Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 21.06.2013, Az.: 4 LA 102/12

Geltung des Grundsatzes der Abgabengerechtigkeit für die Erhebung von Kostenbeiträgen für die Kindertagespflege nach § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
21.06.2013
Aktenzeichen
4 LA 102/12
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2013, 40364
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2013:0621.4LA102.12.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Stade - 29.02.2012 - AZ: 4 A 892/11

Fundstellen

  • DÖV 2013, 823
  • Gemeindehaushalt 2013, 284
  • Jugendhilfe 2013, 383
  • NDV-RD 2013, 142
  • NJW 2013, 3387-3388
  • NdsVBl 2014, 55-56

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Auch für die Erhebung von Kostenbeiträgen für die Kindertagespflege nach § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII gilt der sich aus Art. 3 Abs. 1 GG ergebende Grundsatz der Abgabengerechtigkeit.

  2. 2.

    Ein Verstoß gegen diesen Grundsatz liegt dann vor, wenn der nach der Kostenbeitragssatzung höchste Kostenbeitrag die anteilsmäßigen rechnerischen Kosten der Leistung des öffentlichen Jugendhilfeträgers erheblich übersteigt.

Gründe

Der Antrag der Klägerin auf

Zulassung der Berufung

ist begründet, weil ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des klageabweisenden Urteils des Verwaltungsgerichts (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) bestehen.

Diese ergeben sich daraus, dass die Satzung des Landkreises Stade über die Erhebung von Kostenbeiträgen für die Kindertagespflege vom 22. Juni 2009 (KBS), aufgrund derer der Beklagte durch den teilweise angefochtenen Bescheid vom 30. Juni 2011 einen Kostenbeitrag für die Betreuung des Kindes der Klägerin in der Kindertagespflege festgesetzt hat, entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts nichtig ist.

Das Verwaltungsgericht hat zwar zutreffend festgestellt, dass das Niedersächsische Kommunalabgabengesetz (NKAG) hier nicht anwendbar ist, weil Kostenbeiträge für die Kindertagespflege gemäß § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII, deren Erhebung Gegenstand der KBS ist, keine Steuern, Gebühren oder Beiträge im Sinne des § 1 NKAG, insbesondere keine Benutzungsgebühren im Sinne des § 5 NKAG, die für die Inanspruchnahme öffentlicher Einrichtungen erhoben werden, sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 25.4.1997 - 5 C 6.96 -, FEVS 48, 16, zu der Erhebung von Teilnahmebeiträgen oder Gebühren für Kindertageseinrichtungen; Wiesner, SGB VIII, 4. Aufl. 2011, § 90 Rn. 6). Letzteres ergibt sich auch schon daraus, dass bei der Kindertagespflege eine öffentliche Einrichtung als Zusammenfassung personeller Kräfte und sachlicher Mittel in der Hand eines Trägers öffentlicher Verwaltung zur dauernden Wahrnehmung bestimmter Aufgaben der öffentlichen Verwaltung (vgl. Rosenzweig/Freese/von Waldthausen, NKAG, Stand: Dezember 2012, § 5 Rn. 31 m.w.N.) nicht besteht. Allerdings handelt es sich auch bei Kostenbeiträgen gemäß § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII um (auch) der Finanzierung der öffentlichen Jugendhilfe dienende öffentliche Abgaben (vgl. Senatsbeschluss vom 20.1.2009 - 4 ME 3/09 - zu der vom Senat bejahten Frage, ob Kostenbeiträge gemäß §§ 91 ff. SGB VIII öffentliche Abgaben im Sinne des § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind) "eigener Art" (vgl. hierzu OVG Münster, Beschluss vom 9.7.2012 - 12 A 778/12 -; Driehaus, Kommunalabgabenrecht, Stand: März 2013, Teil III § 6 Rn. 496 a; Frankfurter Kommentar zum SGB VIII, 6. Aufl. 2009, § 90 Rn. 1; Wiesner, SGB VIII, § 90 Rn. 6). Es gilt daher auch für die Erhebung von Kostenbeiträgen nach § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII der sich aus Art. 3 Abs. 1 GG ergebende Grundsatz der Abgabengerechtigkeit (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.3.1998 - 1 BvR 178/97 -, BVerfGE 97, 332; Driehaus, Kommunalabgabenrecht, Teil III § 6 Rn. 496 f). Dieser ist bei einer Kostenbeitragstaffelung nach dem Einkommen der Kostenbeitragspflichtigen gemäß § 90 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII gewahrt, wenn auch der in Relation zu dem Umfang der Leistung des Jugendhilfeträgers höchste Kostenbeitrag die anteilsmäßigen rechnerischen Kosten dieser Leistung nicht übersteigt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.3.1998 - 1 BvR 178/97 -; Driehaus, Kommunalabgabenrecht, Teil III § 6 Rn. 496 f), da unter dieser Voraussetzung allen Kostenbeitragspflichtigen im Ergebnis ein vermögenswerter Vorteil zugewendet wird und auch die Kostenbeitragspflichtigen, die einen relativ hohen Kostenbeitrag zahlen, nicht zusätzlich und voraussetzungslos zur Finanzierung allgemeiner Lasten und vor allem nicht zur Entlastung sozial schwächerer Kostenbeitragspflichtiger herangezogen werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.3.1998 - 1 BvR 178/97 -). Ein Verstoß gegen diesen Grundsatz (und auch gegen das Äquivalenzprinzip) liegt aber jedenfalls dann vor, wenn der höchste Kostenbeitrag die anteilsmäßigen rechnerischen Kosten der Leistung des öffentlichen Jugendhilfeträgers erheblich übersteigt (vgl. Driehaus, Kommunalabgabenrecht, Teil III § 6 Rn. 496 f).

Der Grundsatz der Abgabengerechtigkeit ist hier durch die KBS des Beklagten verletzt, weil danach in einem Teil der durch diese Satzung geregelten Fälle Kostenbeiträge festzusetzen sind, die den Wert der Leistung (Tagespflege) nach der eigenen Kalkulation des Beklagten teilweise erheblich übersteigen. Nach der Verwaltungsvorlage (u. a.) für die Sitzung des Kreistages des Beklagten am 22. Juni 2009, in der die KBS beschlossen worden ist, betragen die Gesamtkosten der Tagespflege für ein Kind bei einer nach der Kostenbeitragstabelle in der Anlage zu § 4 der KBS mittleren monatlichen Betreuungszeit von 110 Stunden 505 EUR im Monat (110 Stunden x 3,50 EUR je Stunde = 385 EUR Tagespflegegeld zuzüglich 120 EUR anteilige Sozialversicherungsbeiträge). Diesen Kosten steht nach der in dieser Verwaltungsvorlage angeführten Beispielsrechnung bei einem nach der genannten Kostenbeitragstabelle mittleren Jahresnettoeinkommen von 25.000 EUR gemäß dieser Tabelle (Jahreseinkommen von 24.000 EUR bis 29.000 EUR = Stufe 4, monatliche Betreuungszeit von 100 bis 119 Stunden) ein Kostenbeitrag von monatlich 151 EUR gegenüber. Umgerechnet auf die einzelne Betreuungsstunde beträgt der Kostenbeitrag 1,37 EUR (151 EUR : 110 Stunden = 1,37 EUR). Damit werden nach der Verwaltungsvorlage 30 % der Gesamtkosten der Kindertagespflege von monatlich 505 EUR im Falle einer monatlichen Betreuungszeit von 110 Stunden gedeckt. Daraus ergibt sich, dass bei einem Kostenbeitrag von 4,59 EUR je Betreuungsstunde die Gesamtkosten der Kindertagespflege etwa zu 100 % gedeckt wären (110 Stunden x 4,59 EUR = 504,90 EUR Kostenbeitrag). Bei einem Betreuungsumfang von 20 Stunden im Monat und einem Jahreseinkommen von über 48.000 EUR (Einkommensstufe 8) muss nach der Tabelle in der Anlage zu § 4 der KBS allerdings ein Kostenbeitrag von 142 EUR im Monat geleistet werden. Umgerechnet auf die einzelne Betreuungsstunde beträgt der Kostenbeitrag 7,10 EUR. Dieser Kostenbeitrag übersteigt den nach der Kalkulation des Beklagten kostendeckenden Kostenbeitrag von 4,59 EUR je Stunde um 55 % und damit in einem ganz erheblichen Umfang. Auch bei einem Betreuungsumfang von 30 Stunden im Monat liegt der in der Einkommensstufe 8 zu zahlende Kostenbeitrag von monatlich 142 EUR noch über den anteiligen tatsächlichen Kosten, da in diesem Falle umgerechnet auf die einzelne Betreuungsstunde 4,73 EUR zu zahlen sind. Auch in den Einkommensstufen 6 und 7 und bei einem Betreuungsumfang von 20 Stunden im Monat übersteigt der nach der KBS zu zahlende Kostenbeitrag die anteiligen tatsächlichen Kosten. Denn noch in der Einkommensstufe 6 muss bei einem Betreuungsumfang von 20 Stunden im Monat ein Kostenbeitrag von 101 EUR, also 5,05 EUR je Stunde, geleistet werden. Dies gilt schließlich auch für einen Betreuungsumfang von 40 Stunden im Monat in der Einkommensstufe 8, da in diesem Falle ein Kostenbeitrag von 186 EUR, also 4,65 EUR je Stunde, nach der KBS zu leisten ist. Diese Fälle von zum Teil erheblichen Kostenüberschreitungen, die sich aus der eigenen Kalkulation des Beklagten ergeben, zeigen, dass die KBS des Beklagten gegen den Grundsatz der Abgabengerechtigkeit verstößt.

Daher ist die KBS des Beklagten nichtig mit der Folge, dass der Bescheid des Beklagten vom 30. Juni 2011, der auf der KBS beruht, im angefochtenen Umfang rechtswidrig ist. Dass der Beklagte durch seine Verwaltungspraxis ("Deckelung" der sich aus der KBS ergebenden Kostenbeiträge auf die tatsächlichen Kosten der Kindertagespflege) die Folgen des genannten Satzungsfehlers nach seinen Angaben ausgleicht, behebt den Satzungsfehler selbst nicht, da eine Korrektur dieses Fehlers der KBS nur durch den Erlass einer neuen Satzung bzw. eine Satzungsänderung erfolgen kann.

Das Antragsverfahren wird unter dem neuen Aktenzeichen

4 LB 152/13

als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht (§ 124 a Abs. 5 Satz 5 VwGO).

Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Beschlusses zu begründen. Die Begründung ist bei dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht, Uelzener Straße 40, 21335 Lüneburg, einzureichen (§ 124 a Abs. 6 VwGO).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).