denen es einer behördlichen Anordnung ohnehin nicht bedürfte.

Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).