Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 25.06.2013, Az.: 8 PA 98/13
Zusammenrechnung von gesondert zu bemessene Fristen der Wirkungen einer Ausweisung und einer Abschiebung
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 25.06.2013
- Aktenzeichen
- 8 PA 98/13
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2013, 39199
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2013:0625.8PA98.13.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Göttingen - 19.04.2013 - AZ: 4 A 250/12
Rechtsgrundlage
- § 11 Abs. 1 AufenthG
Fundstellen
- AUAS 2013, 172-176
- InfAuslR 2013, 336-339
- NVwZ-RR 2013, 5
- NVwZ-RR 2013, 860
- ZAR 2013, 393
Amtlicher Leitsatz
Gesondert bemessene Fristen der Wirkungen einer Ausweisung und einer Abschiebung laufen nebeneinander und nicht nacheinander; sie sind nicht zusammenzurechnen.
Gründe
Die Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts ist zulässig und begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Klageverfahren zu Unrecht abgelehnt.
Nach § 166 VwGO i.V.m. § 114 Satz 1 ZPO ist einer Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann, Prozesskostenhilfe zu gewähren, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.
Der Kläger ist nach der von ihm vorgelegten "Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse" nicht in der Lage, die Kosten der Prozessführung auch nur in Raten aufzubringen.
Seine Klage auf Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 4. September 2012 und auf Verpflichtung der Beklagten, die Wirkungen der Ausweisung und Abschiebung des Klägers auf einen Zeitpunkt vor dem 10. Dezember 2011 zu befristen, bietet auch hinreichende Aussicht auf Erfolg.
Die Maßstäbe für die nach § 11 Abs. 1 AufenthG zu treffende Entscheidung über die Befristung der Wirkungen von Ausweisung und Abschiebung sind in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Senats geklärt. Er hat hierzu in seiner Entscheidung vom 14. Februar 2013 (- 8 LC 129/12 -, InfAuslR 2013, 188 f.) ausgeführt:
"Maßgebend für die verwaltungsgerichtliche Beurteilung der Befristungsentscheidung ist dabei nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der der Senat folgt, die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.7.2012 - 1 C 19.11 -, [...] Rn. 12; Urt. v. 22.3.2012 - 1 C 5.11 -, BVerwGE 142, 195, 198 jeweils m.w.N.).
Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet - AufenthG - in der danach anzuwendenden Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), zuletzt geändert durch Gesetz vom 21. Januar 2013 (BGBl. I S. 86), darf ein Ausländer, der ausgewiesen oder abgeschoben worden ist, nicht erneut in das Bundesgebiet einreisen und sich darin aufhalten. Ihm wird nach Satz 2 der Vorschrift auch bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs nach diesem Gesetz kein Aufenthaltstitel erteilt. Satz 3 der Vorschrift ordnet an, dass diese kraft Gesetzes eintretenden Wirkungen auf Antrag befristet werden. Die Frist ist gemäß Satz 4 unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls festzusetzen und darf fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht. Bei der Bemessung der Länge der Frist wird nach Satz 5 berücksichtigt, ob der Ausländer rechtzeitig und freiwillig ausgereist ist. Die Frist beginnt nach Satz 6 mit der Ausreise. Nach Satz 7 erfolgt keine Befristung, wenn ein Ausländer wegen eines Verbrechens gegen den Frieden, eines Kriegsverbrechens oder eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder aufgrund einer Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG aus dem Bundesgebiet abgeschoben wurde. Die oberste Landesbehörde kann hiervon nach Satz 8 im Einzelfall Ausnahmen zulassen.
Der Ausländer hat grundsätzlich einen Anspruch darauf, dass die Ausländerbehörde mit einer Ausweisung zugleich das daran geknüpfte gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot sowie die Titelerteilungssperre befristet (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.7.2012, a.a.O., Rn. 30 m.w.N.). Geschieht dies nicht, kann nachträglich die Befristung verlangt werden, und zwar sowohl im verwaltungsgerichtlichen Verfahren auf Anfechtung der Ausweisungsverfügung als Hilfsantrag (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.7.2012, a.a.O, Rn. 39) als auch isoliert gegenüber der für eine Befristungsentscheidung zuständigen Ausländerbehörde (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012, a.a.O., S. 199 f.). Es handelt sich um eine gebundene Entscheidung der Ausländerbehörde; ein Ermessen besteht nicht (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.2.2012 - 1 C 7.11 -, BVerwGE 142, 29, 45 f.). Die Befristungsentscheidung der Ausländerbehörde unterliegt der vollumfänglichen gerichtlichen Überprüfung. Das Verwaltungsgericht hat zunächst darüber zu befinden, ob dem Ausländer bereits im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ein Anspruch auf die Befristung der Wirkungen der Ausweisung zusteht. Sollte ein Befristungsanspruch bestehen, hat das Gericht sodann über die konkrete Dauer der Befristung selbst zu befinden und die Ausländerbehörde zu einer entsprechenden Befristung der Ausweisung zu verpflichten (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.7.2012, a.a.O, Rn. 40; Urt. v. 14.2.2012, a.a.O., S. 44 f.).
Abgesehen von den in § 11 Abs. 1 Satz 7 AufenthG genannten Fällen genügt eine zeitlich befristete Ausweisung regelmäßig zur Erreichung der mit dieser ordnungsrechtlichen Maßnahme verfolgten Zwecke (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.7.2012, a.a.O., Rn. 31; Senatsurt. v. 14.5.2009 - 8 LB 158/06 -, [...] Rn. 39; vgl. zu möglichen Ausnahmen: Niedersächsisches OVG, Urt. v. 28.6.2012 - 11 LC 490/10 -, [...] Rn. 59). Die Dauer der Frist ist dabei allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzen.
Dabei hat der Tatrichter in einem 1. Prüfungsschritt zu prognostizieren, wie lange die mit der konkret verfügten Ausweisung verfolgten Zwecke (vgl. Bayerischer VGH, Urt. v. 26.3.2009 - 19 ZB 09.498 -, [...] Rn. 2; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 26.3.2003 - 11 S 59/03 -, [...] Rn. 32 m.w.N.) eine Fernhaltung des Ausländers vom Bundesgebiet erfordern ("Zweckerreichung als Fristobergrenze"). Ist die Ausweisung zu generalpräventiven Zwecken erfolgt, stellt sich die Frage, wann die Abschreckungswirkung erreicht bzw. verbraucht ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.2.2012, a.a.O., S. 42 f.; Senatsurt. v. 14.5.2009, a.a.O.; Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl., AufenthG, § 11 Rn. 23). Ist die Ausweisung zu spezialpräventiven Zwecken erfolgt, stellt sich die Frage, für welche Dauer von dem Ausländer die Gefahr einer Wiederholung bzw. Fortdauer der Ausweisungsgründe ausgeht (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.7.2012, a.a.O, Rn. 32 f. und 42; Niedersächsisches OVG, Urt. v. 28.6.2012, a.a.O., Rn. 59; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 26.3.2003, a.a.O.). Bei der Beantwortung sind - ungeachtet der tatsächlichen Schwierigkeiten, die mit der geforderten Bestimmung eines solchen Endzeitpunktes regelmäßig verbunden sein werden - insbesondere das Gewicht des Ausweisungsgrundes, das Verhalten des Ausländers nach der Ausweisung, das Ausmaß der von dem Ausländer konkret ausgehenden Gefahr und die Vorhersehbarkeit der zukünftigen Entwicklung dieser Gefahr zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.7.2012, a.a.O.; Urt. v. 14.2.2012, a.a.O.).
Ergänzend ist der durch § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG gezogene Rahmen zu beachten. Nach dieser Bestimmung darf die Frist fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist (Alt. 1), oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht (Alt. 2). Dabei ist der Senat der Auffassung, dass der Gesetzgeber mit der in § 11 Abs. 1 Satz 4 Alt. 1 AufenthG getroffenen Bestimmung eine generelle Ausnahme von der Fünfjahresfrist für alle Fälle schaffen wollte, in denen der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung wegen einer schwerwiegenden Straftat ausgewiesen worden ist (so auch BVerwG, Urt. v. 13.12.2012 - 1 C 20.11 -, [...] Rn. 42; vgl. Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex, BT-Drs. 17/5470, S. 21). Eine derartige Ausnahme widerspricht auch den Vorgaben in Art. 11 Abs. 2 Satz 1 Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348 v. 24.12.2008, S. 98 f.) nicht. Denn ungeachtet der Frage, ob eine Ausweisung überhaupt eine Rückkehrentscheidung im Sinne der genannten Richtlinie ist (vgl. hierzu VG Baden-Württemberg, Urt. v. 16.5.2012 - 11 S 2328/11 -, DVBl. 2012, 1170, 1174 f. m.w.N.), bestimmt Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie, dass die Mitgliedstaaten beschließen können, diese unter anderem nicht auf solche Drittstaatsangehörigen anzuwenden, die nach einzelstaatlichem Recht aufgrund einer strafrechtlichen Sanktion oder infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind. Ausweislich der benannten Gesetzesmaterialien hat der Gesetzgeber von dieser Möglichkeit jedenfalls bezüglich der Dauer der für ein Einreiseverbot zu bestimmenden Frist mit § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG explizit Gebrauch gemacht (so auch VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 6.11.2012 - 11 S 2307/11 -, [...] Rn. 71; OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 22.3.2012 - 18 A 951/09 -, [...] Rn. 90 f.; OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 13.12.2011 - 12 B 19.11 -, [...] Rn. 27). Selbst in den in § 11 Abs. 1 Satz 4 Alt. 1 und 2 AufenthG genannten Fällen, in denen die Fünfjahresfrist ohne Bedeutung ist, stellt in der Regel aber ein Zeitraum von maximal zehn Jahren den Zeithorizont dar, für den eine Prognose realistischerweise noch gestellt werden kann. Weiter in die Zukunft lässt sich die Persönlichkeitsentwicklung - insbesondere jüngerer Menschen - kaum abschätzen (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.12.2012, a.a.O., Rn. 40).
Eine über diese Bestimmung der für die zu treffende Prognoseentscheidung maßgeblichen Aspekte hinausgehende abstrakte Festlegung von Fristen mag, hierin ist dem Verwaltungsgericht in der angefochtenen Entscheidung zuzustimmen, gerade für die verwaltungspraktische Handhabung wünschenswert sein. Der Senat hält eine solche Festlegung indes, auch wenn sie einer bloßen groben Orientierung dienen sollte, für ausgeschlossen. Sowohl die vom Verwaltungsgericht in der angefochtenen Entscheidung durch eigenständige Formulierung eines nach den Ausweisungsgründen gestaffelten Fristenkataloges (vgl. ähnlich VG Düsseldorf, Urt. v. 26.11.2012 - 27 K 5505/11 -, [...] Rn. 93 f.; Urt. v. 6.11.2012 - 27 K 2548/11 -, [...] Rn. 116 f.) als auch eine fortwährende Orientierung an den Vorgaben in Nr. 11.1.4.6.1 f. Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz - AVwV AufenthG - vom 26. Oktober 2009 (GMBl. S. 877) (vgl. VG Düsseldorf, Urt. v. 4.1.2013 - 7 K 1938/12 -, [...] Rn. 75 f.; Urt. v. 6.12.2012 - 8 K 6577/10 -, [...] Rn. 48 f.; Urt. v. 18.10.2012 - 8 K 6261/08 -, [...] Rn. 118 f.) berücksichtigen die Vorgaben des europäischen Gesetzgebers in der Rückführungsrichtlinie und des nationalen Gesetzgebers im neu gefassten § 11 Abs. 1 AufenthG nicht hinreichend.
Die Regelungen in Nr. 11.1.4.6.1 f. AVwV AufenthG beruhen auf der bis zum 25. November 2011 gültigen Fassung des § 11 AufenthG, die zum einen die Befristung der Wirkungen der Ausweisung und Abschiebung nur für den Regelfall vorsah und zum anderen keinerlei Vorgaben bezüglich der Länge der Frist machte. Die Bestimmung der Fristlänge stand im Ermessen der Ausländerbehörde. Die Verwaltungsvorschriften dienten der einheitlichen Ausübung dieses Ermessens. Die nunmehr gültige Neufassung des § 11 Abs. 1 AufenthG enthält demgegenüber wesentliche Änderungen, nämlich den grundsätzlichen Anspruch des Ausländers darauf, dass die Ausländerbehörde zugleich mit der Ausweisung deren Wirkung befristet, und die rechtlich gebundene Entscheidung über die Fristlänge. Diese Neuerungen, die auf die Rückführungsrichtlinie zurückgehen, dienen ausdrücklich der Verbesserung der Rechtslage der betroffenen Ausländer (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.7.2012, a.a.O., Rn. 34). Die Regelungen in Nr. 11.1.4.6.1 f. AVwV AufenthG sind mithin zeitlich und inhaltlich überholt. Vor diesem Hintergrund verbietet sich die weitere Anwendung dieser Regelungen und auch eine bloße Orientierung an ihnen.
Darüber hinaus erscheinen abstrakte Regelfristen aber auch deshalb unzulässig, weil sie der durch die neue Rechtslage und die entsprechende Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geforderten Einzelfallentscheidung nicht gerecht werden. Die nunmehr gebotene umfassende Berücksichtigung der wesentlichen Umstände des Einzelfalls ohne einen der Ausländerbehörde verbleibenden Ermessensspielraum ist bei Zugrundelegung von Regelfristen in einem schematisierten Verfahren nicht gewährleistet, denn die Anwendung solcher Regelfristen kann zur unzulässigen Ausblendung wesentlicher Einzelfallumstände führen (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 24.1.2013 - 18 A 139/12 -, [...] Rn. 20 f.). Danach ist auch eine schematisierende Berücksichtigung der Art der Ausweisung (Ermessens-, Regel- oder Ist-Ausweisung) im Sinne eines abstrakten Fristenkatalogs ausgeschlossen. Ohne eine an die Art der Ausweisung anknüpfende regelmäßige Frist bietet die isolierte Berücksichtigung der Ausweisungsart aber keinen Vorteil. Die Art der Ausweisung kann daher nur als ein Aspekt in die zu treffende Einzelfallentscheidung einfließen. Dabei handelt es sich dann nicht um eine unzulässige "schematische Anwendung eines vorgegebenen Rasters" (vgl. VG Düsseldorf, Urt. v. 26.11.2012, a.a.O. Rn. 93) oder um die unzulässige "Anknüpfung der Festlegung der Frist am Typus der Ausweisung" (vgl. Gutmann, Ermessen und europäisiertes Ausweisungsrecht, in: InfAuslR 2013, 2, 3), sondern um die erforderliche Würdigung der wesentlichen Aspekte des Einzelfalls.
Insgesamt gebietet die Neufassung des § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG unter Berücksichtigung der Rückführungsrichtlinie bei der Bemessung der Sperrfrist eine Einzelfallentscheidung ohne jede Schematisierung. Bereits der Erwägungsgrund (6) der Rückführungsrichtlinie führt aus, dass die Entscheidungen gemäß dieser Richtlinie auf der Grundlage des Einzelfalls getroffen werden sollen. Auch der Wortlaut des Art. 11 Abs. 2 Satz 1 der Rückführungsrichtlinie, wonach die Dauer des Einreiseverbots in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt wird, lässt eine andere Möglichkeit nicht zu (vgl. auch BVerwG Urt. v. 10.07.2012 a.a.O., Rn. 42).
Die nach diesen Maßgaben ermittelte, zur Erreichung des Ausweisungszwecks erforderliche (Höchst-)Frist muss in einem 2. Prüfungsschritt an höherrangigem Recht, insbesondere an verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (etwa mit Blick auf Art. 2, 6 GG) und unions- und völkervertragsrechtlichen Vorgaben (etwa Art. 7 GRCh und Art. 8 EMRK) gemessen und gegebenenfalls relativiert werden. Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde und den Verwaltungsgerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen. Dabei sind insbesondere die in § 55 Abs. 3 Nr. 1 und 2 AufenthG genannten schutzwürdigen Belange des Ausländers in den Blick zu nehmen. Die Abwägung ist nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalles im Zeitpunkt der Behördenentscheidung vorzunehmen bzw. von den Verwaltungsgerichten zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. Entscheidung zu überprüfen oder bei fehlender behördlicher Befristungsentscheidung durch eine eigene Abwägung als Grundlage des Verpflichtungsausspruchs zu ersetzen (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.7.2012, a.a.O., Rn. 42 m.w.N.).
Die so bestimmte Frist ist bis zu ihrem Ablauf von der Ausländerbehörde - auch nach Abschluss einer verwaltungsgerichtlichen Überprüfung- unter Kontrolle zu halten. Eine nachträgliche Änderung der für die Befristungsentscheidung maßgeblichen Umstände kann, dies zeigt schon § 72 Abs. 3 Satz 1 AufenthG, eine Änderung der Frist erfordern (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.7.2012, a.a.O., Rn. 19 und 43 (Fristverkürzung); OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 24.1.2013, a.a.O., Rn. 26; VG Düsseldorf, Urt. v. 6.11.2012, a.a.O., Rn. 122 f. (Fristverlängerung)), wobei der Senat hier dahinstehen lassen kann, ob diese Änderung auf der Grundlage des § 11 Abs. 1 AufenthG erfolgen kann oder nur unter den Voraussetzungen des § 49 Abs. 1, 2 Satz 1 Nr. 3 VwVfG zulässig ist."
In Anwendung dieser Grundsätze ist die Befristungsentscheidung im Bescheid der Beklagten vom 4. September 2012 erkennbar rechtswidrig.
Die Beklagte nimmt zunächst zu Unrecht an, ihr stünde bei der Bemessung der Frist ein Ermessen zu (Bescheid v. 4.9.2012, S. 3). Ein solches Ermessen besteht nicht; es handelt sich vielmehr um eine gebundene Entscheidung der Ausländerbehörde (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.2.2012 - 1 C 7.11 -, BVerwGE 142, 29, 45 f.).
Die Beklagte nimmt weiter zu Unrecht an, die für die Wirkungen der Ausweisung und der Abschiebung bemessenen Fristen von hier sechs Jahren und eineinhalb Jahren könnten addiert werden (Bescheid v. 4.9.2012, S. 7 und Schriftsatz v. 18.2.2013, S. 2). § 11 Abs. 1 Satz 6 AufenthG sieht hingegen ausdrücklich vor, dass der Fristlauf stets mit der Ausreise beginnt, wobei hierunter sowohl die freiwillige als auch die erzwungene Ausreise fallen (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.1.2012 - 1 C 1.11 -, BVerwGE 141, 325, 326). Durch die von der Beklagten vorgenommene Addition der für die Wirkungen der Ausweisung und der Abschiebung bemessenen Fristen würde die hinzuaddierte Frist entgegen der ausdrücklichen Anordnung in § 11 Abs. 1 Satz 6 AufenthG nicht mit der Ausreise zu laufen beginnen, sondern erst nach Ablauf der anderen Frist. Eine Rechtfertigung hierfür ist nicht ersichtlich. Entgegen der Annahme der Beklagten besteht für eine solche Addition auch keine praktische Notwendigkeit, um eine etwa ungerechtfertigte Gleichbehandlung von freiwilliger und erzwungener Ausreise zu vermeiden. Denn eine nicht rechtzeitige oder nicht freiwillige Ausreise kann nach § 11 Abs. 1 Satz 5 AufenthG schon bei der Bemessung der Länge der Frist für die Wirkungen der Ausweisung berücksichtigt werden (vgl. auch Erwägungsgrund 14 Satz 3 Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, ABl. EU L 348 v. 24.12.2008, S. 98).
Die Beklagte nimmt voraussichtlich auch zu Unrecht an, der Fristablauf sei durch die unerlaubte Wiedereinreise unterbrochen worden (Bescheid v. 4.9.2012, S.1 und 7). § 11 Abs. 1 Satz 6 AufenthG knüpft den Beginn des Fristlaufs allein an die Ausreise an. Der weitere Fristlauf bleibt von einer (unerlaubten) Wiedereinreise unberührt. Es obliegt vielmehr der Ausländerbehörde, auf die unerlaubte Wiedereinreise durch einen zeitnahen Vollzug der Ausreisepflicht und/oder eine nachträgliche Änderung der Befristungsentscheidung zu reagieren (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 6.11.2012 - 11 S 2307/11 -, [...] Rn. 73 m.w.N.).
Schließlich ist die von der Beklagten bemessene Befristung der Wirkungen der Ausweisung auf einen Zeitraum von sechs Jahren, beginnend mit der Ausreise, voraussichtlich rechtswidrig. Der Senat erachtet zur Erreichung des Ausweisungszwecks - unter Berücksichtigung des Gewichts des Ausweisungsgrundes, des Verhaltens des Klägers nach der Ausweisung, des Ausmaßes der von dem Ausländer konkret ausgehenden Gefahr und der Vorhersehbarkeit der zukünftigen Entwicklung dieser Gefahr - eine Fernhaltung des Klägers vom Bundesgebiet für die Dauer von allenfalls fünf Jahren, beginnend mit der erzwungenen Ausreise am 19. Januar 2006, für erforderlich.
Der Kläger ist mit Verfügung der Beklagten vom 30. Januar 2002 auf der Grundlage der §§ 45, 46 Nr. 2 AuslG a.F. aus dem Bundesgebiet ausgewiesen worden. Den Anlass hierfür gaben verschiedene strafrechtliche Verfehlungen des Klägers. So wurde er im Jahre 1997 wegen Diebstahls zu einer Woche Jugendarrest, im Jahre 2000 wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in Tateinheit mit fahrlässigen Vergehen gegen das Pflichtversicherungsgesetz sowie Urkundenfälschung zur Erbringung von Arbeitsleistungen und im Jahre 2001 wegen Diebstahls zur Erbringung von Arbeitsleistungen, wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in zwei Fällen in Tatmehrheit mit Diebstahl sowie wegen gemeinschaftlichen Diebstahls zu einem vierwöchigen Jugendarrest und wegen gemeinschaftlichen schweren Diebstahls und wegen versuchten gemeinschaftlichen schweren Diebstahls unter Einbeziehung der vorausgegangenen Verurteilungen zu einer zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe von einem Jahr verurteilt. Unter Berücksichtigung der verletzten Rechtsgüter und des Umfangs der Verletzung, der Tatumstände, des jugendlichen Alters des Klägers bei Tatbegehung und der mit der Strafaussetzung zur Bewährung verbundenen positiven Sozialprognose ist insoweit zur Erreichung des Ausweisungszwecks allenfalls eine Fernhaltung des Klägers vom Bundesgebiet für die Dauer von zwei Jahren erforderlich gewesen.
Das Verhalten des Klägers nach Erlass der Ausweisungsverfügung am 30. Januar 2002 war indes durch weitere strafrechtliche Verfehlungen gekennzeichnet. So ist er im Oktober 2002 wegen gemeinschaftlichen Diebstahls im schweren Fall, wegen Diebstahls, wegen Diebstahls geringwertiger Sachen, wegen Leistungserschleichung in zwei Fällen, wegen Bedrohung und wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis unter Einbeziehung der vorausgegangenen Verurteilung aus dem Jahre 2001 zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten und im August 2005 wegen gemeinschaftlichen Diebstahls im besonders schweren Fall unter Einbeziehung der vorausgegangenen Verurteilung aus dem Jahre 2002 zu einer Einheitsjugendstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt worden, die bis zur Abschiebung des Klägers im Januar 2006 vollstreckt worden ist. Diese strafrechtlichen Verfehlungen nach Erlass der Ausweisungsverfügung rechtfertigen im vorliegenden Fall durchaus eine Verdopplung der bis dahin für erforderlich erachteten Dauer der Fernhaltung des Klägers vom Bundesgebiet auf dann vier Jahre.
Das weitere Verhalten des Klägers, insbesondere die mangelnde freiwillige Ausreise, der Verstoß gegen das Wiedereinreiseverbot und der Aufenthalt im Bundesgebiet unter falscher Identität, rechtfertigen durchaus eine noch weitere Erhöhung der Dauer der Fernhaltung vom Bundesgebiet. In Relation zu den die Dauer maßgeblich bestimmenden strafrechtlichen Verfehlungen ist insoweit aber allenfalls eine Erhöhung um ein weiteres Jahr auf dann fünf Jahre gerechtfertigt. Soweit die Beklagte bei der Fristbemessung auch auf die mangelnde Integrationsperspektive des Klägers nach einer (erlaubten) Wiedereinreise und die mangelnde Lebensunterhaltssicherung abstellt (Bescheid v. 4.9.2012, S. 6), geht sie voraussichtlich fehl. Es dürfte sich um Aspekte handeln, die nicht schon bei der Befristungsentscheidung, sondern erst in einem etwaigen Verfahren auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu berücksichtigen sind.
Dass die so bestimmte, zur Erreichung des Ausweisungszwecks erforderliche (Höchst-)Frist von fünf Jahren unter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen (etwa mit Blick auf Art. 2, 6 GG) oder unions- und völkervertragsrechtlicher Vorgaben (etwa Art. 7 GRCh und Art. 8 EMRK) im vorliegenden Fall abgekürzt werden müsste, vermag der Senat nicht zu erkennen.
Die daneben zur Erreichung des mit der Abschiebung verfolgten Zwecks erforderliche Frist der Fernhaltung des Klägers aus dem Bundesgebiet ist - auch unter Berücksichtigung der bisher nicht bezahlten Abschiebungskosten (vgl. hierzu etwa: Hamburgisches OVG, Beschl. v. 29.11.2010 - 5 So 160/10 -, InfAuslR 2011, 63, 64 f.) - jedenfalls nicht länger zu bemessen als die zur Erreichung des mit der Ausweisung verfolgten Zwecks.